Was ist eine Nebenwirkung in der Psychotherapie?
Nebenwirkungen sind unvermeidbare Belastungen oder – im schlimmsten Fall – Schäden infolge einer korrekt durchgeführten Psychotherapie. Sie sind also kein Fehler der behandelnden Psychotherapeutinnen und -therapeuten, sondern Teil des Behandlungsprozesses.
Ein Beispiel: Eine Patientin, der in der Therapie immer deutlicher wird, dass sie oft nur ihrem Partner zuliebe etwas macht, die nun lernt, sich selbst besser abzugrenzen und sich zu behaupten, wird womöglich mit ihrem Partner öfter als bisher Auseinandersetzungen haben. Wenn der Partner nicht bereit ist, sich auf die Entwicklung der Patientin einzustellen, könnte es sogar zur Trennung kommen. So hätte eine erwünschte Persönlichkeitsentwicklung eine Konsequenz, die für die Patientin oder ihren Partner höchst belastend sein könnte – zumindest vorübergehend.
Anderes Beispiel: Geht es um Angst und die Konfrontation damit, also die Exposition, so müssen die Patienten erst starke Angstzustände aushalten, bevor sie die Erfahrung machen können, dass die Angst abnimmt. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass die Therapie wirkt, kein Kunstfehler.
Dies ist klar zu unterscheiden von fehlender Professionalität oder einem Fehlverhalten des Therapeuten: wenn eine Therapeutin ihren Patienten beispielsweise mit ihren eigenen Sorgen überschüttet, wenn sie übergriffig oder entwertend ist oder es gar zu sexuellem Missbrauch kommt.
Sie haben 45 Patientinnen und Patienten befragt, die eine kognitive Verhaltenstherapie, eine psychodynamische oder psychoanalytische Therapie machten. Welche Unterschiede gab es?
Generell berichteten fast alle Befragten von mindestens einer Nebenwirkung. Am häufigsten sagten Patienten, dass ihre Probleme viel komplexer waren, als sie selbst gedacht hatten. Die zweithäufigste Nebenwirkung war die anfängliche Verschlechterung der Symptome. Auch von Spannungen mit dem Therapeuten und von mehr Konflikten mit Familienangehörigen oder in anderen sozialen Beziehungen wurde häufig berichtet. Ungefähr ein Drittel gab an, sich in der Behandlung unwohl zu fühlen. Insgesamt haben wir kaum Hinweise auf ausgeprägte Unterschiede zwischen den Therapieschulen gefunden.
Wie ist es zu erklären, dass so viele Patienten das Gefühl hatten, ihre Probleme seien komplexer, als sie gedacht hatten?
Oft kommen Menschen mit diffusen Beschwerden und Leidensdruck in die Behandlung. Manche Probleme sind ihnen bewusst, andere nicht. Aspekte des Verhaltens und Erlebens können sehr tief in der Persönlichkeit verankert sein. Wenn man beginnt, Ursachen und Zusammenhänge zu verstehen, kann das demoralisierend sein: „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist.“ Oder: „Ich habe geglaubt, nach fünf Stunden ist es vorbei.“
Das klingt, als sei es geradezu riskant, eine Therapie zu beginnen…
Wir dürfen nicht vergessen, dass ein besseres Verstehen von Schwierigkeiten auch entlastend wirken kann und eine Voraussetzung für Veränderung ist. Aber natürlich: durch Psychotherapie sollen sich Dinge verändern. Veränderung ist immer mit Chancen und Risiken verbunden. Das Ziel ist, dass sich Patientinnen und Patienten neue, ihnen besser entsprechende Lösungsansätze erarbeiten.
Lutz Wittmann ist psychologischer Psychotherapeut und Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin.
Quelle
Lutz Wittmann u.a.: Patients’ perception of side effects in cognitive-behavior, psychodynamic, and psychoanalytic outpatient psychotherapy. Psychotherapy Research, 2023. DOI: 10.1080/10503307.2023.2290029