Herr Sander, Sie sind seit acht Jahren Psychotherapeut. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie das erste Mal von einer psychologischen Online-Intervention gehört haben?
Da war ich auf der Suche nach einer Promotionsstelle, Apps auf Rezept gab es da noch nicht. Mein Herz schlug damals wie heute sehr stark für die Face-to-Face-Psychotherapie, und in diesem Bereich wollte ich auch promovieren. Die eine Stelle, die mich interessierte, sah aber die Arbeit an Online-Interventionen vor. Ich dachte: „Wenn das…
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Stelle, die mich interessierte, sah aber die Arbeit an Online-Interventionen vor. Ich dachte: „Wenn das sowieso kommt, dann ist es vielleicht auch spannend, daran mitzuwirken, um das so zu gestalten, dass es gut wird.“
Ich bin also mit einer gewissen Skepsis in die Promotion hineingegangen. Aber je mehr ich mich mit digitalen Interventionen beschäftigt habe, dazu Studien durchgeführt und gesehen habe, wie die Anwendungen den Menschen geholfen haben, umso mehr habe ich in das Thema hineingefunden. Heute bin ich mir sicher, dass sie die Versorgungslage in Deutschland wirklich grundlegend verbessern können.
In einem Vortrag sagten Sie kürzlich, dass bei diesen digitalen Gesundheitsanwendungen – abgekürzt DiGA – noch viel Potenzial ungenutzt sei. Was meinen Sie damit?
Man muss erst mal festhalten, dass wir vor zehn Jahren in Deutschland noch, was die Digitalisierung im Bereich psychische Gesundheit angeht, im Niemandsland waren. Dann gab es vor etwa fünf Jahren das Digitale-Versorgung-Gesetz und damit eben die Möglichkeit, DiGAs in die Versorgung zu integrieren. Das war ein Meilenstein. Aber das ist erst der erste Schritt, es gibt tatsächlich noch viel Potenzial. Ich sehe drei Hauptaspekte, bei denen die Digitalisierung eine wichtige Rolle spielt und die Situation deutlich verbessern kann: bei der Prävention psychischer Erkrankungen, um Behandlungsmaßnahmen effektiver zu gestalten und um Zielgruppen zu erreichen, denen wir aktuell nicht begegnen.
Inwiefern wirken Onlineprogramme bei psychischen Erkrankungen präventiv?
Schön wäre es, wenn Behandelnde die digitalen Anwendungen bereits bei subklinischen Symptomen verschreiben dürften. Ein Beispiel: Ich habe einen Patienten, der keine vollständige Depression hat, sondern lediglich einzelne Symptome. Trotzdem kommt er ja zu mir und will Hilfe. Aktuell müsste ich ihm eine „leichte depressive Störung“ diagnostizieren, damit ich ihm eine DiGA verschreiben darf. Denn dafür braucht es eine Diagnose. Dabei könnte die Anwendung auch diesem Patienten mit seinen einzelnen subklinischen Symptomen schon sehr helfen. Wir haben dazu mal eine große Studie durchgeführt.
Was haben Sie dabei herausgefunden?
Wir haben nichtdepressive Frauen und Männer nach einer stationären Rehabehandlung aufgrund von chronischen Rückenschmerzen eine digitale Intervention zur Prävention von Depressionen absolvieren lassen. Denn Rückenschmerzen und Depressionen treten häufig in Kombination auf, bedingen sich gegenseitig und verursachen einzeln und zusammen sehr viele Krankheitstage. Die Teilnehmenden durchliefen digitale Module wie Verhaltensaktivierung, Problemlösetraining oder Übungen gegen Schlafstörungen. Innerhalb eines Jahres halbierte sich bei ihnen die Wahrscheinlichkeit für eine depressive Episode. Und das waren keine jungen hochgebildeten Leute, sondern über 50-Jährige, die nicht überdurchschnittlich medienaffin waren.
Aktuell gibt es mehr als 60 DiGAs, die also nur verschrieben werden dürfen, wenn zum Beispiel eine Psychotherapeutin eine Diagnose gestellt hat. Dabei könnten die heutigen DiGAs auch schon vorbeugend zum Einsatz kommen?
Theoretisch schon. Es gibt ja auch digitale Rückenschulungen, die Sie machen können, ohne dass Sie schon unter starken Rückenschmerzen leiden. In anderen Krankheitsbereichen sehen wir auch, dass vorsorglich etwas verschrieben wird. Da ist die Frage: Warum dürfen wir nicht auch bei einer psychischen Erkrankung früher intervenieren, zum Beispiel mit diesen digitalen Angeboten? Das wäre nicht so kostenintensiv wie eine komplette Psychotherapie oder ein stationärer Aufenthalt. Die rechtliche Lage ist: Aktuell können DiGAs nur bei Vorliegen einer Diagnose verordnet werden.
Es gibt bereits Unmengen frei zugänglicher Apps für die psychische Gesundheit. Wozu brauchen wir da noch Apps auf Rezept?
Ja, es gibt Millionen von digitalen Gesundheitsanwendungen in den App-Stores. Das ist ein Riesenmarkt, der völlig unübersichtlich ist. Wir haben dazu eine Reihe von Studien durchgeführt. Unser Fazit: Sie haben als Nutzerin oder Nutzer kaum eine Chance, die Spreu vom Weizen zu trennen. Die Sterne-Ratings orientieren sich eher an Design und leichter Nutzbarkeit, nicht an Evidenz und Qualität.
Deswegen finde ich die DiGAs im Prinzip sehr gelungen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte prüft die Qualität, bevor die Produkte überhaupt in die Anwendung kommen. Die Anwendungen sind also evidenzbasiert – bei den frei zugänglichen Apps ist das hingegen meist nicht gegeben.
Sie sagen auch, dass die psychotherapeutische Behandlung effizienter werden sollte – und es dazu die digitalen Angebote braucht.
Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann sehen wir, dass Psychotherapie und Medikamente zur Zeit nicht effektiv genug sind. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die aktuellen Mittel nicht annähernd ausreichend sind, um die Krankheitslast in der Gesellschaft zu adressieren, also die gesundheitlichen Einschränkungen, die durch psychische Erkrankungen entstehen, substanziell zu reduzieren. Selbst wenn wir noch so viele Kassensitze ausschreiben oder noch mehr Psychotherapeutinnen ausbilden würden: Wir würden damit die Krankheitslast nicht in den Griff bekommen. Wir brauchen schlauere Behandlungsmodelle.
Wie sollen die aussehen?
Das sind die offenen Fragen, denen wir uns unter anderem in der Forschung widmen. Kann man im Behandlungskontext bestimmte Aufgaben von digitalen Anwendungen übernehmen lassen? Zum Beispiel die Psychoedukation, also die Aufklärung über die Erkrankung und typische psychologische Mechanismen? Oder die Wiederholung von Inhalten, gar einzelne Übungen, die dann mithilfe von digitaler Anleitung durchgeführt werden? Und kann ich dann als Psychotherapeut mit einem halben Sitz statt bisher 20 Patienten pro Woche vielleicht sogar doppelt so viele Menschen versorgen, wenn ich digitale Interventionen in meine Therapie einbeziehe?
An welchen Schrauben würden Sie noch gern drehen?
Medizinerinnen und Psychotherapeuten verschreiben aktuell noch zu wenig DiGAs. Und die Anwendungen, die verschrieben werden, brechen zahlreiche Nutzerinnen und Nutzer zudem relativ schnell wieder ab. Das sind Schwierigkeiten, die wir in der Anwendung beobachten und bei denen man sich fragen muss: Wie schafft man es, dass die App den Menschen wirklich helfen kann?
Warum werden die Onlinetools so zögerlich verschrieben?
Unter anderem weil die Behandelnden nicht gut über digitale Anwendungen Bescheid wissen. Sie wissen, dass es das gibt, aber spezielle Kenntnisse zu einzelnen Apps sind sehr schlecht ausgeprägt. Auch fehlt es für Psychotherapiepraxen an Anreizen, ihren Patientinnen und Patienten überhaupt eine DiGA zu verschreiben.
Inwiefern?
Hausärztinnen und -ärzte verordnen die Apps ein bisschen häufiger als andere Berufsgruppen. Sie sehen täglich sehr viele Patientinnen in sehr kurzer Zeit und müssen schnell etwas anbieten. Das waren bisher häufig Medikamente. Mit den DiGAs gibt es nun eine andere Möglichkeit, um den Menschen schnell zu helfen.
Psychotherapeutinnen arbeiten anders. Sie sehen Menschen über viele Stunden, machen individuelle Fallkonzepte und maßschneidern die Behandlung auf diesen Einzelfall. Ihnen stellt sich die Frage: „Wie passt die DiGA dort überhaupt passgenau hinein?“, also ein Angebot, das von der Stange kommt. Jede Person, die eine Onlineanwendung erhält, bekommt die gleiche Behandlung. Das funktioniert im hausärztlichen Setting, aber nicht in der Psychotherapie. Es wäre deshalb schön, wenn man die digitalen Formate künftig besser mit der eigentlichen Psychotherapie verzahnen könnte.
Und wie geht man mit den hohen Abbruchquoten um?
Aus der Erfahrung und aus wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass man digitale Anwendungen als Therapeut begleiten muss. Man kann Patientinnen und Patienten nicht einfach damit allein lassen. Sie brauchen zum Beispiel eine Begleitung bei den ersten Schritten in der Anwendung sowie regelmäßige Verlaufskontrollen, in denen die behandelnde Person einen Report erhält und digitale Inhalte in die persönliche Sitzung einbeziehen kann.
Die gesetzlichen Krankenkassen hoffen ja, mit den Apps auf Rezept Geld zu sparen – unter anderem indem sie weniger ambulante Psychotherapie bezahlen müssen. Geht die Rechnung auf?
Die Idee, man könne mit DiGAs Kosten sparen, ist falsch. Das tritt nicht ein, wie wir bereits in anderen Ländern beobachten können, wo es solche Apps schon länger im Gesundheitssystem gibt. Die Digitalisierung verursacht auch Kosten. Die Apps müssen entwickelt, getestet und aktuell gehalten werden. Wir schaffen damit eine neue Versorgungsform. Aus meiner Sicht reduzieren sich in der Regel die Symptome auch nicht in dem Maße, dass keine persönliche Behandlung mehr nötig wäre. Außerdem muss jemand die digitale Intervention begleiten. Da brauchen Sie also Personal.
Dazu kommen dann vermutlich auch die neuen Zielgruppen, die die digitalen Angebote erreichen könnten.
So ist es. Ein Beispiel: Eine Person ist beim Hausarzt und klagt zum ersten Mal über Depressionen. Der Arzt empfiehlt dann vielleicht eine Psychotherapie. Sie sagt dann aber wie viele Menschen: „Nein, das mache ich auf gar keinen Fall. Ich will nicht mit einem ‚Psycho‘ reden.“ Aber die Person kann eventuell eine DiGA nutzen. Auf diesem Weg kommt sie das allererste Mal überhaupt mit psychologischer Hilfe in Berührung und erlebt womöglich, dass ihr diese hilft. Tatsächlich wissen wir aus wissenschaftlichen Studien, dass Menschen eher dazu motiviert sind, eine reguläre Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, nachdem sie eine DiGA genutzt haben.
Welche Menschengruppen erreichen die derzeitigen Behandlungsangebote noch nicht?
Im Moment läuft das Versorgungssystem komplett über Niedergelassene, auch bei den DiGAs. Wir erreichen also all diejenigen nicht, die sich nicht in eine Praxis bewegen. Das sind sehr, sehr viele Menschen. Männer sind zum Beispiel im Gesundheitssystem deutlich unterrepräsentiert, genauso wie Menschen mit geringerem Einkommen.
Wie könnte man denn denen mithilfe der DiGAs helfen?
Es gibt Länder, in denen man wissenschaftlich geprüfte Onlineprogramme ohne den Gang zum Arzt oder zur Ärztin nutzen kann. Das sollte auch bei uns möglich sein. Man müsste dabei natürlich genau prüfen, welche Anwendungen das sind, wie sie aufgebaut sind und ob sie den Weg ins Versorgungssystem erleichtern.
Mein ganz spezielles Forschungsgebiet sind Menschen mit Suizidgedanken. Wir wissen, dass die allermeisten von ihnen vor einem Suizidversuch bei Google unterwegs sind und dort nach suizidspezifischen Begriffen suchen. Wenn man sie beispielsweise über ein frei zugängliches digitales Angebot adressieren könnte, hätten wir eine Chance, Menschen in das Versorgungssystem zu bekommen, die da sonst nicht hineingehen würden. Das muss aber auf politischer Ebene entschieden werden. Das sind sehr dicke Bretter, die da gebohrt werden müssen.
Die niedrige Verschreibungsrate, die Abbruchquoten, die vielen Kritikpunkte an der digitalen Versorgung – sind wir selbst die größte Hürde in der Digitalisierung?
Wie gesagt: Die Einführung von DiGAs war erst der erste Schritt zu einer digitalisierten Versorgung. Dass so ein großes Projekt Kinderkrankheiten hat, ist meiner Meinung nach normal. Daran muss man halt arbeiten.
Fest steht: Wir müssen digitaler werden. Da hilft uns die Digitalisierungsskepsis in Deutschland nicht weiter. Stellen Sie sich mal vor, die Leute hätten während der Entwicklung der ersten Autos gesagt: „Wir bauen die Autos erst, wenn wir sicher wissen, dass es keine Autounfälle geben wird.“ Dann wäre Deutschland nicht da, wo es heute steht.
Oft schwingt in der Debatte um die Digitalisierung in der Psychologie die Frage mit, ob die Apps irgendwann die Psychotherapeuten ersetzen werden.
Also, ich sehe das nicht. Was mich stört: Manche Personen gehen davon aus, dass das, was wir aktuell in der psychotherapeutischen Versorgung machen, das Gelbe vom Ei sei, dass das der Goldstandard sei. Aber es ist gar nicht so glänzend Gold, wie viele glauben. Die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen durch Psychotherapie hat Grenzen.
Und ich frage mich gleichzeitig, was für einen Blick meine Kolleginnen und Kollegen auf ihre eigenen Fähigkeiten und auf ihre Stellung in der Gesellschaft haben, wenn sie das Gefühl haben, sie könnten durch eine Maschine ersetzt werden. Ich erlebe es nicht so, dass die Digitalisierung im heutigen Setting in irgendeiner Form dazu führen wird, dass Psychotherapeutinnen obsolet werden. Am Ende ist das auch eine gesellschaftliche Frage – und hier erlebe ich den Rückhalt und die Akzeptanz von Psychotherapie in Deutschland als sehr hoch.
Würden Sie denn Ihren Angehörigen eine DiGA empfehlen?
Wenn das eine Person ist, die sich vorstellen kann, sich in einem Selbsthilfesetting mit den psychologischen Inhalten auseinanderzusetzen, und die offen für digitale Anwendungen ist, auf jeden Fall. Am besten wird das begleitet durch eine Fachperson, die sich mit diesem Menschen, seiner Erkrankung und der DiGA gleich gut auskennt. Unabhängig davon wissen wir aus der Forschung, dass DiGAs hochqualitativ sind, eine geprüfte Evidenz haben und man damit Inhalte lernt, die hilfreich sein können. Und dass die Effekte von Onlineanwendungen genauso hoch sein können wie von Regelpsychotherapie. Also: klares Ja.
Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA)
Seit 2020 können Online-Interventionen per Rezept verschrieben werden. Gesetzliche Krankenkassen übernehmen dann die Kosten dafür. DiGAs sind wissenschaftlich überprüfte digitale Programme, die bei körperlichen Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes oder Endometriose helfen sollen oder auch bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Phobien oder Essstörungen.
Lasse B. Sander leitet eine Forschungsgruppe am Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Freiburg. Er forscht zu E-Mental-Health und Depressionen. Neben seiner Forschungstätigkeit ist er als Psychotherapeut tätig.