Frau Sedlak, viele Schülerinnen und Schüler leiden noch immer unter den Folgen der Coronapandemie. Fast drei von vier Kindern seien psychisch belastet, verkündete die Bundesregierung im vergangenem Jahr. Was heißt das für die Arbeit von Schulpsychologen?
Wir sehen in den Schulen, dass die Fälle komplexer geworden sind und sich eher zuspitzen. Ich kann mich zum Beispiel an einen Siebtklässler erinnern, der ständig fehlte. Die Eltern hatten sich getrennt und der Junge musste die Schule wechseln. Dort fand er,…
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erinnern, der ständig fehlte. Die Eltern hatten sich getrennt und der Junge musste die Schule wechseln. Dort fand er, auch bedingt durch den Distanzunterricht, keinen Anschluss. Erst fehlte er ein paar Stunden, dann ganze Tage. Hier sieht man, wie verschiedene belastende Faktoren zusammenkommen und sich über die Zeit ausweiten. Zu Beginn einer solchen Entwicklung wäre es deutlich leichter, die Kinder zu unterstützen.
Schulpsychologinnen berichten von einem drastischen Anstieg der Anfragen von Lehrkräften und Eltern.
Ja, aber das ist nicht unbedingt eine schlechte Nachricht. Ich habe den Eindruck, dass seit der Pandemie viel stärker auf die psychische Gesundheit der Kinder geachtet wird. Früher mussten sich Schülerinnen eher mal anhören: „Stell dich nicht so an!“ Das hat sich geändert. Die Sensibilität der Lehrer und Lehrerinnen ist gestiegen und sie wenden sich schneller an die Schulpsychologie. Je mehr Kontakt wir zu den Schulen haben, desto stärker werden wir nachgefragt. Man geht mit einem Fall in die Schule und kommt mit dreien wieder raus.
Was belastet die Kinder aktuell besonders?
Wissenschaftliche Untersuchungen wie die Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zeigen, dass Ängste nach wie vor stark verbreitet sind. Kinder erleben zunehmend, dass die Welt ein unsicherer Ort ist. Als der Krieg in der Ukraine begann, brach eine Flut an Informationen über sie herein. Sie spürten, dass viele Erwachsene beunruhigt sind. Natürlich bekommen es Kinder auch mit, wenn sich ihre Eltern wegen der Inflation Sorgen machen. All das entzieht sich – wie Corona – völlig ihrer Kontrolle. Umso wichtiger ist, dass sie die Schule als sicheren Ort erleben.
Glaubt man Eltern, ist die Schule eher ein Ort, der vielen Kindern Probleme macht. Sie brauchen Nachhilfe, wollen nicht mehr hingehen, leiden unter dem Leistungsdruck.
Das ist eine Beobachtung, die ich pauschal nicht bestätigen kann. Ich glaube, ein Grund für die wahrgenommene hohe Belastung ist der gestiegene Anspruch. Viele Eltern streben einen möglichst hohen Bildungsabschluss für ihre Kinder an und machen sich schon Sorgen über ein Studium oder den Beruf, wenn ihre Kinder noch einen ganz anderen Fokus haben. Kinder lernen und entwickeln sich nicht immer im gleichen Tempo, manchmal brechen die Leistungen ein. Das kann zu Stress in den Familien führen. Dazu kommen die Belastungen aus der Coronazeit. Viele Kinder und Eltern sind immer noch erschöpft.
Kinderpsychiaterinnen und -psychiater sagen, dass Schule sehr häufig der eigentliche Auslöser für psychische Erkrankungen sei.
Schule ist der Ort, an dem Kinder viel Zeit verbringen und mit vielfältigen Anforderungen konfrontiert werden: Sie müssen bestimmte Leistungen erbringen, sich in eine Gruppe einfügen, Regeln einhalten, Konflikte lösen. Psychische Belastungen, aber auch Probleme – zum Beispiel mit der Konzentrationsfähigkeit – werden in der Schule stärker sichtbar als zu Hause. Und so ist es dann häufig die Schule, die auf solche Probleme hinweist und Kontakte zu Ärztinnen oder Therapeuten initiiert.
Das klingt, als habe die Schule selbst keinen Effekt.
Bei psychischen Erkrankungen kommen immer mehrere Faktoren zusammen: genetische Belastung, Temperamentsmerkmale, fehlende Unterstützung aus dem Umfeld. Schule kann zur Gesamtbelastung beitragen, zum Beispiel wenn ein Kind unter- oder überfordert ist oder es von anderen ausgegrenzt wird.
Gleichzeitig wirkt Schule aber auch stabilisierend. Das wurde während der Coronapandemie deutlich, als es nur Distanzunterricht gab. Schule bietet Kindern eine vorhersehbare Alltagsstruktur, denn sie müssen jeden Tag hingehen. Sie sehen dort ihre Freundinnen und Freunde, somit ermöglicht Schule positive Beziehungen. Außerdem treffen sie dort auf Erwachsene, die ihnen wohlmeinend gegenübertreten, die ansprechbar sind, ihnen etwas zutrauen und Aufgaben stellen, die sie bewältigen können. Das alles kann unterstützend wirken.
Dem Deutschen Schulbarometer zufolge, einer repräsentativen Umfrage der Robert-Bosch-Stiftung zur Situation an Schulen, haben 35 Prozent der Kinder durch Corona Lernrückstände. Für sie bedeutet Schule eher Stress als Erfolg.
Lernrückstände können das Stresserleben erhöhen, das stimmt. Wichtig ist, dass die Schüler eine gute Balance zwischen Lernen und Erholung finden. Sie müssen den Stoff natürlich aufholen, aber die Belastung darf nicht so groß werden, dass es durch sie zu Lernblockaden kommt. Schulen schauen heute viel individueller auf das einzelne Kind. Es gibt zum Beispiel welche, die alternative Prüfungsformate wie Vorträge anbieten oder den Kindern ermöglichen, selbst zu entscheiden, wann sie bereit sind, eine bestimmte Prüfung abzulegen.
Manche Kinder setzen sich so unter Druck, dass sie in Tests einen Blackout haben und sich nicht auf die Aufgaben einlassen können. Hier kann die Schulpsychologie helfen. Hessen bietet zum Beispiel ein Programm zur Resilienzförderung und zur Stressbewältigung an, das in Israel entwickelt wurde. Speziell ausgebildete Schulpsychologen gehen in die Klassen und bringen den Kindern bei: Psychische Widerstandskraft ist wie ein Muskel, den man trainieren kann.
Haben alle Schulen gleichberechtigt Anspruch auf schulpsychologische Unterstützung?
Die schulpsychologische Versorgung wird von den Bundesländern unterschiedlich organisiert. In Hessen sind Schulpsychologinnen an die staatlichen Schulämter angegliedert, sie arbeiten also nicht direkt an den Schulen. Aber jede Schule weiß, wer für sie zuständig ist. Alle Schulen werden gleichwertig versorgt, denn es ist schwierig zu sagen: „Diese Schule hat mehr Bedarf als eine andere.“
Wissen die Schüler, dass sie sich an eine Schulpsychologin wenden können?
Manche Schulen kommunizieren sehr gut, dass es uns gibt und wie die Schülerinnen und Schüler uns erreichen können. Der einfachste Weg ist über die Lehrkräfte. Wir versuchen im Moment, über Onlinesprechstunden den Kontakt zu erleichtern. Dort behandeln wir ein Thema wie Prüfungsangst erst mal allgemein, danach gehen wir in Vieraugengesprächen auf die Fragen der Schülerinnen ein. Das wird gut angenommen. Ansonsten stehen die Kontaktmöglichkeiten auf den Websites der staatlichen Schulämter. Darüber kann jeder Schüler einen Termin vereinbaren. Meistens kontaktieren uns aber Lehrerinnen oder Eltern.
Mit welchen Anfragen melden sich Lehrkräfte typischerweise bei Ihnen?
In den meisten Fällen, weil sie sich Sorgen um einen Schüler machen. Die Leistungen lassen plötzlich nach oder sie kommen nicht mehr an ihn heran. Nehmen wir wieder das Beispiel des Siebtklässlers, der oft fehlte:
Der Lehrer schaltete einen Schulpsychologen ein, der den Eltern seine Unterstützung anbot. Die Beratung ist ja freiwillig. Es zeigte sich, dass die Mutter große Schwierigkeiten hatte, den Jungen zu motivieren, überhaupt zur Schule zu gehen. Wenn man so etwas früh bemerkt, kann Schule unterstützen. Der Lehrer kann zum Beispiel eine Gruppe von Schülern auswählen und gemeinsam mit ihnen überlegen: Wie könnte es dem Schüler besser gehen? Meistens haben die Jugendlichen gute Ideen, zum Beispiel: Wir könnten ihn auf dem Schulweg abholen.
Konflikte in der Klasse, Probleme mit dem Unterrichtsstoff: Solche Themen bearbeitet auch die Schulsozialarbeit. Wie grenzen sich die Professionen ab?
An vielen Schulen gibt es Teams, in denen Beratungslehrkräfte, Schulseelsorger, Sozialpädagoginnen und Sozialarbeiter eng zusammenarbeiten und sich um die Kinder kümmern. Sie holen uns im Einzelfall dazu, zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob ein Kind nur langsamer lernt als andere oder ob es aufgrund psychischer Belastungen nicht in der Lage ist, sich auf Schule zu konzentrieren. Schulpsychologinnen begleiten auch Intensivklassen, in denen geflüchtete Kinder unterrichtet werden. Hier erleben wir immer wieder, dass Kinder bei einem lauten Geräusch sofort panisch reagieren und quasi unter dem Tisch sitzen. Oder dass sie im Unterricht teilnahmslos wirken. Diese Kinder brauchen eine besondere Unterstützung.
Gibt es Aufgaben, die der Schulpsychologie vorbehalten sind?
Ja, wir müssen eingeschaltet werden, wenn ein Kind bei der Einschulung zurückgestellt werden soll oder bei einem Kind die Schulpflicht ruht. Das sind seltene Fälle, zum Beispiel bei einer schweren Erkrankung, bei der die Behandlung im Vordergrund steht. Außerdem werden wir in Krisensituationen gerufen, etwa bei Suizidalität. Ein großer Unterschied zu den anderen Professionen ist, dass Sozialpädagogen und Sozialarbeiter ihr Büro direkt an der Schule haben und die Kinder in aller Regel länger kennen. Wir kommen mit einem professionellen Blick von außen dazu.
Ist das ein Nachteil für Ihre Arbeit?
Nein. Manchmal gibt es Konflikte zwischen Lehrkräften und Schülern. Oder Eltern beklagen sich, weil sie den Eindruck haben, dass eine Lehrerin ihr Kind ungerecht behandelt. In solchen Fällen ist es gut, wenn wir als Dritte dazustoßen. Wir bringen mehr Neutralität mit. Das kann auch bei Konflikten im Kollegium helfen.
Wir sind ja nicht nur für einzelne Schülerinnen zuständig, sondern für das ganze System Schule. Unter anderem beraten wir Schulen beim Erstellen von Schutzkonzepten, beispielsweise gegen sexualisierte Gewalt. Und wir bieten Fortbildungen an, so etwa zu Teilleistungsstörungen wie der Lese-Rechtschreib-Schwäche. Lehrer können sich an uns wenden, wenn sie Probleme mit einer Klasse haben oder sich stark belastet fühlen.
Wie helfen Sie Kindern, die sich in einer psychischen Krise befinden?
Wir haben eine Lotsenfunktion und können Eltern darin unterstützen, eine Psychotherapie für ihr Kind zu organisieren. Leider haben wir keinen direkten Zugang zu Therapeutinnen, und es ist zum Teil sehr schwierig, einen Platz zu bekommen. In solchen Fällen können wir versuchen, die Wartezeit mit Beratungsgesprächen zu überbrücken. Wir können aber keine Psychotherapie ersetzen.
Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen fordert einen deutlichen Ausbau der Schulpsychologie. Der internationale Standard von einem Schulpsychologen pro 1000 Schüler müsse in allen Bundesländern angestrebt werden. In Deutschland liegt das Verhältnis bei 1 zu 5400.
Der workload für uns hat in den letzten Jahren zugenommen, das stimmt. Wir müssen priorisieren, welche Aufgabe besonders wichtig ist. Wenn ich einen Lehrer oder das Kollegium coache, profitieren davon möglicherweise sehr viele Schülerinnen. Aber es gibt auch Situationen, in denen wir uns um ein einzelnes Kind kümmern müssen, das Probleme hat. Akute Krisen haben immer Vorrang. Mehr Schulpsychologen könnten mehr Beratung anbieten. Es macht für Schulen tatsächlich einen Unterschied, ob wir da sind oder nicht.
Mit mehr Personal allein ist es aber nicht getan, es braucht auch gute Beratungskonzepte. Wir müssen zum Beispiel Hürden abbauen, damit sich mehr Schüler an die Schulpsychologie wenden. Die Onlinesprechstunden sind ein guter erster Schritt. Außerdem ist es wichtig, die Schnittstellen zwischen den Systemen so zu gestalten, dass es an den Rändern keine Abbrüche gibt.
Was meinen Sie damit?
Ein Kind war zum Beispiel über eine längere Zeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Entlassung aus der Klinik und der Übergang in die Schule müssen gut geplant werden. Soll das Kind wieder in seine frühere Schule gehen? Schafft es sechs Stunden Unterricht am Tag oder muss es langsamer anfangen? Wie kann die Schule unterstützen?
Es ist sinnvoll, einen runden Tisch mit allen Beteiligten einzuberufen – den Ärztinnen, Lehrkräften aus der Klinik und von der Schule, Eltern, Schulsozialarbeit –, um den Wiedereinstieg zu besprechen. Immer wenn unterschiedliche Stellen für unterschiedliche Hilfen zuständig sind, braucht es einen engen Austausch. Daran müssen wir noch arbeiten.
Die Bundesregierung plant in einem Modellprogramm, sogenannte Mental Health Coaches an besonders belastete Schulen zu schicken. Eine gute Idee?
Erst mal finde ich es positiv, Schülern zusätzliche Angebote zu machen, um ihre psychische Gesundheit zu stärken. Diese Hilfen müssen aber langfristig in der Schule verankert werden. Außerdem müssen wir darauf achten, dass Sozialarbeiter, pädagogische Fachkräfte, Schulpsychologinnen und Lehrkräfte gut zusammenarbeiten und sich kontinuierlich austauschen. Denn alle haben zwar ihre Zuständigkeiten, doch am Ende geht es immer um das gleiche Kind.
Anna Sedlak ist Psychologische Psychotherapeutin und Schulpsychologin. Sie arbeitet am Kompetenzzentrum Schulpsychologie Hessen, das an die Goethe-Universität Frankfurt am Main angegliedert ist.
Schulpsychologie in Zahlen
Im Jahr 1922 trat der erste Schulpsychologe in Deutschland seinen Dienst an: Hans Lämmermann in Mannheim
Für 5400 Schülerinnen und Schüler ist eine Schulpsychologin oder ein Schulpsychologe in Deutschland im Schnitt zuständig. Das Verhältnis schwankt je nach Bundesland: In Brandenburg und Niedersachsen ist die Relation 1 zu 9000, in Bayern und Berlin hingegen 1 zu 3500. In europäischen Nachbarländern wie Dänemark und der Schweiz hat eine schulpsychologische Person nur 500 bis 800 junge Menschen in ihrem Einzugsgebiet.
Rund 350 Lehrkräften steht ein Schulpsychologe hierzulande zur Verfügung
34 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland sagen, dass das Verhalten der Schülerinnen und Schüler derzeit zu den größten Herausforderungen in ihrem Beruf zählt. Das ergab im Jahr 2023 eine Umfrage unter mehr als 1000 Lehrkräften.
Quellen
Klaus Seifried: Versorgungszahlen 2022 – Schulpsychologinnen und Schulpsychologen in den Bundesländern. Aktuelle Befragung der Kultusministerien der Länder unter Verwendung von Daten des Statistischen Bundesamts, Stand 2022. Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, Sektion Schulpsychologie 2022
Das Deutsche Schulbarometer. Aktuelle Herausforderungen aus Sicht der Lehrkräfte. Ergebnisse einer Befragung von Lehrkräften allgemein- und berufsbildender Schulen. Robert-Bosch-Stiftung 2023