Verführbarer Glaube und religiöser Missbrauch

Mit ihrem neuen Buch möchte Stephanie Butenkemper helfen, sexuellen und emotionalen Missbrauch in kirchlichen Gemeinschaften zu erkennen und verhindern.

Der Anspruch der Autorin ist hoch: Mit ihrem Buch will sie einen ideologisch gerechtfertigten Machtmissbrauch erkennen, verhindern und heilen helfen. Nachdem vor einem Jahrzehnt sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche in vielen Fällen ans Licht kam, sind zahlreiche Forschungsprojekte, Beratungsansätze und Präventionsmaßnah­men eingerichtet worden. Seit kurzem wird klarer, dass den meisten Fällen von sexuellem Missbrauch ein geistiger und/oder geistlicher Missbrauch vorausgeht.

Stephanie Butenkemper, Sozialpädagogin und systemische Therapeutin, ist für dieses Thema qualifiziert, weil sie nicht nur viele Betroffene beraten und begleitet hat, sondern selbst von der destruktiven Macht fehlgeleiteten Glaubens betroffen war. Die Praxisnähe und persönliche Offenheit der Autorin kommen dem gut lesbaren und klar strukturierten Buch zugute und erleichtern das Verständnis für dieses vielschichtige und persönliche Thema.

Schäflein unterdrücken, manipulieren und ausnutzen

Gefährliche Seelenführerinnen und Seelenführer sind kein neues Phänomen. So wie der Begriff „Fundamentalismus“ auf die wortwörtliche Bibelauslegung amerikanischer Evangelikaler Anfang des letzten Jahrhunderts zurückgeht, erinnert Butenkemper an die Tatsache, dass dort schon Anfang der 1990er Jahre Pastoren warnende Studien zum freikirchlichen Machtmissbrauch vorgelegt haben. Jetzt sei das Thema auch in der katholischen Kirche angekommen.

Mit Gruppenbeispielen und Fallberichten aus ihrer Beratungspraxis verdeutlicht sie das zerstörerische Potenzial pastoraler Praktiken.

Als Unterform von emotionalem Machtmissbrauch benutze eine geistlich anerkannte Person beim geistlichen Missbrauch ihre „Schäflein“ dazu, diese nach eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu unterdrücken, zu manipulieren und auszunutzen. Dieser Prozess geschehe häufig subtil, schleichend und meist ohne vorsätzlich böse Absicht. Besonders gut könne er sich in religiösen Gemeinschaften entfalten, die ideell hochaufgeladen seien und strenge moralische Regeln verträten.

Mit Wahrheitsmonopol die Angst aufladen

Psychodynamisch sind für die Autorin bei einem geistlichen Missbrauch besonders die Kräfte der Idealisierung und Entwertung im Spiel, die zum unreifen Abwehrmechanismus der Spaltung führten, um die erlebten Spannun­gen des Schwarz-Weiß-Denkens aushalten zu können. Überzeugend weist sie nach, dass diese aus den Sekten­debatten der 1980er und 1990er Jahre bekannten Dynamiken auch in anderen weltanschaulichen Milieus stattfinden.

Hochaktuell überträgt Butenkemper den emotionalen Missbrauch in manchen kirchlichen Gemeinschaften auf säkulare Gruppen. An Beispielen aus der Pädagogik (Odenwaldschule), dem Leistungssport und dem Klimaschutz (Letzte Generation) zeigt sie eindrücklich auf, dass dort gezielt Angst geschürt werde, die Sprache religiös aufgeladen sei, mit dem Wahrheitsmonopol argumentiert werde und dadurch mentale Manipulation stattfinde. Das Machtfeld des spirituellen Coachings behandelt die Autorin leider nicht, obwohl es den gleichen Regeln folgt.

Selbst Heilsamkeit wirft Schatten

Weitere Kapitel widmen sich den psychischen Folgen spiritueller Traumatisierung und der Psychologie der meist männlichen Täter, deren Profil als unsicher und narzisstisch charakterisiert wird. Im letzten Teil kommen die Herausforderungen der psychologischen Beratung Betroffener und die Prävention zur Sprache. Den abschließenden Handlungsempfehlungen kann man nach der Lektüre des Buches nur zustimmen.

Die weitere Erforschung des geistlichen Missbrauchs könnte die Grenzen zwischen positiver Ermutigung und mentaler Manipulation besser verständlich machen. Dabei sollten die Erkenntnisse der Sektenforschung der letzten Jahrzehnte einbezogen werden, fordert Butenkemper. Leider hat sie selbst bereits vorhandene Ansätze der Sektenberatung nicht aufgegriffen. Auch die Ergebnisse ihrer eigenen Studie bleiben auf dem knappen Raum eines Kapitels unklar.

Trotz dieser kleinen Mängel liefert das Buch einen wichtigen Impuls für die Religionspsychologie, die in den letzten Jahren oft einseitig die heilsamen Wirkungen des Glaubens belegt und dabei die Schattenseiten übergangen hat. Weil die menschliche Glaubensfähigkeit anfällig für mentale Manipulation ist, sind besondere beraterische Vorgehensweisen für Betroffene erforderlich, die hier verständlich vermittelt werden und nicht nur geschlossene religiöse Gruppen betreffen.

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