Ich muss kurz seufzen, als sich ein Freund bei mir meldet, weil er vermutet, ADHS zu haben. Als Psychologe bin ich es gewöhnt, dass mich Bekannte mit ihren Verdachtsdiagnosen anrufen. Doch das Gespräch mit Bastian (der mich darum bat, seinen richtigen Namen für mich zu behalten) ist nun schon das dritte dieser Art innerhalb weniger Wochen. Die Schule war für ihn eine Qual, erzählt er: Nach der vierten Klasse kam er auf die Hauptschule – und von dort aus erst über Umwege an die Universität, wo er zwei…
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der vierten Klasse kam er auf die Hauptschule – und von dort aus erst über Umwege an die Universität, wo er zwei Studiengänge nacheinander abschloss.
„Kürzlich hatte ich einen Umzug, da fielen meiner Freundin meine alten Schulzeugnisse in die Hände. Sie meinte, in den Beurteilungen stünden Sätze, die klar für diese Störung sprechen“, sagt Bastian. Jetzt hadere er mit seinem Bürojob und habe sich zudem in einer Spezialpraxis für ADHS vorgestellt. „Was erhoffst du dir denn von der Diagnose? Was würde sich für dich ändern?“, frage ich ihn. „Ich wüsste dann endlich, dass ich doch nicht faul oder ein Depp bin, sondern mit erschwerten Bedingungen durchs Leben gehe“, antwortet er. „Es würde mir erlauben, etwas zarter zu mir selbst zu sein.“
Entspannungsübungen statt Pillen
Immer häufiger erzählen mir Menschen von ihrer Aufmerksamkeitsstörung – oder vermuten zumindest, dass sie eine haben. Sind plötzlich alle hyperaktiv geworden? Mein persönlicher Eindruck spiegelt sich in den Statistiken: Die Zahl der klinischen ADHS-Diagnosen geht in Deutschland unaufhörlich nach oben. Das zeigen bislang unveröffentlichte Daten des Wissenschaftlichen Instituts der AOK: Von 2006 bis 2021 hatte sich die Quote der dort Versicherten mit offizieller ADHS-Diagnose mehr als verdoppelt – auf 0,9 Prozent. Außerdem ist der durchschnittliche ADHS-Patient mittlerweile volljährig. Das mittlere Alter der Betroffenen stieg in dieser Zeit von knapp 15 auf 19 Jahre. Bei Frauen gehen die Diagnosezahlen besonders schnell in die Höhe, der vormals starke Männerüberschuss lässt allmählich nach.
Auch ich habe eine ADHS-Diagnose, bin also selbst Teil dieses Phänomens. Als Schüler quälte es mich, während der langen Unterrichtsstunden ruhig auf einem Stuhl zu sitzen. In der ersten Klasse kam ich mit einem Eintrag nach Hause: „Theodor hat Nathalies Jeansjacke mit der Schere zerschnitten“, hieß es da. Dass ich das nicht aus bösem Willen getan hatte, sondern aus purer Geistesabwesenheit, war schwer zu erklären. Kinderarzt und Klassenlehrerin bedrängten meine Eltern, doch etwas gegen die ständige Zappelei zu unternehmen. Statt Pillen gab mir meine Mutter Entspannungsübungen an die Hand, mit denen ich mich mal mehr, mal weniger gut durch die Schulzeit wurstelte.
Eine offizielle Diagnose bekam ich erst, als ich mit 24 zu einer Psychiaterin ging. Dass ich bis heute mit einer Extraportion Energie durchs Leben laufe, finde ich wundervoll, mein Umfeld nicht immer. Dass ich ständig mein Handy oder mein Fahrrad verliere, nervt. Lange Vorträge und Literaturrecherchen bringen mich schnell an meine Grenzen, ohne geht es in meinem Beruf aber kaum. Deswegen nehme ich Medikamente ein, zweifle aber mitunter daran, ob das eine gute Idee ist.
Öffentliche ADHS
Obwohl viele der Kriterien auf mich zutreffen, blicke ich mit gemischten Gefühlen auf die Diagnose ADHS – und damit auch auf den gegenwärtigen Medienrummel: Debatten um die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, wie sie ausgeschrieben heißt, füllen aktuell Podcasts und TV-Beiträge. Prominente wie der Kabarettist Eckart von Hirschhausen oder die Moderatorin Sarah Kuttner „bekannten“ sich öffentlich zu ihren ADHS-Symptomen. Bei TikTok trenden Videos zu jeder erdenklichen Facette der Diagnose.
Den Hype bekommt auch der Psychiater Felix Betzler zu spüren, der die ADHS-Ambulanz am Berliner Campus Charité Mitte leitet. „Wir haben viel mehr Anfragen, als wir bearbeiten können, und mussten unsere Warteliste schließen. In anderen Spezialambulanzen muss man mit ein bis zwei Jahren Wartezeit rechnen“, erzählt er. Betzler erklärt sich diesen Andrang mit den zahlreichen Medienberichten zum Thema. „Viele kommen zu uns und sagen: Ich habe einen Artikel darüber gelesen und mich wiedererkannt“, meint Felix Betzler.
Für ihn hat das gestiegene Bewusstsein für ADHS zwei Seiten: „Es hilft Menschen, die sich schon ihr ganzes Leben lang mit den Symptomen herumschlagen und sich nun erstmals zur Diagnostik vorstellen. Es kommen aber auch einige, bei denen wir keine Störung feststellen können. Das verlängert unsere Warteliste. Nicht jeder, der sich nicht zwei Stunden am Stück konzentrieren kann, hat eine ADHS.“
Ein Teil der Persönlichkeit
Auf Instagram und Facebook versprechen Unternehmen, die Probleme der Zielgruppe in den Griff zu bekommen: „Verdrahte dein ADHS-Gehirn neu!“, schreibt die App Effecto. Eine andere namens Happyo wirbt mit den Worten: „Störung, also bitte. Es ist ein Geschenk!“ Die Wortwahl überrascht, schließlich geht es um eine psychische Erkrankung – also etwas, das gemeinhin für erhebliches Leid steht und bis heute mit einem Stigma belegt ist. Doch trifft der Satz einen Nerv.
Denn viele Betroffene verstehen das Syndrom nicht (nur) als Bürde, sondern erleben es als Teil ihrer Persönlichkeit, als Lebensphilosophie, gar als spezielle Gabe. Dazu passt, dass sich einige Menschen die Diagnose regelrecht erkämpfen oder wie in Betzlers Ambulanz fälschlicherweise von einer ADHS ausgehen. Manche deuten das Störungsbild zu einer speziellen Identität um und bezeichnen sich selbst als neurodivergent. Was hat es damit auf sich?
Von Neurodiversität schrieb die australische Soziologin Judy Singer bereits 1999 in ihrem Essay Why Can’t You Be Normal for Once in Your Life?. Sie selbst verortet sich auf dem autistischen Spektrum. Doch sieht sie Autismus nicht primär als Einschränkung, die zwingend einer Therapie bedürfe. Stattdessen erklärt sie menschliche Gehirne als von Haus aus verschieden. Autismus sei Teil dieser neurologischen Bandbreite, welche letztlich zur Stabilität menschlicher Kultur beitrage, meint Singer – ganz so wie Ökosysteme eine Vielfalt an Lebewesen brauchen. Mittlerweile fallen auch das Tourettesyndrom oder eben ADHS unter die Neurodiversität. Der Begriff soll Menschen ermutigen, für ihre gesellschaftliche Teilhabe zu kämpfen und verengten Ideen von Normalität die Stirn zu bieten.
Identität zurückerobern
„Betroffene kritisierten verhaltenstherapeutische Programme. Diese betrachteten zum Beispiel gleichförmige Bewegungsmuster bei Autisten als etwas, das wegtherapiert werden müsse. Dagegen reklamierten sie, wie wichtig dieses Verhalten für sie selbst war“, erzählt der Historiker Rüdiger Graf vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Neugierig auf das Thema hatte ihn unter anderem seine persönliche Betroffenheit gemacht: Bei seinem Sohn ist Autismus diagnostiziert worden.
„Viele Betroffene sagen: An meinem Verhalten ist nichts Abnormales. Es ist Ausdruck meiner eigenen legitimen Identität“, erklärt Graf. Das erinnert an die politischen Kämpfe von Schwulen und Lesben, deren Lebensweisen auch lange Zeit als psychische Krankheiten gebrandmarkt waren. Neu sei allerdings der starke Fokus auf die Forschung: „Die Betroffenen sagen: Wir sind anders, weil unsere Gehirne anders sind“, so Graf. „Damit setzen sie auf die Autorität der Neurowissenschaften, welche in den letzten Jahrzehnten sehr stark an Einfluss gewonnen haben.“
Anders verdrahtete Gehirne
Von einer Bewegung zu sprechen wäre hierzulande wohl übertrieben. Dennoch scheint die Idee auf dem Vormarsch: Wer die Diskussionen rund um ADHS verfolgt, entdeckt zahlreiche Versatzstücke einer neurodiversen Rhetorik – wenn beispielsweise von „anders verdrahteten Gehirnen“ die Rede ist. Die Träumerliesen und Zappelphilipps von damals werden erwachsen, so wirkt es – und fordern nun mehr Akzeptanz für ihr Verhalten ein. Inzwischen entstehen Ansätze einer regelrechten ADHS-Subkultur. Es gibt Stammtische und Onlineforen, in denen sich Betroffene verbünden. Sie tauschen sich dort nicht nur über ihre Ärgernisse aus, sondern feiern auch ihre Besonderheiten oder scherzen darüber.
Bei allem Hype gerät schnell in Vergessenheit, dass die Diagnose auf wackeligen Füßen steht. Wie irreführend die Rede von einem „speziellen Gehirn“ ist, zeigt sich bereits daran, dass es für ADHS keinerlei biologischen Kennwerte oder Labortests gibt. Zwar brachten Studien zahlreiche kleine Unterschiede in Hirnstruktur, Genetik oder dem Haushalt bestimmter Neurotransmitter zwischen Menschen mit und ohne ADHS ans Licht. Doch handelt es sich dabei stets um Mittelwerte einer Gruppe, die nichts über den Einzelfall aussagen.
Anders ausgedrückt: Einem Gehirn sieht man unmöglich an, ob sein Besitzer von ADHS betroffen ist oder nicht. Die Diagnostik selbst folgt allein dem, was die Betroffenen (und ihr Umfeld) erzählen. Von einer schlüssigen Erklärung, wie diese Störung genau entsteht, ist man weit entfernt. Auch die Versuche, die genetische Basis von ADHS zu entschlüsseln, endeten bislang enttäuschend.
"Kaputte" Schaltkreise
Der Psychologe Stephan Schleim von der Universität Groningen warnt davor, komplexe Erscheinungen auf biologische Vorgänge zu reduzieren: „Die weitere Suche nach Biomarkern oder ‚kaputten Schaltkreisen im Hirn‘ birgt die Gefahr, die Patientenperspektive zu vernachlässigen“, schrieb er 2022 in einem Essay. Er wünscht sich stattdessen mehr Neugier für die vielschichtigen persönlichen Erfahrungen der Betroffenen.
Auch irritiert der starke Einfluss von Pharmakonzernen. Bis heute gibt es zu wenige hochwertige, unabhängige Studien über ADHS. Eine Überblicksarbeit der World Federation of ADHD aus dem Jahr 2021 enthält über zwei Seiten Anhang mit möglichen Interessenkonflikten der Autorinnen und Autoren. Sie erhielten Finanzhilfen von Eli Lilly, Shire, Janssen und anderen Arzneimittelfirmen. Diesen kommt die Erzählung von einer Krankheit des Nervensystems entgegen.
Dass diese Sichtweise nicht alleingültig ist, zeigen verblüffende Ergebnisse zu verschiedenen Umwelteinflüssen: Wer als Kind aufgrund seines Geburtsmonats besonders jung eingeschult wurde, erhielt doppelt so häufig ADHS-Medikamente wie seine etwas älteren Mitschüler, zeigte eine Studie aus dem Jahr 2010. Kinder aus armen Familien scheinen zudem deutlich häufiger betroffen zu sein als andere.
Krankheitswert - Ja oder Nein?
Vor allem aber bleibt umstritten, ob ADHS eine „echte Störung“ ist, sprich: ob die Symptome inhaltlich zusammengehören und einen echten Krankheitswert besitzen. Bei dieser Frage kochen schnell die Gemüter hoch. Zu sagen, ADHS sei eine erfundene Störung, sei „gleichbedeutend damit, zu erklären, die Erde sei flach, die Schwerkraft sei diskutabel oder das Periodensystem der Elemente sei Betrug“, schreibt Russel Barkley, ein führender ADHS-Forscher aus den USA.
Die britische Psychiaterin Joanna Moncrieff hält dagegen. Sie sieht in der ADHS-Diagnose bei Erwachsenen „den jüngsten Versuch, gewöhnliche menschliche Schwierigkeiten zu medikalisieren“, argumentiert sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Sami Timimi in einer kritischen Analyse zu ADHS bei Erwachsenen. Sie verweist darauf, dass viele der diagnostischen Kriterien so banal seien, dass sich zahlreiche Menschen darin wiederfänden: Wer vergisst nicht gelegentlich den Autoschlüssel, fällt Gesprächspartnern ins Wort oder schweift bei Vorträgen ab?
Dass die Störung schlechte Leistungen in der Universität oder im Berufsleben vorhersagt, hält sie für einen Zirkelschluss. Schließlich würden diese Probleme bereits in die Diagnostik der Störung selbst einfließen. Die Korrelationen seien also künstlich.
Für die Probleme meines ADHS verantwortlich
Manche schlagen vor, Hyperaktivität, impulsives Verhalten und Aufmerksamkeitsprobleme lieber als ein fließendes Kontinuum zu begreifen, ohne klare Trennlinie zwischen „krank“ und „gesund“. „ADHS hat natürlich einen dimensionalen Charakter“, sagt Psychiater Felix Betzler hierzu. „Dennoch müssen wir bei der Diagnostik eine klare Grenze ziehen: Liegt eine Störung vor oder nicht?“
Das Diagnosehandbuch Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) des US-amerikanischen Psychiaterverbandes definiert die ADHS als neuronale Entwicklungsstörung mit festen Kriterien. Ein Problem: Das Manual entdeckt etwa drei- bis viermal so viele ADHS-Fälle wie die ICD-10, das hierzulande gültige Diagnoseverzeichnis der Weltgesundheitsorganisation mit strengeren Regeln. Die elfte Auflage der ICD – in Deutschland noch nicht gültig – hat sich jedoch der ADHS-Definition aus dem DSM-5 angenähert.
Unabhängig davon wird die ADHS-Diagnose immer beliebter. Viele Betroffene klagen darüber, dass es in ihrem Privatleben, Beruf oder Studium hapert. „Nach vier Stunden am Computer bin ich völlig im Eimer“, erzählt Bastian vom Anfang des Artikels. Dass es aber vielen Menschen so geht, deren Tage aus Excel-Tabellen und öden Meetings bestehen, blendet er aus. „Meine Kolleginnen und Kollegen schaffen das doch auch“, beteuert er. „Mit einer Diagnose wüsste ich, dass es okay ist, mit diesen Anforderungen nicht klarzukommen.“ Ähnlich wie Bastian entlastet es also viele Menschen, dass eine psychische Störung für ihre Probleme verantwortlich sein soll – und nicht sie selbst. Die Diagnose liefert dann eine Art Attest fürs Nicht-funktionieren-Müssen.
Mentra, Auticon, Cerebal
Die antipsychiatrische Bewegung der 1970er Jahre sah seelische Leiden noch als gesellschaftlich erzeugt an, den „Wahnsinn“ gar als rebellischen Akt gegen untragbare Verhältnisse. Die neurodiverse Rhetorik stellt dieses Erbe gewissermaßen auf den Kopf: Sie verortet die psychiatrischen Diagnosen fix im Hirn der Einzelnen und interessiert sich kaum noch für den äußeren Rahmen. Es ist ein Denken in festen Identitäten, welches die derzeitigen Arbeits- und Lebensbedingungen bestenfalls in Details ändern will – und solidarische Zusammenschlüsse oder einen Wandel hin zu gerechteren Verhältnissen erschwert.
Kein Wunder also, dass sich die Erzählung von der Vielfalt der Gehirne als eine Goldgrube für kommerzielle Anbieter entpuppt. Startups wie Mentra oder Auticon vermitteln „neurodivergente Talente“, etwa hyperaktive oder autistische Fachkräfte an Unternehmen. Diverse Onlinedienste versprechen Abhilfe bei ADHS und Co: digitale Psychotherapie oder Coaching per App – in einigen Ländern gar Rezepte auf Wunsch. Der Telemedizindienst Cerebral sorgte in den USA mit aggressiven Werbekampagnen für Ärger. User konnten sich nach einer halbstündigen Onlinediagnostik starke ADHS-Medikamente verschreiben lassen. Ein ehemaliger Manager der Firma verklagte im April 2022 seine frühere Arbeitgeberin wegen dieser Geschäftspraktiken.
„Wir müssen aufpassen, dass nicht jeder, der in der Leistungsgesellschaft nicht mithält, eine ADHS verpasst bekommt. Als diagnostische Fachleute sind wir da gewissermaßen die Wächter“, sagt Psychiater Felix Betzler. Er ahnt, warum eine Diagnose für manche so attraktiv zu sein scheint: „Man bekommt eine Erklärung für seine Probleme geliefert und dazu noch vermeintlich leistungssteigernde Medikamente.“
Medikamente für bessere Noten
Der gegenwärtige Trubel um ADHS ist eben auch das: ein Arzneimittel-Hype. Erwachsene ADHS-Patienten trieben zuletzt die Nachfrage nach Medikinet (Methylphenidat) und ähnlichen Medikamenten in die Höhe. Das ergab eine Langzeitanalyse von 2008 bis 2018 mit Daten aus 2500 deutschen Arztpraxen. Bei den über 25-Jährigen verfünffachte sich die Zahl der verschriebenen Tagesdosen in dieser Zeit, während die Zahl bei unter 16-Jährigen stagnierte. Bestimmte Effekte dieser stimulierenden Medikamente sind zwar gut belegt, doch ist nicht restlos geklärt, wie diese Stoffe aus der Gruppe der Amphetamine genau helfen. Für die Annahme, dass die Pillen speziell ADHS-Patienten eher beruhigen als anregen, gibt es kaum wissenschaftliche Belege.
Manches deutet darauf hin, dass die Tabletten bei vielen Menschen recht ähnlich wirken, Diagnose hin oder her. Methylphenidat kann zum Beispiel auch bei Personen ohne ADHS die Gedächtnisleistung kurzzeitig verbessern. Steckt hinter dem derzeitigen Ansturm auf ADHS-Medikamente vielleicht auch die Sehnsucht nach einer Wunderpille für Job oder Studium?
Untersuchungen zeigen jedenfalls: Die Wirkstoffe können etwa bei Studierenden keine besseren Noten hervorkitzeln, egal ob mit oder ohne ADHS-Diagnose. Die gute Nachricht: „Studierende mit ADHS können genauso gut wie jene ohne ADHS abschneiden, wenn sie sich altbewährte, wirksame Lerntechniken aneignen“, erklären die US-Forscherinnen Claire Advokat und Mindy Scheithauer in einer Überblicksarbeit. Konkret: regelmäßig lernen, statt am Tag vor der Klausur.
Neurodivergent - ganz ohne Wertung
Neben dem Wust an kommerziellen Angeboten und Medikamenten lauern noch andere Tücken in der Erzählung der andersartigen Gehirne: Das Etikett „neurodivergent“ haftet vor allem jenen Diagnosen an, die trotz aller Probleme und auch Leiden einen gewissen Charme ausstrahlen, etwa hochfunktionale Formen von Autismus oder ADHS. Das betrachtet der Historiker Rüdiger Graf skeptisch: „Ich sehe eine Gefahr darin, dass die besonderen Fähigkeiten einiger Personen überbetont werden“, sagt er in Bezug auf Autismus.
„Nur ein kleiner Prozentsatz der Erkrankten verfügt über verwertbare Spezialtalente.“ Andere Betroffene gerieten ins Hintertreffen. Deswegen reiche es nicht aus, bestimmte Phänomene zu entpathologisieren: „Es geht darum, Menschen in die Lage zu versetzen, ein möglichst eigenständiges Leben zu führen. Auch therapeutische Hilfen können dazu beitragen“, so Graf. Ähnlich äußert sich Felix Betzler über ADHS: „Ich finde es hilfreich, mit der Neurodiversität einen nicht wertenden Begriff zu haben“, meint der Psychiater. „Dennoch kann es sinnvoll sein, ADHS als Diagnose mit Krankheitswert zu sehen – etwa weil daran eine bestimmte Behandlung geknüpft ist.“
Bei den stärker Beeinträchtigten, etwa bei Menschen mit schweren Psychosen oder Demenz, hilft die Erzählung von neurologischer Vielfalt kaum: Wenn Menschen aus der Allgemeinbevölkerung über genetische Besonderheiten oder die veränderte Hirnchemie von psychisch Erkrankten erfuhren, führte das nicht zu mehr Akzeptanz. Zu diesem Schluss kommt ein Team um den deutschen Psychiater Matthias Angermeyer, das 33 Studien zu dieser Frage auswertete. In einigen Fällen verstärkten sich die Vorurteile gar: Wer von den biochemischen Ursachen der Schizophrenie las, lehnte die Betroffenen danach mehr ab als zuvor, sah diese zuweilen fast als „andere Spezies“. Was für mehr Toleranz sorgen sollte, kann also das glatte Gegenteil bewirken.
Alle Gehirne sind einzigartig
So entpuppt sich der neurodiverse Gedanke als eine zwiespältige Antwort auf eine geradezu utopisch anmutende Frage: Wie könnten echte Freiräume aussehen für eigentümliche Lebensweisen, für erwartungsfreies Seindürfen, für gelegentliche Verrücktheiten? Die Neurodiversität könnte ein kleiner Schritt in diese Richtung sein – allerdings zu einem hohen Preis: dem falschen Eingeständnis, mit einem fundamental anderen Nervenapparat geboren zu sein als andere Menschen.
Deswegen werde ich mit dem derzeitigen Neuro-Hype rund um ADHS wohl auch weiterhin fremdeln. Zwar weiß ich um meine eigenen Spleens und bin zuweilen dankbar, auf eine simple Erklärung ausweichen zu können, wenn ich mal wieder im Gespräch gedanklich abgeschweift bin oder mein Gegenüber mit Zappeleien verwirre. Gleichzeitig spüre ich, wie situationsbedingt und variabel diese Besonderheiten bei mir und anderen sind. Kaum etwas spricht dafür, dass Menschen mit ADHS-Diagnose eine einheitliche Gruppe mit einem neuronal festgesetzten Schicksal bilden.
Als Identitätsangebot, als vermeintliche Erklärung für das eigene Anderssein haben die vier Buchstaben eine hohe Anziehungskraft. Ein Selbstverständnis als „neuronal anders“ könnte sich dennoch als vergiftetes Geschenk erweisen: Es zieht einen künstlichen Graben zwischen Menschen mit und ohne Diagnose und zementiert die eigene Fremdartigkeit. Deswegen mag ich mir kein Etikett als neurodivergent anheften. Als viel befreiender erlebe ich die Einsicht, dass nicht manche, sondern alle Gehirne einzigartig sind und sich schlecht in vorgefertigte Normen oder feste Störungskategorien pressen lassen. Die neuronalen Gefüge sind im stetigen Fluss und können sich immer wieder ändern, jede Sekunde aufs Neue.
Kurz erklärt
Neurodiversität betont, dass Menschen von Natur aus verschiedenartige Nervensysteme haben – und deshalb auch eine große Vielfalt an Ausdrucks- und Erlebensweisen. Das Konzept soll helfen, verschiedene Phänomene zu normalisieren, die bislang als Fehlfunktion galten. Unterschieden wird zwischen neurodivergenten Menschen (sprich: mit normabweichenden Gehirnen) und neurotypischen Menschen, deren Hirn sich „normal“ entwickelt hat.
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gilt als Störung der neuronalen Entwicklung, die im Kindesalter beginnt und mitunter bis ins Erwachsenenalter hinein besteht. Sie äußert sich durch Aufmerksamkeitsprobleme, Impulsivität und starke körperliche Unruhe.
Autismus bezeichnet eine Entwicklungsstörung, bei der ab dem frühen Kindesalter sowohl verschiedene Auffälligkeiten – unter anderem im sozialen Austausch und der Sprache – als auch gleichförmige Verhaltensweisen auftreten.
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