Herr Professor Längle, viele Menschen reden von Grenzen, die sie gerne setzen wollen. Können Sie mir verraten, wozu Grenzen gut sein sollen?
Grenzen sind grundsätzlich gut für das Sein. Denn alles Sein ist an Grenzen gebunden. Jedes Molekül ist begrenzt. Und jedes Atom ist selbst wieder abgegrenzt. Jedes Leben ist an Zellen gebunden. Deren Membranen separieren den Inhalt der Zelle von der Außenwelt. Aber – und das ist ein wichtiger Punkt: Diese Membranen müssen ein wenig durchlässig sein, semipermeabel.
Exist…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
– und das ist ein wichtiger Punkt: Diese Membranen müssen ein wenig durchlässig sein, semipermeabel.
Existieren manche Grenzen nur in unseren Köpfen?
Ja und nein. Manche Grenzen bestehen in der Tat aus nichts. Sie sind eine Abstraktion. Andererseits gibt es auch reale Grenzen. Wenn ich kein Geld mehr habe, dann komme ich an eine Grenze. Oder wenn ich müde bin und nicht mehr arbeiten kann oder wenn ich eine Beziehung nicht mehr aushalte. Dann stoße ich an meine Grenzen der Kräfte und der Geduld. Ich merke: Es geht nicht mehr weiter, ich stoße an eine Grenze.
Was dann?
Wenn ich dabei nicht in ein Jammern verfalle, sondern mir die Sache in Ruhe betrachte, dann heißt es eigentlich nur: Hier endet das eine und das andere beginnt. Das ist das eine: dass Grenzen Übergänge darstellen. Das andere ist: nicht nur auf das Ende zu schauen, sondern auch auf den Inhalt – was umschließt die Grenze denn? Jede Grenze hat eine Innenseite. Die Oberfläche des Apfels umschließt das Fruchtfleisch.
Und der Bilderrahmen umschließt das schöne Gemälde.
Genau. Wenn wir so mit Grenzen arbeiten, kommen wir zu einer neuen Perspektive. Wenn man zum Beispiel an die Grenze des Zusammenlebenkönnens stößt, dann heißt das auch: Da war vorher etwas Gutes da. Aber jetzt geht das nicht mehr, jetzt ist etwas anderes dran. Das heißt nicht, dass das, was vorher war, wertlos wäre. Im Gegenteil: Es war damals wichtig und soll daher Bestand haben.
Das heißt: Ich soll ruhig bleiben und nicht nur auf die Grenze starren – sondern auch auf das, was diese Grenze umschließt?
Ja genau, das ermöglicht viel mehr Gelassenheit! Die Grenze verstehen als ein Eröffnen einer neuen Entwicklung. Denn Grenzen haben einen Sinn: Sie schaffen Raum, um etwas zu ermöglichen. Wenn ich den Freunden absage, habe ich Raum für einen Abend für mich.
Ein Klient kommt im Coaching zu mir und sagt: „Ich kann mit meinem Chef einfach nicht reden.“ Da ist auch eine Grenze erreicht.
Ja, er stößt an die vermeintliche Grenze seines Vermögens. Er glaubt, er kann es nicht. Da schauen wir zuerst mal, worauf seine Einschätzung beruht, also wie realistisch sie ist oder ob es einfach nur Angst ist, die man behandeln kann. Aber vielleicht ist sein Chef wirklich sehr narzisstisch und will nur hören, wie toll er ist, und ist sonst für nichts zugänglich. Dann ist das eine Realität, auf die man sich einzustellen hat.
Also muss er kündigen – oder sich zumindest in eine andere Abteilung bewerben?
Er kann es vielleicht noch ein halbes Jahr aushalten. Aber wenn er zu weit geht, dann geht er über die Grenzen und dann wird er krank. Er bekommt ein Burnout, Schlafstörungen, Ängste, psychosomatische Störungen. Manche bemerken auch: Das Berufsfeld, in dem sie arbeiten, interessiert sie im Grunde gar nicht. Ein Bekannter von mir hat seinen technischen Beruf aufgegeben und begann mit 50 eine Psychotherapieausbildung.
Das ist der Sinn der Grenze. Sie zeigt mir auf: Hier steht etwas anderes an. Und wenn du das nicht erkennst, beginnt es, schmerzlich zu werden. Das Problem mit der Grenze liegt dann oft im Nichtverstehen, daran, dass wir nicht rechtzeitig die Kurve kriegen.
Wie erkenne ich, ob ich eine Grenze ziehen soll oder lieber abwarten?
Ich komme einem Schaden am ehesten zuvor, wenn ich mit Wachheit auf mein Erleben schaue, auf mein Fühlen und Spüren. Das heißt, ich frage mich immer wieder: Wie gut geht’s mir da, wo ich bin? Wie wohl fühle ich mich? Kann ich ich sein? Stimmt es für mich so? Dazu kommt dann die Lebenserfahrung, die mir vielleicht sagt: Das hier wird auf nichts Gutes hinauslaufen. Da ziehe ich am besten jetzt schon meine Grenzen. Und natürlich ist es gut, sich mit Freunden und Partnern darüber auszutauschen, andere Sichtweisen einzuholen.
Was ist los, wenn man all die körperlichen Symptome bekommt, die Sie vorhin angesprochen haben?
Dann holt sich die Psyche Hilfe vom Körper. Die beiden sagen Ihnen: „Wir lassen dich nicht weitermachen. Du Idiot, siehst du nicht, dass das nicht lebenswert ist? Wenn du dich ständig nur hergibst für Dinge, die dir nicht entsprechen?“ Dann kommt ein bisschen Magen-Darm, dann kommen ein paar Schlafstörungen. Deshalb ist ein Burnout auch das Gesündeste, was man kriegen kann, wenn man diese Signale ständig übergeht, weil es einen hindert, einfach so weiterzumachen.
Nun gibt es auch eine gegenteilige Tendenz: Sobald mir etwas nicht passt, bin ich weg. Manche sagen, dass diese Haltung stärker geworden ist. Wie sehen Sie das?
Das gibt es, das stimmt. Da haben wir ein Abgrenzen aus einer Unverbindlichkeit heraus. Gutes Abgrenzen setzt dagegen voraus, dass ich im Dialog, in der Wechselbeziehung bleibe, dass ich mir des Wertes bewusst bin, den der Job oder eine Beziehung hat. Dass man also nicht handelt im Sinne einer Wegwerfgesellschaft, in der ich alles sofort ersetze, was nicht problemlos funktioniert. Wenn ich mich nicht bemüht habe, ist es ein vorschnelles Aussteigen.
Und es stimmt schon: Da gibt es heute eine größere Wehleidigkeit. Der Wert des Verbundenseins ist nicht mehr so hoch, wie das früher in der Tradition der Fall war. In der oberflächlichen kulturellen Welle, die wir heute haben, wird Verbundenheit oft als Verlust von Freiheit gesehen. Das ist ein Abgrenzen in einem seichten Wasser.
In einem Ihrer Vorträge habe ich eine Metapher gehört, die ich sehr mag: Wenn ein Kind größer wird, dann erweitert es seine Grenze. Es wächst – und fährt dabei sozusagen nicht aus der Haut.
Ja. Gesundes Wachstum geht nicht über die Grenze hinaus, sondern schiebt sie vor sich her. Gerade in Seminaren mit Leuten aus dem Wirtschaftsbereich stößt das manchmal auf. Dann heißt es: „Ja, ohne die Komfortzone zu verlassen und über die Grenzen zu gehen, gibt es kein Wachstum!“ Aber ein Wachstum, das Grenzen überschreitet, ist destruktiv. Ein Wachstum, das Grenzen durchbricht, das nennen wir in der Medizin Krebs.
Was wäre denn die Entsprechung in unserer Psyche?
Dann haben wir wieder Überforderung, Erschöpfung, Burnout, Krankheit. Wir sind zu weit gegangen, haben uns selbst missbraucht und ausgebeutet.
Manche nehmen gar Kokain, um noch schneller und noch länger zu arbeiten.
Ja, wir haben so viel Freiheit, dass wir auch diese Grenzen überschreiten und uns selbst missbrauchen können. Wir übergehen all unsere Warnsignale. Ich selbst trinke deshalb zum Beispiel keinen Kaffee mehr. Weil ich ihn als Doping genommen habe. Seit ich damit aufgehört habe, ist meine Muskulatur entspannter. Mag sein, dass das meine persönliche Reaktion ist, ich will das gar nicht verallgemeinern – aber darauf achten, was mir guttut, und Unterschiedliches probieren, das ist ein gesundes Sichbegrenzen.
Was passiert in Beziehungen? Also dort, wo meine Bedürfnisse mit den Bedürfnissen anderer aufeinanderprallen?
Da gilt es, den Konflikt im Dialog zu lösen und nach einer Einigung zu suchen – oder andernfalls einander den individuellen Raum zu lassen, wenn das nicht geht.
Ich könnte sagen: „Ich sehe dein Bedürfnis. Und zugleich habe ich selbst auch ein Bedürfnis“?
Genau. Einsichtig sein, einander zuhören. „Was ist dir wichtig und was ist mir wichtig? Lass uns darüber verhandeln.“ Das gehört zum täglichen Geschäft des Lebens. Und wenn wir es damit nicht lösen können, ist halt mal dicke Luft und dann kommen Abwehrreaktionen. Dabei können sich evolutionär früh gewonnene Verhaltensweisen einschieben: Aggression, Flucht, Hyperaktivität, Erstarren. Dann haben wir Streit. Es kann auch reinigen, wenn es mal richtig kracht, aber ganz am Ende kann es auch dazu führen, dass man einander das Leben streitig macht: Krieg in Beziehungen, Krieg am Arbeitsplatz, Krieg unter Vorständen, Krieg in der Politik.
Das bringt uns zu der einen großen Grenze am Ende des Lebens: zu unserem Tod, unserer Sterblichkeit. Wie gehen wir damit um?
Indem wir uns bewussthalten: Innerhalb der Grenze liegt ein Wert; die Grenze umschließt etwas Wertvolles – das jetzige Leben. Für mich heißt das, dass ich den Tag heute so lebe, dass es auch mein letzter sein könnte.
Das klingt sehr weise. Andererseits habe ich diesen Satz aber auch schon auf einem Kalenderblatt gelesen. Machen Sie das tatsächlich?
Ich versuch’s. Wirklich. Darin habe ich mich sehr geübt.
Was heißt das denn konkret?
Das, was ich mache, das mache ich ganz. Zum Beispiel dieses Interview mit Ihnen, das mache ich ganz und ich mache dabei nichts anderes. Denn das ist jetzt mein Leben. Und ich versuche, möglichst nur solche Dinge zu machen, die mir einen Wert darstellen. Alles andere mache ich nicht. Ich bin sehr selektiv, ich ziehe Grenzen. Es gibt natürlich Dinge, die man im Sinne des großen Ganzen trotzdem tun muss. Eine Steuererklärung zum Beispiel. Aber selbst die mache ich gerne, weil ich den Sinn dahinter erkenne.
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie auch gerne aus derselben Ausgabe:
Warum man seine Verletzungen kennen muss, um gesunde Grenzen setzen zu können in Meine Grenzen und ich
Wie Sie die Qualität Ihrer Grenzen testen können im Selbsttest: Wie gesund sind meine Grenzen?
Alfried Längle studierte Medizin und Psychologie und arbeitet als Psychotherapeut, Coach und Hochschulprofessor in Wien. Die von ihm entwickelte Existenzanalyse ist in Österreich, der Schweiz, Tschechien und Rumänien ein gemäß Psychotherapiegesetz zugelassenes Verfahren.