„Die Versorgungslage für Kinder und Jugendliche ist katastrophal.“

Corona-Pandemie: Vor allem die Jüngsten wurden enorm belastet. Die therapeutische Versorgung bleibt jedoch starr, das stört Hanna Christiansen.

Die Corona-Pandemie führte bei Kindern und Jugendlichen zu schwerwiegenden psychischen Belastungen. Die Lockdowns dauerten extrem lange, niemand wusste, wie viele Menschen sich anstecken würden, wann Lockerungen möglich sein würden.

Verstärkt wurde dies durch Schulschließungen, Distanzunterricht, soziale Isolation und familiären Stress. Eine Reihe von Studien und Meta-Analysen zeigt, dass depressive, Angst- und Essstörungen sowie Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen während der Pandemie deutlich zugenommen haben. Die psychotherapeutische Versorgung müsste in dieser Lage innovativ und flexibel sein. Doch das Versorgungssystem ist starr.

Die Wartezeiten sind unzumutbar

Der Politik und den Krankenkassen sind diese Daten gut bekannt. Aber die aktuelle psychotherapeutische Versorgung für Kinder und Jugendliche ist katastrophal. In Ambulanzen und privaten Praxen warten sie und ihre Familien extrem lange auf einen Therapieplatz – in der Marburger Ambulanz, in der ich tätig bin, können wir beispielsweise die nächsten freien Termine erst für April 2024 vergeben. Das ist unzumutbar.

Störungen des Kindes- und Jugendalters sind Schrittmacher für die psychische Gesundheit im Erwachsenenalter – 50 Prozent aller psychischen Störungen manifestieren sich vor dem 15. Lebensjahr, 75 Prozent vor dem 25. Wenn wir es verpassen, in jungen Jahren rechtzeitig und effektiv zu intervenieren, sind Erkrankungen im späteren Leben vorprogrammiert, insbesondere wenn sie auf weitere Risikofaktoren treffen wie beispielsweise soziale Diskriminierung oder Familien mit Belastungen. Das ist eine Bugwelle, die wir vor uns herschieben.

Was wir stattdessen brauchen, sind flexible Behandlungs- und Abrechnungsmöglichkeiten. Ein- bis dreimal pro Woche 50 Minuten Therapie ist bei vielen Störungen völlig unzureichend. Kinder und Jugendliche und Therapeutinnen und Therapeuten brauchen die ersten fünf Minuten fürs Ankommen, sich einschwingen; weitere fünf Minuten benötigen sie, um die Sitzung zusammen abzustimmen; und am Ende sind fünf Minuten zum Spielen und zum Ausklang notwendig – somit bleiben unterm Strich 35 Minuten für die eigentliche Therapie. Wenn dann Krankheit, Feiertage, Ferien oder Klassenfahrten dazwischenkommen, können zwischen manchen Terminen mehrere Wochen liegen. Anschließend kann man mit der Therapie direkt wieder von vorne anfangen.

Mit der Systemstarre ist niemanden geholfen

Sinnvoll wäre eine intensive Intervalltherapie, beispielsweise in bestimmten Einheiten: Diese könnten einen halben Tag umfassen, mehrere Termine pro Woche oder auch tägliche hochfrequente Sitzungen, um Probleme schnell zu reduzieren und im Anschluss in ein niederfrequentes Setting zur Stabilisierung überzugehen. Das ist bei den aktuellen Abrechnungsstrukturen nicht möglich, aber dringend angeraten.

Wenn sie einen Sechsjährigen mit ADHS nur einmal pro Woche 35 Minuten gezielt behandeln können, wie lange soll die Therapie dann dauern? Wir können nicht weitere anderthalb Jahre an so einem jungen Menschen „herumdoktorn“, wenn es eigentlich schnell gehen muss. Damit ist niemandem geholfen.

Hanna Christiansen ist Psychologin und Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie am Fachbereich Psychologie der Universität Marburg.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2023: Paartherapie
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