25 Antworten auf Fragen zu Depressionen bei Kindern und Jugendlichen

Schulpsychologin Munk-Oppenhäuser und Kinder- und Jugendpsychiater Kölch geben Antworten auf 25 Fragen der Zuschauerinnen und Zuschauer des Psychologie Heute Live-Talks

Reden und Zuhören sind wichtig, doch manchmal bedarf es zusätzlich der Hilfe von geschulten Experten. © Anchiy/Getty Images

Die 9-jährige Mia verkriecht sich tagelang in ihrem Zimmer, sie klagt über Bauchschmerzen und ist nur noch auf TikTok. Benjamins Noten sind besorgniserregend, dabei war er mal so ein guter Schüler. Frieda bewirbt sich nach dem Schulabschluss nicht für einen Ausbildungsplatz, ihr Leben, so sagt sie, sei ohnehin total blöd und sinnlos.

Ist das Kind oder der Jugendliche nur traurig oder schon depressiv? Kann Mobbing Depressionen bewirken? Wie lässt sich eine lange Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken?…

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Die 9-jährige Mia verkriecht sich tagelang in ihrem Zimmer, sie klagt über Bauchschmerzen und ist nur noch auf TikTok. Benjamins Noten sind besorgniserregend, dabei war er mal so ein guter Schüler. Frieda bewirbt sich nach dem Schulabschluss nicht für einen Ausbildungsplatz, ihr Leben, so sagt sie, sei ohnehin total blöd und sinnlos.

Ist das Kind oder der Jugendliche nur traurig oder schon depressiv? Kann Mobbing Depressionen bewirken? Wie lässt sich eine lange Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken? Was können Eltern, Lehrkräfte und Sozialarbeiterinnen für die Heranwachsenden tun, um sie zu unterstützen? Über diese Fragen hat Psychologie Heute-Chefredakteurin Dorothea Siegle am 19.9.2023 mit dem Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeut Prof. Dr. Michael Kölch und Schulpsychologin Dr. Viktoria Munk-Oppenhäuser via Zoom gesprochen.

In dem 90-minütigen Live-Talk konnten nicht alle Fragen der Zuschauerinnen und Zuschauer beantwortet werden. Wir haben die häufigsten Chat-Fragen zusammengefasst und sie den beiden Experten im Nachgang gestellt – hier sind ihre Antworten.

Fragen zu Risikofaktoren und Auslösern

Kann Mobbing eine Depression auslösen?

Kölch: Ja. Sehr häufig berichten Patienten davon, dass sie in der Schule gemobbt wurden. Ständige negative Erlebnisse, sozial ausgeschlossen zu sein und von anderen niedergemacht zu werden, das kann zu Krankheit führen.

Munk-Oppenhäuser: Schweres und langanhaltendes Mobbing kann durchaus zur Entstehung einer Depression beitragen. Es müssen noch andere Risikofaktoren hinzukommen. Für viele gemobbte Kinder und Jugendliche ist das eine heftige Belastung und wirklich schlimm. Nicht selten wird Mobbing durch eine unbedachte Äußerung, ein Foto oder Video in den Sozialen Medien ausgelöst, über das sich die anderen lustig machen und dann eine Ausgrenzung stattfindet. Die Perspektive der Betroffenen ist oft eingeengt und wird als ausweglos empfunden. Daraus kann sich eine depressive Symptomatik entwickeln.

Welche Faktoren bewirken Resilienz und mindern das Krankheitsrisiko?

Kölch: Wir wissen, dass Menschen mit der Persönlichkeitseigenschaft Extraversion einem geringeren Krankheitsrisiko unterliegen. Das liegt unter anderem daran, dass sie eher nach außen gerichtet sind und dadurch leichter mit anderen in Kontakt treten können. Introvertierte ziehen sich eher zurück und bekommen dadurch leider weniger Hilfe. Günstig wirkt sich ein zugewandtes, unterstützendes und optimistisches Klima in der Familie aus. Auch eine soziale Einbindung in einen verlässlichen Freundeskreis hat einen positiven Einfluss. Vertrauensvolle und stabile Beziehungen sind ein wirksamer Resilienzfaktor, unabhängig vom Lebensalter.

Welche Wechselwirkung besteht zwischen unserer genetischen Ausstattung und unserem sozialen Umfeld? Was passiert mit den Kindern und Jugendlichen, wenn die Eltern selbst psychisch erkranken?

Kölch: Kinder reagieren stark auf das elterliche Verhalten. Es kann zum Beispiel sein, dass ein depressiver Vater oder eine depressive Mutter nicht in der Lage sind, aufgrund der Erkrankung einfühlsam auf das Kind einzugehen. Kommt dann das Kind aus der Schule nach Hause und berichtet von einer guten Schulnote, kann es sein, dass Eltern emotional nicht so positiv reagieren wie Nicht-Erkrankte. Es kann sein, dass sie keine Freude zeigen oder nicht entsprechend darauf eingehen. Da kommt dann kein: „Super, dass du das geschafft hast.“ Durch die eingeschränkten elterlichen Erziehungs- und Beziehungskompetenzen können bei den Kindern typische psychische Auffälligkeiten entstehen.

Die Entstehung von psychischen Krankheiten ist multifaktoriell, es gibt nicht den einen Auslöser. Die genetische Ausstattung spielt eine Rolle. Oftmals aber kommen diese Faktoren erst im späteren Leben zum Tragen, auch aufgrund der Erfahrungen, die gemacht wurden. Entscheidend für die Entstehung einer Krankheit ist die Gen-Umwelt-Interaktion, die sehr komplex ist. Schuldzuweisungen an die Eltern sind in diesem Zusammenhang nicht sinnvoll.

Wirken sich Risikofaktoren in jungen Jahren stärker aus?

Kölch: Generell sind die Risikofaktoren für eine Erkrankung über den Lebensverlauf hinweg die gleichen. Bei einer entsprechenden Veranlagung können ungünstige Umweltfaktoren, beispielsweise belastende Lebensereignisse, eine Depression auslösen. Die widrigen Ereignisse in der Kindheit und Jugend sind andere als im Erwachsenenalter, die Mechanismen der Krankheitsentstehung hingegen nicht.

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Hier finden Sie das Video des Psychologie Heute-live!-Veranstaltung „Depressionen bei Kindern und Jugendlichen“

Einen breiteren Blick auf das Thema hat der digitale Live-Talk „Psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen“ geworfen, in dem ebenfalls Prof. Dr. Michael Kölch als Experte Auskunft gab

Das FAQ zu dieser Veranstaltung finden Sie hier

Michael Kölch hat zudem für das compact 74 „Depressionen bewältigen“ einen Text über Depressionen bei Kindern und Jugendlichen geschrieben: „Kleine Menschen, große Traurigkeit

Über Diagnosen und Dunkelziffern

Vermutlich existiert eine hohe Dunkelziffer an depressiven Jungen und Männern, da das Krankheitsbild aufgrund bestimmter sozialer Geschlechtererwartungen nicht erkannt wird: Jungen und Männer dürfen keine Schwäche zeigen, sie haben stark zu sein. Was muss sich gesellschaftlich ändern, damit sich dieses strukturelle Problem bessert?

Kölch: Es gibt eine gewisse Dunkelziffer an nicht diagnostizierten Depressionen bei Personen des männlichen Geschlechts. Wie groß diese ist, lässt sich schwer sagen. Was die Prävalenz, also das Auftreten von Depressionen betrifft, herrscht Studien zufolge keine Gleichverteilung. Mädchen und Frauen erkranken häufiger an Depressionen. Fraglos spielen tradierte Erwartungen und Verhaltensmuster an die Geschlechter eine Rolle, Jungen und Männer können nicht so gut über Gefühle sprechen wie Mädchen oder Frauen. Doch das ändert sich seit einigen Jahren, wir erleben hier einen Wandel dieser stereotypen Zuschreibungen. Über psychische Gesundheit wird immer offener gesprochen, sie wird häufiger durch Kampagnen thematisiert, das führt nicht nur zu mehr Aufklärung in der Bevölkerung, sondern auch zu einer Entstigmatisierung.

Wie hoch ist das Risiko, dass sich eine leichte, unbehandelte Depression im Jugendalter zu einer schweren Depression im Erwachsenenalter entwickelt?

Kölch: Mir ist wichtig zu sagen: Wir können das individuelle Risiko, psychisch zu erkranken, nicht vorhersagen. Wir wissen, dass Depressionen im weiteren Lebensverlauf zu ungefähr 40 Prozent wieder auftreten können, aber auch der Zeitpunkt lässt sich nicht vorhersagen.

Welche Differentialdiagnosen gibt es für die Depression, welche körperlichen Ursachen verursachen eine ähnliche Symptomatik?

Kölch: Das könnte beispielsweise eine Schilddrüsenfehlfunktion oder eine onkologische Erkrankung sein, also beispielsweise ein Tumor. Auch dabei fühlen wir uns schlapp und antriebslos. Eine körperliche Differentialdiagnostik ist zwingend notwendig vor einer Therapie.

Welche Therapien und Medikamente eignen sich?

Empfiehlt sich bei Depressionen eine Verhaltenstherapie oder eine Gesprächstherapie?

Kölch: Für die Verhaltenstherapie besteht die höchste Evidenz, sie gilt als wirksamste Form der Behandlung. Daher sind die verschiedenen Varianten der Verhaltenstherapien zu bevorzugen.

Eltern stehen der Behandlung ihrer Kinder mit Psychopharmaka wie etwa Antidepressiva häufig skeptisch gegenüber, da sie eine Abhängigkeit befürchten. Stellen Phytopharmaka wie Johanniskraut eine sinnvolle Alternative dar?

Kölch: Man kann klar sagen: Antidepressiva machen nicht abhängig. Es gibt Kriterien, wann eine Medikation mit Antidepressiva stattfinden sollte, beispielsweise dann, wenn die Patientin oder der Patient nicht auf eine psychotherapeutische Behandlung ansprechen, wenn eine schwergradig depressive Episode vorliegt oder wenn es zu einer starken Beeinträchtigung der sozialen Teilhabe kommt. Phytopharmaka wie Johanniskraut führen auch zu Nebenwirkungen, zudem ist deren Wirksamkeit im Kindes- und Jugendalter nicht nachgewiesen. Antidepressiva werden eher selten im Kindesalter verabreicht, sondern meist erst im Jugendalter. Psychopharmaka wie Metylphenidat werden auch schon früher bei einer Diagnose wie ADHS verschrieben.

Was halten Sie von der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln wie 5HTP-Aminosäure? Kann man so Einfluss auf den Serotoninspiegel nehmen, der ja bei Depressionen relevant ist?

Kölch: Bezüglich Nahrungsergänzungsmitteln muss man vorsichtig sein: Es ist nicht belegt, dass sie eine Wirkung im Kindes- und Jugendalter bei depressiven Störungen haben. Generell sind die neurobiologischen Grundlagen sehr komplex. Insofern würde ich einem Kind oder Jugendlichen keine solchen Nahrungsergänzungsmittel einfach so geben.

Ablauf und Erfolgschancen von stationärer Behandlung

Wie läuft eine stationäre Behandlung von Depressionen ab? Wie lange dauert diese in der Regel, wenn noch eine soziale Phobie vorliegt? Und wie sieht die anschließende ambulante Behandlung aus?

Kölch: Jede Behandlung variiert, sie muss jeweils auf die Patientin abgestimmt sein. Im Durchschnitt dauert der stationäre Aufenthalt zwei bis drei Monate, je nach Krankheitsbild. Eine stationäre Behandlung ist multiprofessionell angelegt, das heißt, nicht nur die Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater sind beteiligt, sondern auch der Pflege- und Erziehungsdienst, die Kunst- und Bewegungstherapeutinnen, die Sozialarbeiter. Es geht dabei um Schlaf-Rhythmisierung, die Aktivierung der Patientinnen, um soziale Interaktion. Und natürlich um die individuelle Behandlung, die dazu geführt hat, dass jemand depressiv wird oder an einer Angststörung erkrankt ist.

Wichtig ist auch, die Eltern und die Bezugspersonen miteinzubeziehen. Normalerweise gehen die jungen Patienten am Wochenende nach Hause zu ihren Familien, sie können in der Klinik auch besucht werden. Die Schule soll weiterhin besucht werden, weshalb es Klinikschulen gibt. Die Patientinnen sollten nicht über lange Zeit aus ihrem Umfeld genommen werden.

An den stationären Aufenthalt schließt sich meist eine ambulante psychotherapeutische Behandlung oder eine Weiterbehandlung in einer psychiatrischen Institutsambulanz an.

Wie sind die Erfolgsaussichten eines stationären Aufenthalts, wenn die Jugendliche auch noch unter einer sozialen Phobie leidet?

Kölch: Generell sind die Erfolgssichten bei beiden Krankheitsbildern erfahrungsgemäß gut. Das ist unser Tagesgeschäft.

Pubertätslaune oder Depression?

Ist es für Eltern ratsam, die Stimmungsschwankungen bei Teenagern einfach „auszusitzen“, bis die Pubertät vorüber ist?

Kölch: Sofern es um normale Stimmungsschwanken geht, „sitzen“ Eltern diese im Alltag aus. Aber es geht um Differenzierung: wie stark sind die Stimmungsschwankungen, wir lange dauern sie schon an? Was sind die begleitenden Symptome und sonstigen Problematiken; wie beispielsweise Schulabsenz? Wie ist die Beeinträchtigung im alltäglichen Leben? Haben Eltern zum Beispiel eine Tochter, die gereizt, schwierig und launisch ist, die aber ihre Schule meistert und Freundschaften pflegt, dann ist das zwar anstrengend für die Familie, aber nicht behandlungsbedürftig. Dann reicht es, wenn die Eltern sich an eine Familienberatungsstelle wenden, um Lösungsstrategien zu bekommen, die im Umgang mit dem Nachwuchs hilfreich sind.

Kommen zu den Stimmungsschwanken aber weitere Probleme hinzu, etwa abfallende Leistungen in der Schule, sozialer Rückzug oder weitere veränderte Verhaltensweisen, dann sollten Eltern das nicht aussitzen, sondern genauer hinsehen. Dann müssten eine Kinderärztin, eine Schulpsychologin, Familienberaterin oder eine Therapeutin hinzugezogen werden.

Wie lässt sich bei Heranwachsenden, die eine nahestehende Person durch Tod verloren haben, eine tiefe Trauer von einer Depression unterscheiden?

Munk-Oppenhäuser: Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Trauer lässt sich nicht messen, wir können nicht sagen: Nach einem Jahr ist es jetzt gut damit. Gerade bei Kindern und Jugendlichen kann das schwanken, die Trauer kommt und geht in ihrer Intensität. Da gibt es dann Tage, da denkt man: Wie gut, jetzt ist derjenige oder diejenige über die stärkste Trauer hinweg. Und dann kommt sie wieder.

Ich würde darauf schauen: Kann nach einer gewissen Zeit die eigentliche Entwicklungsaufgabe von der Betroffenen wieder erfüllt werden? Ist der Schulbesucht möglich? Treffen mit Freunden? Wird ein Hobby wieder betrieben? Vielleicht nicht jeden Tag, ab und zu braucht man ja auch eine Höhle, in die man sich verkriechen kann. Geht aber nach den ersten Wochen des Schocks nichts davon, dann würde ich eine Kinder- und Jugendpsychologin hinzuziehen.

Lange Wartezeiten und Mangel an Therapieplätzen

Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind derzeit oft mehrere Monate lang. Welche Online-Programme sind für Kinder- und Jugendliche nachweislich geeignet, um diese Zeit zu überbrücken?

Kölch: Mittlerweile existieren gute und wirksame Digital-Programme, wie etwa iFightDepression oder Fideo – Stark gegen Depression mit ihren verschiedenen Angeboten wie Selbsthilfegruppen oder Tools, die aktivieren. Die Jugendlichen werden unter anderem auch angeleitet, ein Stimmungstagebuch zu führen. Diese Programme sind kostenlos und können einiges bewirken.

Wäre es angesichts der langen Wartezeiten auf eine Psychotherapie nicht sinnvoll, Heilpraktikerinnen für Psychotherapie hinzuzuziehen?

Kölch: Ganz klar: Nein! Ich bin ein Vertreter der Wissenschaft und ich weiß, dass Heilpraktiker im Vergleich zu Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendpsychiatern nicht ausreichend ausgebildet sind. Auch die Fachgesellschaften stehen dem Einsatz von Heilpraktikerinnen kritisch gegenüber und lehnen ihn ab. Klinische Therapeutinnen studieren an einer Hochschule und absolvieren danach eine mindestens dreijährige Ausbildung sowie Supervision.

Welche Informationsquellen eignen sich für einen Teenager mit Schulabsentismus, der sich einer Diagnose und fachlichen Konsultation verweigert?

Kölch: Empfehlenswert ist die umfangreiche Website ich bin alles der Kollegen von der LMU München, die sich speziell an junge Menschen richtet.

Wie kann die Schule unterstützen?

Mobbing findet häufig im schulischen Umfeld statt. Wie kann die Schule insgesamt einen positiven Einfluss auf die Gesundheit der Kinder nehmen?

Munk-Oppenhäuser: Sinnvoll ist es, sich im Kollegium zu fragen: Wie setzen wir die Klassen zusammen? Wie empfangen wir die Schülerinnen und Schüler in den ersten Tagen? Welche Übungen bieten sich an, dass eine Team-Entwicklung angeregt wird? Im Kern geht es für die Lehrkräfte darum, die Gruppendynamik zu steuern und sie stetig im Blick zu behalten. Ich empfehle für die Grundschule das Meisterklassen-Projekt von Ben Furman, das kostenlos online ist. Der finnische Psychiater und Psychotherapeut hat ein spielerisches Programm mit vielen Übungen entwickelt, durch die das Sozialverhalten in den Klassen und der Selbstwert der Schülerinnen und Schüler gefördert wird.

Hierzulande sind Programme für social and emotional learning leider noch nicht so weit verbreitet wie in anderen Ländern, obwohl sie hervorragende Möglichkeiten bieten, den Schülerinnen den Umgang mit den eigenen Emotionen und Bedürfnissen näher zu bringen. Das wirkt sich positiv auf die Interaktionen in den Klassen aus.

Auf den Lehrkräften lastet nicht erst seit der Corona-Pandemie enormer Druck. Es herrscht ein Mangel an Lehrkräften, einigen Kindern mangelt es an sprachlichen Fähigkeiten, Lernstörungen oder Krankheiten wie ADHS erschweren den Unterricht. Wie verträgt sich das mit zusätzlichen Interventionen, wie Sie sie vorschlagen?

Munk-Oppenhäuser: Dafür habe ich vollstes Verständnis, die Belastungen der Lehrerinnen sind enorm. Dennoch braucht es in der Schule und im Kollegium eine gemeinsame Idee: Wie kriegen wir die Schüler lebensfähig? Das erfordert eine gezielte Förderung der Selbst- und Sozialkompetenzen von Kindern und Jugendlichen. Dafür ist es wichtig, die Netzwerkpartner mit ins Boot zu holen, die Schulsozialarbeitenden, Schulpsychologinnen und natürlich die Eltern, damit alle an einem Strang ziehen. Nur so entstehen eine konstruktive Zusammenarbeit und ein gutes Klima an den Schulen.

Können Sie auch ein Trainings-Programm für Sekundarschulen benennen?

Munk-Oppenhäuser: Gemeinsam Klasse sein von der Krankenkasse DAK finde ich hervorragend, das Projekt eignet sich ab der sechsten Klasse. Ebenfalls gut ist Lions-Quest, ein Präventions- und Life-Skills-Programm für Heranwachsende.

Es mangelt eindeutig nicht an wirksamen Programmen und Interventionen, sondern an deren Einsatz. Ich führe den Lehrkräften gegenüber Folgendes an: Wenn Sie es nicht in die Hand nehmen, findet Gruppendynamik und die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendliche so oder so statt, nur eben ungesteuert. Die Krisen, Konflikte und Probleme, die daraufhin zwangsläufig entstehen, müssen dann gelöst werden, was ebenfalls sehr viel Zeit und Energie erfordert. Deshalb ist es sinnvoll, strukturiert und proaktiv vorzugehen, damit für alle ein positives soziales Klima in der Schule geschaffen wird.

Die wenigsten Schulen beschäftigen eigene Schulpsychologen, es mangelt an Versorgungskapazitäten. Wie geht eine Lehrkraft vor, wenn sie Auffälligkeiten bei einem Schüler oder einer Schülerin bemerkt, die auf eine depressive Erkrankung hindeuten?

Munk-Oppenhäuser: Zuerst würde ich meine Beobachtungen mit den Kolleginnen, die das Kind oder den Jugendlichen ebenfalls unterrichten, abgleichen. Das Verhalten und die Leistung variieren von Fach zu Fach und von Lehrkraft zu Lehrkraft häufig stark. Verfestigt sich das Bauchgefühl, würde ich bei jüngeren Kindern recht schnell die Eltern einbinden und ihnen meine Beobachtung und Sorge mitteilen. Handelt es sich um eine Schülerin, die schon 12, 13 Jahre alt ist, würde ich das direkte Gespräch suchen. Erhärtet sich dann der Verdacht, dass etwas nicht stimmt, würde ich die Eltern informieren und mit ihnen sprechen.

Welche Anzeichen sollten Lehrkräfte und Erzieherinnen hellhörig machen?

Munk-Oppenhäuser: Für mich wäre die Frage: Verändert sich das Verhalten einer Person oder ist es kongruent? Entscheidend ist auch die Zeitspanne; nach vier bis sechs Wochen würde ich etwas unternehmen. Stutzig machen sollten einen der Rückzug der Schülerin in den Pausen, Alleinsein auf dem Schulhof und wenn sie nur noch mit dem Handy beschäftigt ist. Auch ein deutlicher Leistungsabfall in mehreren Fächern, Gereiztheit, keine Antworten und erhöhte Fehlzeiten sind ein Hinweis. Da muss eine Lehrkraft reagieren.

Was sollte ein Vertrauenslehrkraft im Gespräch mit einer depressiven Schülerin oder einem depressiven Schüler beachten?

Munk-Oppenhäuser: Nicht hilfreich sind Bagatellisierungen wie beispielswese „Das wird schon wieder“, „Alles halb so schlimm“ oder „Jetzt stell´ dich nicht so an“. Geht es um Suizidgedanken oder -versuche, sind moralische Appelle wie „Das kannst du deinen Eltern nicht antun“ oder „Du bist doch noch so jung“ kontraproduktiv.

Sinnvoller wäre es, Fragen zu stellen, wie sich die Schülerin oder der Schüler fühlen, was sie oder ihn belastet oder ängstigt. Gemeinsam gilt es herauszufinden, was helfen könnte oder wer miteinbezogen werden kann. Empathisches Zuhören ist der beste Weg; wachsam da sein und Hilfe anbieten schafft ein vertrauensvolles Verhältnis.

Welche Möglichkeiten haben Sozialpädagoginnen in der ambulanten Familienhilfe, depressive Kinder und Jugendliche zu unterstützen?

Munk-Oppenhäuser: Man kann den Kindern und Jugendlichen immer wieder positive Angebote machen, mit ihnen über ihre Stärken sprechen, sie fragen, was sie gerne unternehmen würden, damit es ihnen besser geht. Die Sozialpädagogen sollten versuchen, den Kreislauf von „Ich kann nicht, ich will nicht, ich bleibe hier liegen“ zu durchbrechen, der so typisch für die Erkrankung ist. Auch wenn das Angebot nicht gleich angenommen wird, sollte man dranbleiben. Wichtig ist auch: Jede positive Aktion eines Kindes oder einer Jugendlichen, und sei sie noch so klein, sollte gelobt und positiv verstärkt werden. Selbstwert ist ein entscheidender Einflussfaktor.

Welchen Einfluss haben die Sozialen Medien?

Teilen Sie die Befürchtung einiger Eltern, die der Meinung sind, Social Media romantisiere bei Jugendlichen Depressionen aufgrund verzerrter Darstellungen oder gegenseitiger Verstärkung?

Munk-Oppenhäuser: Ich denke, das ist eine zu einsichtige Sichtweise, ich würde Soziale Medien nicht so verteufeln. Dort finden sich sowohl Desinformationen als auch verlässliche Informationen über psychische Erkrankungen. Je nachdem wie der Inhalt auf Instagram oder TikTok ausgerichtet ist, kann er die Betrachter herunterziehen und deprimieren oder eben auch aufbauen und unterstützen. Die Betroffenen können sich auf Plattformen austauschen und sehen, dass sie nicht allein mit ihren Problemen sind. Eine Verschlimmerung des Zustands durch Social Media setzt meiner Meinung nach eine vorhandene Grundvulnerabilität voraus.

Mehr über die Expertin und den Experten

Dr. Viktoria Munk-Oppenhäuser ist Diplom-Psychologin und Dozentin an der FSU Jena und der Universität Erfurt. Seit 2002 ist sie Referentin für Schulpsychologie an verschiedenen Ausbildungseinrichtungen. Derzeit ist sie Referatsleiterin „Schulenentwicklung, Lehrerbildung, Schulpsychologischer Dienst“ am Staatlichen Schulamt Ostthüringen. Sie ist zertifizierte Notfallpsychologin und arbeitet als Supervisorin und Coach.

Prof. Dr. Michael Kölch ist Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsmedizin Rostock. Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie ist zudem stellvertretender Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er gilt als Experte für Stress- und Traumata bei Heranwachsenden. Desweiteren beschäftigt er sich mit Fehlentwicklungen und Interventionsmöglichkeiten von sogenannten Problemkids und betreibt Verlaufsforschung von Kindern psychisch kranker Eltern. Der Universitätsprofessor ist an verschiedenen Projekten im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie beteiligt.

Weiterführende Links und Anlaufstellen

FIDEO – Stark gegen Depression, Online-Programm

Stiftung „Achtung! Kinderseele“ zur Aufklärung rund um die seelische Gesundheit von jungen Menschen

Informationsportal „Neurologen und Psychiater im Netz“ zu psychischen Gesundheit

Infoportal „Ich bin alles“ zu Depression der Ludwig Maximilians Universtität:

Podcast: Redelust und Schweigepflicht

Programm Meisterklassen von Ben Furmann

Lions-Quest Lebenskompetenz-Programm für junge Menschen

Schulpsychologische Dienste in den Bundesländern

Ansprechpartnerinnen in der Schule: Klassenlehrer (selbst beobachten bzw. einbinden; achtsames Ansprechen); Beratungslehrkraft der Schule, Schulsozialarbeit kann i.d.R. ebenso Gesprächsangebote formulieren / Präventionsprojekte organisieren

Eigenen Kinderarzt einbinden (ggf. ärztliche Vermittlung: Telefon 116117) – sofern keine akute Suizidalität

Kostenfreie Familien- und Lebensberatungsstellen in den Kommunen

Sozialpsychiatrische Zentren bzw. Ambulanzen der Kinder- und Jugendpsychiatrien