„Halt, stopp!“ – Wie kann ich gesunde Grenzen setzen?

Wer gut Grenzen setzen kann, schützt damit die eigene Psyche. ► Zwei Bücher zeigen völlig unterschiedliche Wege auf, um besser „Nein“ sagen zu lernen

Das Gefühl, wieder einmal über die eigenen Grenzen gegangen zu sein, kennen die meisten Menschen nur allzu gut. Man bleibt länger bei der Arbeit, um eine wichtige Mail zu schreiben, obwohl man ja eigentlich pünktlich zu Hause sein wollte. Der Freund telefoniert jeden Tag mit seiner alten Mutter, obwohl ihm das eigentlich zu viel ist.

Oder ganz banal: Man lässt an der Supermarktkasse eine Dränglerin vor, obwohl man es selbst ja auch eilig hat. Die eigenen Grenzen zu überschreiten ist eine Alltagserfahrung für viele Menschen, allerdings eine äußerst ungute. Denn das permanente Agieren gegen die eigenen Bedürfnisse schadet der Psyche: Es raubt Kraft, produziert Frust und schafft Unzufriedenheit.

Schuldgefühle nach dem Nein

Was tun? Leider helfen gut gemeinte Ratschläge wie „Setz dich mal mehr durch“ oder „Sag doch einfach öfter nein“ nur begrenzt. Denn die Ursachen für das häufige Nachgeben sind oft tief in unserer Lebensgeschichte verankert. Angst vor Ablehnung oder Schuldgefühle verhindern, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse überhaupt angemessen wahrnehmen und dann auch noch schützen.

Hier setzen die Autoren Klaus Blaser und Martin Wehrle mit ihren Büchern an. Während Karriere- und Persönlichkeitscoach Martin Wehrle in seinem Buch Wenn jeder dich mag, nimmt keiner dich ernst eher einen praktischen Ansatz mit vielen konkreten Beispielen aus der Kommunikationspsychologie wählt, geht es dem Psychiater und Psychotherapeuten Klaus Blaser in So bin ich – und du bist anders stärker darum, den eigenen psychischen Innenraum auszuloten und eine erhöhte Achtsamkeit für die eigenen Grenzen und die der anderen zu entwickeln.

Gefährliche Fernsteuerung

Martin Wehrles Buch ist laut Klappentext gedacht „für alle, die nicht länger zurückstecken, sondern ihren Willen durchsetzen wollen; für alle, die souverän kontern wollen, wenn ihr Gesprächspartner sie überfordert, kleinmacht oder angreift“. Damit ist der Ton gesetzt: Wer sich ausnutzen oder runtermachen lässt, ist in Wehrles Welt ein „Opfer“, wer souverän für sich einsteht, erhält den „verdienten Erfolg“.

Der Autor plädiert dafür, sowohl im Arbeits- als auch im Privatleben klare Kante zu zeigen und sich konsequent gegen Grenzüberschreitungen und Angriffe zu wehren. Im Ton ist Wehrle dabei oft flapsig: Im Zusammenhang mit beruflichen Konflikten spricht er etwa von „gefährlicher Fernsteuerung“, von „Psycho-Tricks“ oder von „Ideenklau“.

Dennoch lohnt es sich weiterzulesen. Denn er schafft es, eine Vielzahl an typischen Situationen aus dem Berufs- und Privatleben lebendig werden zu lassen, in denen Grenzen routinemäßig überschritten werden. Er analysiert sie in einfachen Worten, regt seine Leserinnen und Leser durch Tests zur Selbstreflexion an und zeigt anschließend neue, klügere Handlungsoptionen auf. Dabei wirbt er für klare Kommunikation, faire Rhetorik und zwischenmenschliche Empathie. Für Menschen, die schwierige Kommunikationssituationen besser verstehen und handhaben wollen, kann dieses Buch hilfreich sein, da der Autor praxisorientierte und konkrete Ratschläge an die Hand gibt.

Frieden an allen Grenzen

Wo es Wehrle beim Thema Grenzen setzen also eher um das „Wie“ geht, widmet sich der Psychiater Klaus Blaser eher dem „Warum“: Warum entfernen wir uns so weit von unserer Innenwelt, dass wir unsere Bedürfnisse nicht mehr spüren? Warum verlieren wir uns stattdessen im Innenraum der anderen? Warum ist es so schwer, das zu ändern?

Für Blaser liegt der Schlüssel hierzu in der achtsameren Wahrnehmung des eigenen psychischen Innenraums: „Die erhöhte Achtsamkeit wird uns helfen, die eigene und die Grenze des anderen genauer zu spüren.“ Blasers konkrete Botschaft lautet: Jeder Mensch darf sich schützen vor der Überforderung, die Probleme, das Leid oder das Schicksal anderer mitttragen zu müssen. Fremde emotionale Lasten sollen deshalb „zurückgegeben“ werden, etwa vom parentifizierten Kind an die Mutter oder von dem stets als emotionale Krücke missbrauchten Partner an die Partnerin.

Blaser skizziert hierfür eigens Rituale oder Gesprächssituationen, die in der Praxis allerdings manchmal schwer vorstellbar sind („Mutter, ich gebe dir dein Leid zurück. Ich mute dir dies zu“). Im Kern aber sind seine Überlegungen hilfreich. Denn tatsächlich ist eine gute Beziehung zwischen zwei Menschen nur dann möglich, wenn sie sich gegenseitig weder belasten noch sich etwas wegzunehmen versuchen – erst wenn jeder innerhalb seiner eigenen emotionalen Grenzen, also wirklich „bei sich“ bleiben kann, ist eine Beziehung authentisch und frei von Bedürftigkeit.

Dann, so Blaser, sei man überhaupt erst in der Lage, den anderen Menschen wirklich zu sehen und ihm zu helfen: „Mitleid bedeutet, den anderen mit seinem Schicksal und seinem Leid wahrzunehmen. Empathie heißt, die Fähigkeit zu haben, sich vorzustellen, wie es meinem Gegenüber dabei geht. Dies ist nur möglich, wenn die Grenzen nicht verschmelzen. Wie wichtig Abgrenzung für unser gemeinschaftliches Wohlbefinden ist, zeigt das schöne deutsche Wort für Umzäunung, nämlich Umfriedung.“ Frieden an allen Grenzen, innen und außen, davon ist der Welt auf jeden Fall mehr zu wünschen.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2023: Raus aus der Erschöpfung
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