Was ist die Narrative Expositionstherapie (NET)?

Die Narrative Expositionstherapie gilt als „die einfachste Psychotherapie der Welt“. Im Interview erklärt Maggie Schauer, für wen sie sich eignet.

Die Illustration zeigt die Autorin Dr. Maggie Schauer
Dr. Maggie Schauer ist Privatdozentin für Psychologie und Gründungsmitglied sowie ehemalige Präsidentin der NGO vivo international. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Frau Schauer, im Vorwort Ihres Buches zitieren Sie die Schriftstellerin Maya ­Angelou mit den Worten: „Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in sich zu tragen.“ Was passiert denn, wenn Menschen über verstörende Erfahrungen schweigen?

Maya Angelou hat in ihrer Kindheit und Jugend wechselnde Bezugspersonen, Armut und Rassendiskriminierung erlebt. Im Alter von sieben Jahren wurde sie vom Freund ihrer Mutter vergewaltigt. Das Trauma und seine Folgen ließen sie fünf Jahre lang verstummen. Das Mädchen empfand starke Scham- und Schuldgefühle. Trauma macht sprachlos. Es zerstört Erinnerungsprozesse, so dass das Geschehene nicht mehr eingeordnet und historisiert werden kann. Die Angst kann nicht Vergangenheit werden, sondern fühlt sich wie Gegenwart an.

Viele Menschen mit Traumaerfahrungen werden auch körperlich krank, versuchen sich selbst zu helfen mit Alkohol und Drogen. Unbehandelte Traumata haben noch weitaus mehr Folgen, wie etwa Depressionen oder erhöhte Impulsivität und Gewaltbereitschaft, was den Zyklus der Gewalt weitertreibt.

Mit ihren Kollegen Frank Neuner und Thomas Elbert haben Sie die Narrative Expositionstherapie – NET – entwickelt. Was zeichnet diese Therapieform aus?

Ursprünglich wurde die NET für prekäre Situationen geschaffen, in denen schwer- und mehrfachtraumatisierte Menschen nur wenige Behandlungssitzungen erhalten können, wie etwa in Kriegs- und Krisengebieten – Kontexte, in denen bis zu 40 Prozent der Personen traumatisiert sind. Die Forschung hat gezeigt: Das Traumatische in Worte zu fassen löst seine Übermacht auf.

Betroffene vermeiden häufig alles, was sie an die traumatische Situation erinnert. Wie kann die Vermeidung überwunden werden?

Ja, die Vermeidung ist Teil der Hauptsymptomatik. In der NET wird nicht an einzelnen Problemen gearbeitet, sondern der Mensch erzählt im Schulterschluss mit dem Gegenüber in Episoden seine ganze Lebensgeschichte, beginnend mit der Geburt. Dabei werden vor allem die aufregenden, bedeutsamen Momente vertieft und beleuchtet. Die Therapeutin bezeugt die Geschichten, schreibt sie jeweils auf und liest sie der erzählenden Person beim nächsten Zusammensein wieder vor. So kann beim traumatisierten Menschen die Vermeidung überwunden werden, er fühlt sich gesehen und kann sein eigenes Selbst – das jüngere Ich – durch die Vergangenheit begleiten.

Wie wirksam ist diese „einfachste Psychotherapie der Welt“, wie Sie sie in Ihrem Buchtitel nennen?

Traumatherapie wird als Luxus angesehen, sie ist selten zu bekommen, teuer und lang ausgebildeten Spezialistinnen und Spezialisten vorbehalten. Dabei leben weit über zwei Milliarden Menschen unter anhaltender Gewalt und traumatischem Stress. Wir können heute den Kreislauf von Trauma und Gewalt durchbrechen. Dazu bedarf es eines Paradigmenwechsels hin zu einer kulturübergreifend schlichten, effektiven und erschwinglichen Psychotherapie.

Die narrative Expositionstherapie konnte in den letzten 25 Jahren erfolgreich in klinischen Studien und im Feld getestet werden. 2021 beispielsweise wurden in einer Metaanalyse 56 klinische NET-Studien mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus 30 Ländern ausgewertet. Dabei fanden sich deutliche Verbesserungen im Bereich körperlicher und psychischer Gesundheit und der allgemeinen Lebensqualität. NET wirkt entstigmatisierend und unterstützt gefährdete Individuen und Gruppen bei der Bewältigung ihrer Traumafolgen und gibt ihnen eine Stimme in verschiedensten Ländern der Welt.

Dr. Maggie Schauer forscht und lehrt als Privatdozentin für Psychologie an der Universität Konstanz. Sie ist Gründungsmitglied und ehemalige Präsidentin der NGO vivo international (vivo.org), die traumatischen Stress überwinden und verhindern hilft.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2024: Bin ich gestresst oder habe ich ADHS?
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