Die Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen könnten kaum besser sein, das jedenfalls glauben die Behandelten. Knapp die Hälfte ist vollkommen zufrieden, rund 30 Prozent sind sehr zufrieden. Zu diesem Ergebnis kam 2022 eine Umfrage unter knapp 200 Patienten im Auftrag des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen. Auf den zweiten Blick allerdings scheint doch nicht alles zum Besten zu stehen. Bevor sie sich so gut aufgehoben fühlen, wechseln 37 Prozent die Therapeutin, 7 Prozent sogar mehrfach.
Und…
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Bevor sie sich so gut aufgehoben fühlen, wechseln 37 Prozent die Therapeutin, 7 Prozent sogar mehrfach.
Und dann ist da noch etwas. Es ist ja schön, wenn die Therapeutin intensiv oder sogar sehr intensiv zuhört (80 Prozent Zustimmung) oder wenn der Therapeut die Krankheit und ihren Verlauf intensiv oder sehr intensiv erläutert (gut 60 Prozent). Aber verschwindet die Krankheit durch die Therapie oder bessert sie sich zumindest? Das ist eine ganz andere Frage. Und falls ja: Wie lange halten Erfolge an?
Das Behandlungs-Prävalenz-Paradox
Solchen Fragen geht die Therapieforschung nach. Tausende von Untersuchungen wurden bereits veröffentlicht, zehntausende psychisch Kranke im Rahmen von Studien behandelt und ihr Befinden vor und nach der Therapie erhoben. Ein Resultat ergibt sich immer wieder: Eine Psychotherapie wäre für die meisten das bevorzugte Verfahren. Falls sie wegen einer psychischen Erkrankung behandelt werden müssten, wollen nur 6 Prozent der Deutschen ausschließlich Medikamente, 44 Prozent wünschen sich Psychotherapie, 39 Prozent beides zusammen. Das ergab eine Befragung von knapp 1100 Erwachsenen der Universität Hamburg und der LMU München sowie der Schön-Klinik Roseneck. Deren ärztlicher Direktor Ulrich Voderholzer stellte sie beim großen Psychiatriekongress im Dezember 2023 in Berlin vor.
Eine Therapie kann schnell nötig werden. 37 Prozent gaben an, dass sie schon einmal wegen einer psychischen Erkrankung behandelt wurden. „Dieses Ergebnis hat mich etwas erschrocken gemacht“, kommentierte Psychiatrieprofessor Voderholzer. Er hätte „nicht geschätzt, dass das so viele sind“. Inzwischen sind in Deutschland 39000 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten niedergelassen – fast so viele wie Hausärzte (55000) und weit mehr als die 13000 Frauenärztinnen und 8000 Kinderärzte. Die Behandlungszahlen sind steil gestiegen – beispielsweise um gut 9 Prozent von 2019 bis 2022.
Doch es gibt ein Problem. In der Medizin, so Voderholzer, gilt eigentlich: „Man wendet mehr Therapie an und erwartet dann, dass die Häufigkeit der entsprechenden Krankheit nach unten geht.“ So hat etwa die Behandlung des Bluthochdrucks nicht nur diesen in der Bevölkerung gesenkt, sondern auch die Zahl der Krankheiten, die er mitverursacht, wie Herzinfarkte und Schlaganfälle. Doch bei den psychischen Erkrankungen kommt nicht nur Voderholzer „zu der etwas bitteren Erkenntnis“: Es gibt keine Abnahme. In der Fachwelt heißt das Phänomen „Behandlungs-Prävalenz-Paradox“: Die Prävalenz, also die Häufigkeit psychischer Erkrankungen geht trotz immer mehr Behandlungen nicht zurück. Dabei hat nicht nur die Zahl der Psychotherapien zugenommen, auch die Verordnungen von Psychopharmaka sind steil nach oben gegangen.
Und dennoch bleiben psychische Störungen erschreckend häufig. Nach der letzten großen deutschen Studie, für die um das Jahr 2010 herum gut 5000 Erwachsene untersucht wurden, litten in den zwölf Monaten zuvor 30 Prozent unter mindestens einer. Das waren ungefähr genauso viele wie bei der Vorgängeruntersuchung ein Jahrzehnt zuvor. In anderen Ländern verhält es sich ähnlich: Immer mehr Behandlungen, aber nicht weniger psychische Erkrankungen. In den Niederlanden stieg ihre Zahl offenbar sogar.
Klinik und Medikamente
Wie lässt sich das Behandlungs-Prävalenz-Paradox erklären? Zunächst: Obwohl immer mehr psychisch Kranke Psychotherapie erhalten, bekommen die meisten noch immer keine. Das scheint allerdings auch an den Kranken selbst zu liegen, ungeachtet ihrer proklamierten Wünsche. Denn wer sich um eine Psychotherapie bemüht, bekommt sie inzwischen auch einigermaßen zeitnah. Das ist das Ergebnis einer neuen Umfrage unter 2200 betroffenen Deutschen, die Professor Johannes Kruse vom Universitätsklinikum Gießen und Marburg im März 2024 auf dem Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie präsentierte. 90 Prozent erhielten innerhalb eines Vierteljahrs ein Erstgespräch. 96 Prozent von denen, die dann regelmäßige Termine wollten, bekamen sie nach maximal weiteren drei Monaten. Ausländische Fachleute hätten für das deutsche Versorgungssystem durchaus bewundernde Blicke übrig, berichtete Kruse.
Doch trotzdem erhalten die meisten eben keine Psychotherapie, sondern allenfalls Medikamente. Von den Versicherten der AOK Niedersachsen, einer der größten gesetzlichen Krankenversicherungen Deutschlands, erhielten im Jahr 2018 nur 10 Prozent der schwer Depressiven eine Psychotherapie, 60 Prozent dagegen Antidepressiva. Nach den deutschen Behandlungsleitlinien müssten schwer Depressive aber beides bekommen. Auch sonst geht es nicht unbedingt vernünftig zu: Ein Drittel der Depressiven landet in einer Klinik, doch dabei spielt es erstaunlicherweise keine Rolle, wie schwer die Depression ist. Bei anderen psychischen Erkrankungen sieht es ähnlich aus. Es bleibt die Frage, warum mittlerweile anderthalb Millionen psychotherapeutische Behandlungen bei Niedergelassenen pro Quartal nicht zumindest zu etwas weniger Depressionen, Ängsten, Zwängen und Essstörungen führen.
Veränderte gesellschaftliche Bedingungen
Therapieforscherinnen und -forscher diskutieren verschiedene Erklärungen. So wäre es möglich, dass die Behandlungen durchaus für weniger Erkrankungen sorgen, dies aber verborgen bleibt, weil negative Trends anderswo diese Fortschritte verdecken. Die Auswahl möglicher Fehlentwicklungen ist groß. Ein Team um die Psychologin Julia Thom vom Berliner Robert-Koch-Institut präsentierte eine Liste der gängigen „kulturpessimistischen Gegenwartsdiagnosen“. Sie ist lang. Entfremdung, Werteverfall, sich ausbreitende Selbstbezogenheit, ein Verschwinden des öffentlichen Lebens, zunehmende Vereinzelung, Selbstausbeutung, eine allgemeine Beschleunigung des Lebens.
Vielleicht seien psychische Störungen ja tatsächlich Kultur- oder Zeitkrankheiten infolge „eines pathogenen gesellschaftlichen – häufig insbesondere ökonomischen – Wandels“. Allerdings, so Julia Thom, werde von den Zivilisationskritikern nicht „fundiert erklärt, wie genau und in welchem Umfang sich etwa Werteverfall oder politische Krisen auf psychische Gesundheit und Krankheit der Bevölkerung auswirken mögen“. Und es wäre natürlich ein merkwürdiger Zufall, wenn diese gesellschaftlichen Probleme gerade so stark wären, dass sie die positiven Wirkungen von psychologischer und medikamentöser Therapie ziemlich genau ausglichen.
Sollten tatsächlich gesellschaftliche Entwicklungen schuld sein, wird es schwierig. Denn die werden sich nicht schnell und einfach umkehren lassen. Das könnte anders sein, wenn – zumindest auch – eine andere Erklärung zutrifft, die in der Therapieforschung diskutiert wird: Die Therapien, die psychisch Kranke derzeit erhalten, seien nicht sehr wirkungsvoll. Und dafür spricht viel. Der Psychiatrieprofessor Johan Ormel von der Universität Groningen und der Psychologieprofessor Paul Emmelkamp von der Universität Amsterdam halten es für möglich, dass die Wirksamkeit von Psychotherapien und Medikamenten „zu gering ist, um einen Einfluss zu haben, was helfen könnte, das Behandlungs-Prävalenz-Paradox zu erklären“.
„Wir probieren alles, aber nichts hilft.“
Der führende Therapieforscher Pim Cuijpers von der Vrije Universiteit Amsterdam hat viele Studien zum Verlauf von Depressionen ausgewertet. Ergebnis: Ohne Behandlung geht es nach einiger Zeit 45 Prozent besser, mit Behandlung sind es 60 Prozent. 40 Prozent geht es also trotz Behandlung nicht besser. Cuijpers ist ratlos: „Wir wissen nicht, was wir mit ihnen machen sollen. Sie bekommen ein Medikament, sie bekommen eine Psychotherapie, sie bekommen eine andere Art von Psychotherapie, sie bekommen eine andere Medikamentendosis, sie bekommen ein anderes Medikament. Wir probieren alles, aber nichts hilft.“
Bei anderen Störungen richtet Psychotherapie mehr aus. Das gilt etwa für Menschen, die sich ständig sorgen, dass etwas schiefgehen könnte, und die deshalb eine generalisierte Angststörung diagnostiziert bekommen. Unmittelbar nach einer Verhaltenstherapie geht es gut der Hälfte nicht nur besser, sondern die Krankheit ist mehr oder weniger verschwunden. Ein halbes Jahr später gilt das sogar für zwei Drittel. Ähnlich erfolgreich lässt sich die posttraumatische Belastungsstörung behandeln. Aber auch hier wird ein guter Teil der Behandelten die Krankheit eben nicht los. Bei Zwängen sieht es noch etwas schlechter aus. Außerdem kommt das Leiden sogar nach einer erfolgreichen Behandlung oft wieder, etwa im Fall von Depressionen.
Und all diese Ergebnisse stammen aus Therapiestudien. Für sie werden Patientinnen und Patienten sorgfältig ausgewählt. Wer nicht nur ausschließlich die Störung hat, um die es gerade geht, wurde lange Zeit ausgeschlossen. Tatsächlich leidet aber fast die Hälfte der psychisch Kranken nicht nur an einer Störung, sondern an mehreren, etwa Ängsten und Depressionen. Ein Achtel kommt sogar auf vier oder mehr Störungen. Das macht eine erfolgreiche Behandlung schwieriger.
Außerdem werden in Studien normalerweise eine oder zwei Therapiemethoden gezielt überprüft. Die Behandelnden werden oft eigens in ihnen geschult und die Studienleitung überprüft streng, ob sie auch so vorgehen, wie sie sollen. In Praxen und Kliniken gibt es keine wirkliche Kontrolle. Zwar sind Therapierende gehalten, sich an die offiziellen Behandlungsleitlinien zu halten. Doch das tun sie oft nicht.
Warum wird nicht mehr konfrontiert?
Eine der wirksamsten Methoden bei Ängsten ist, sich ihnen unter therapeutischer Anleitung auszusetzen, also je nach Angst eine Spinne in die Hand zu nehmen, in ein Flugzeug zu steigen oder fremde Menschen anzusprechen. Auch bei Zwängen funktioniert Konfrontation. Wenn eine Patientin zwanghaft ständig putzt, bittet die Therapeutin sie etwa, in einer Übung die vermeintlich schmutzigsten Stellen ihrer Wohnung zu berühren ohne sich dann gleich die Hände zu waschen.
Jürgen Margraf, emeritierter Psychologieprofessor der Universität Bochum, hat einmal in einer Studie gefragt, wie oft Konfrontationsbehandlungen in der Praxis gemacht werden. „Das ist im Bereich einer niedrigen einstelligen Prozentzahl.“ Abgerechnet wurde aber in der Hälfte der Fälle Verhaltenstherapie, zu der oft eine Konfrontation mit den eigenen Ängsten gehören würde. „Also das ist leider nicht so sehr erfreulich“, kommentiert Margraf.
Warum aber machen Verhaltenstherapeutinnen und Verhaltenstherapeuten so selten Konfrontationsbehandlungen? Dieser Frage ist Andre Pittig in einer 2019 veröffentlichten Studie nachgegangen. Inzwischen ist er Psychologieprofessor an der Universität Göttingen. Er wertete für seine Untersuchung 684 Fragebögen aus, die zumeist von Niedergelassenen ausgefüllt wurden.
Zum einen nannten sie therapeutische Gründe. Die Methode passe zu vielen Patienten nicht, weil sie noch an anderen Störungen litten oder die Aufregung als stressig empfinden würden. Beides sind aber keine Ausschlussgründe, wie die Therapieforschung zeigt. Ein gutes Drittel gibt an, Konfrontationsbehandlungen seien zu anstrengend – für sie selbst. Tatsächlich zeigt eine Studie, dass bei Therapierenden zumindest am Anfang ihrer Laufbahn einige Stresshormone genauso stark ansteigen wie bei den Therapierten.
Zum anderen machten die Behandelnden rein praktische Gründe geltend. Wenn eine Patientin Angst hat, in ein großes Einkaufszentrum zu gehen, ist womöglich keines zum Üben in der Nähe. Oder ein Patient erscheint nicht, weil er sich im letzten Moment doch nicht traut. Oder die Übung dauert länger als erwartet, dann fällt die Stunde mit der nächsten Patientin aus und die Therapeutin bekommt sie nicht bezahlt.
Niemand, der den Zwang behandelt
Erstaunlicherweise, so Pittig, nennen solche Hindernisse vor allem die Mitglieder der Zunft, die Konfrontationsbehandlungen ohnehin negativ sehen. Vielleicht sind das also eher vorgeschobene Gründe. Im Endeffekt jedenfalls werden Kranken wirksame Therapiemethoden vorenthalten. Voderholzer berichtete in seinem Vortrag von einem Kollegen aus Ulm. „Er findet in einer 100000-Einwohner-Stadt niemanden, der leitliniengerecht Zwang behandeln kann.“
Nicht nur in Deutschland verzichten Therapeutinnen oft auf wirksame Verfahren, und das auch nicht nur bei Ängsten und Zwängen. Tatiana Richard-Kassar von der kalifornischen Universität La Verne fragte 114 auf Essstörungen spezialisierte Fachleute verschiedener Therapierichtungen, wie sie behandelten. Etwa 70 Prozent wichen von nachweisbar erfolgreichen Behandlungsmethoden ab. Die meisten räumten das auch ein. Womöglich sind ihre unbewiesenen und möglicherweise selbstkreierten Behandlungen nicht schlechter. Aber das Risiko tragen die Patientinnen und Patienten.
Auch solche massenhaften Verstöße gegen Leitlinien könnten dazu beitragen, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen einfach nicht zurückgeht. Eigentlich soll in Deutschland sichergestellt werden, dass Hilfesuchende gute Psychotherapie erhalten. Dazu wurde schon vor mehr als 50 Jahren das sogenannte Gutachterverfahren eingeführt. Bevor ein Therapeut auf Kosten einer Krankenkasse mit einer längeren Behandlung beginnen darf, muss er begründen, warum sie notwendig ist und wie sie aussehen soll. Diesen Antrag prüft dann eine Gutachterin – und stimmt in fast hundert Prozent der Fälle zu. Wirklich kontrolliert wird die Qualität der Behandlung so nicht, es geht eher darum, die Therapierenden zum Nachdenken über den Fall zu bewegen. Viele Therapierende mögen das Verfahren nicht, weil es Arbeit macht. Manche umgehen es, indem sie auf Kurzzeittherapien ausweichen, bei denen es nicht vorgeschrieben ist.
Schwierige Fälle werden fallen gelassen
Ab 2025 soll das Gutachterverfahren durch ein neues Verfahren zur Qualitätssicherung ersetzt werden, zunächst für sechs Jahre auf Probe in Nordrhein-Westfalen. Die Behandelnden müssen dann Fragenkataloge zu ihren abgeschlossenen Behandlungen ausfüllen. Aus den Antworten soll beispielsweise hervorgehen, ob und wie gründlich sie zu Beginn die Probleme, die Vorgeschichte und die Therapiemotivation abgeklärt haben, ob die Therapieziele erreicht wurden und ob Vorsorge für einen möglichen Rückfall getroffen wurde.
Auch die Patientinnen und Patienten bekommen hinterher Fragebögen, in denen sie ihre Erfahrungen festhalten sollen. Ihre Antworten werden allerdings nicht mit denen der Therapierenden abgeglichen, so dass sich nicht ableiten lässt, was nun wem geholfen hat oder eben nicht. In den Augen von Professor Klaus Lieberz von der Universität Heidelberg ist das ein „erheblicher Makel“. Und wenn eine Therapie so schlecht läuft, dass die Patientin sie abbricht, wird sie gar nicht erst um einen Erfahrungsbericht gebeten. Das schönt die Erfolgsstatistik natürlich.
Die Verbände der Therapierenden protestieren lautstark gegen das neue Verfahren. Die Deutsche Psychotherapeuten-Vereinigung fürchtet unter anderem, dass Therapierende schwierige Fälle einfach nicht mehr behandeln werden, um den Durchschnitt ihrer Behandlungsergebnisse nicht zu verderben.
Der Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten wiederum beklagt, dass die eingeforderte Transparenz den nötigen „Vertrauensvorschuss der Patientinnen und Patienten untergraben und der therapeutischen Beziehungsbasis schaden“ könne. Wolfgang Lutz von der Universität Trier hält diese Sorge für unbegründet. Der Psychologieprofessor hat in vielen Studien den Erfolg sogar während der Therapie immer wieder mit Fragebögen verfolgt und setzt sie auch in der Ambulanz seiner Universität ein. Die Patientinnen sähen in dieser Maßnahme der Qualitätssicherung „häufig sogar ein Zeichen der beruflichen Kompetenz unserer Institution“. Auch die Therapierenden verspürten keine Verschlechterung der therapeutischen Beziehung.
Großbritannien geht neue Wege
Die Briten verfolgen seit 2008 ein Therapiemodell, in dem die Qualität der Behandlungen sehr viel intensiver kontrolliert wird als in Deutschland jetzt oder nach den Plänen für die Zukunft. Auch andere Tabus werden gebrochen, um mehr Menschen Therapie zu ermöglichen. In dem Programm Improving Access to Psychological Therapies (IAPT) füllen die Behandelten für jede einzelne Sitzung kurze Fragebögen dazu aus, wie depressiv, ängstlich oder überhaupt beeinträchtigt sie sich noch fühlen. Die Ergebnisse landen dann für jedes der über 200 Therapiezentren im Internet.
„Wenn diese Zahlen im Netz stehen, haben sie eine Motivation, sich anzustrengen“, glaubt Jürgen Margraf, der heute am Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit in Bochum arbeitet. Anfangs waren bei IAPT unter 20 Prozent der Behandlungen mehr oder weniger erfolgreich. Inzwischen geht es beispielsweise bei den Depressiven 44 Prozent am Ende deutlich besser. Bringen die aufwendigeren Therapien hierzulande mehr? Das lässt sich nicht sagen. Mangels Daten „wissen wir eigentlich nicht, wie gut das deutsche System wirklich ist, das ist alles anekdotisch“, kritisiert Therapieforscher Lutz.
Dabei dauern die Therapien in England oft nur kurz. Für den Anfang gibt es weniger als acht Sitzungen, in denen die Behandelten hauptsächlich Hilfe zur Selbsthilfe erhalten. Auf dieser ersten Stufe behandeln „Praktiker für psychologisches Wohlbefinden“ (psychological well-being practitioners). Das können Pflegekräfte sein, die in nachweislich wirksamen Therapieverfahren geschult wurden. Ständige Supervision sorgt dafür, dass nichts aus dem Ruder läuft.
Wöchentliche Supervision gibt es auch für die voll ausgebildeten Therapeutinnen und Therapeuten, die übernehmen, wenn die angelernten Kräfte mit ihren wenigen Stunden nicht weiterkommen. Nach deutschen Maßstäben sind auch diese Behandlungen – wie oft in anderen Ländern – ausgesprochen kurz, typischerweise 16 bis 20 Sitzungen. Hierzulande werden schon für eine Kurzzeittherapie bis zu 24 Stunden bezahlt, für eine Langzeitpsychoanalyse bis zu 300. Lutz hält es für erwiesen, dass lange Therapien notwendig sein können, aber man „andererseits dann durchaus auch sagt, na ja, wenn Leute sich schon verbessert haben, dann wäre die Therapie möglicherweise auch zu Ende“.
Langsame Erfolge
Auch wenn die Briten vielleicht manchmal etwas zu sehr sparen, ließe sich von ihnen sicher einiges lernen, wenn es darum geht, die vorhandenen Fachkräfte in der Psychotherapie effizienter einzusetzen. Wahrscheinlich müssten die Hausärzte und Fachärztinnen sehr viel mehr überweisen. Bislang müssen nach den Daten von Johannes Kruse die meisten Betroffenen sich selbst um eine Psychotherapie bemühen, obwohl sie durchaus an Störungen leiden, für die in den Leitlinien Psychotherapie empfohlen wird.
Kämen allerdings alle Behandlungsbedürftigen, wären die psychotherapeutischen Praxen noch mehr überlaufen. Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, mehr Kranke zu behandeln, wie die Engländer vorführen. Mehr Gruppentherapien beispielsweise, sie werden immer noch viel zu wenig angeboten. Sie können sehr effizient sein. Margrafs Bochumer Team hat sogar schon 500 Menschen mit Flugangst an einem einzigen Tag behandelt. Vier Flugzeuge waren im Einsatz, es ging nach Helgoland und zurück. Das Team konnte einen „sehr schönen Erfolg“ verzeichnen.
Oft ist auch eine digitalisierte Therapie, etwa in Form einer App, ähnlich hilfreich wie ein Mensch. 27 verschiedene verzeichnet das offizielle Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen – für Depressionen, Ängste, Schlafstörungen, Borderlinestörung, Binge-Eating und Alkoholprobleme. Neben Ärzten können auch Psychotherapeutinnen sie verschreiben. Nach einer Befragung der gesetzlichen Krankenkassen bekommen aber nur 16 Prozent der psychotherapeutisch Behandelten solche Apps empfohlen, und von denen probieren nur 18 Prozent sie aus. Letztlich unternehmen also gerade drei Prozent auch nur einen Versuch. Gar nicht so selten liegt es also an den Patientinnen und Patienten selbst, dass sie psychische Probleme langsamer loswerden, als es vielleicht möglich wäre.
Quellen
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Pressestelle Deutscher Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie: Psychotherapeutische Versorgung in Deutschland ist besser als vermutet, Februar 2024
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Thom u. a.: Versorgungsepidemiologie psychischer Störungen. Bundesgesundheitsblatt, 62/2, 2019, 128-139
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