„In einer Leistungsgesellschaft ist die Diagnose ADHS auch eine Möglichkeit, sich zu schützen“

Immer mehr Menschen finden sich in der Diagnose ADHS wieder. Warum ist das so? Psychotherapeutin Karoline Klemke beantwortet unsere Fragen.

Die Illustration zeigt zwei Personen, die auf Kisten sitzen umringt von bunten Symbolen
Impulsivität, Probleme mit Konzentration: Immer mehr Menschen suchen Ruhe in einer ADHS-Diagnose. © Laura Deleuze für Psychologie Heute

Weshalb hat sich ADHS bei Erwachsenen von einer psychiatrischen Diagnose zu einem gesellschaftlichen Phänomen entwickelt?

Wir leben in einer Gesellschaft, die uns ein hohes Maß an Funktionieren im Alltag abfordert, aber die notwendigen Bedingungen dafür nicht schafft. Emotionale, soziale und körperliche Bedürfnisse stehen hintan. Ausreichend Zeit für die Familie, soziales Engagement, gesunde Ernährung, Kontakt zur Natur, für Bewegung und Müßiggang – für viele Menschen ist das alles im Alltag undenkbar.

Wir…

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, Kontakt zur Natur, für Bewegung und Müßiggang – für viele Menschen ist das alles im Alltag undenkbar.

Wir sind aber keine Roboter. Wenn unsere körperlichen und emotionalen Bedürfnisse nicht erfüllt werden, leiden unser Wohlbefinden und unsere Leistungsfähigkeit. Unaufmerksamkeit, innere Anspannung und Impulsivität können eine Folge sein. Viele Menschen können sich in den Verhaltensbeschreibungen der ADHS auf den ersten Blick wiederfinden, auch wenn die Erkrankung nicht vorliegt. Hinzu kommt, dass psychologisches Wissen durch das Internet viel leichter verfügbar ist. Das ist segensreich, aber gleichzeitig besteht das Risiko, dass wir uns vorschnell selbst als krank einschätzen, anstatt gesellschaftliche Ursachen kritisch zu diskutieren. In einer Leistungsgesellschaft ist die Diagnose auch eine Möglichkeit, sich zu schützen: „Ich bin krank. Ich kann mich nicht so kontrollieren, wie ihr es von mir wollt.“ Das bedeutet Entlastung und ist gleichzeitig ein Teufelskreis.

Wie können Sie Stress von ADHS unterscheiden?

Es bedarf einer gründlichen Anamnese und Differenzialdiagnostik. Akut belastende Ereignisse, Beziehungsstörungen, Traumatisierungsfolgen und chronischer Stress müssen als Ursache ausgeschlossen werden. Wenn man eine normale Anpassungsreaktion des Organismus mit einer Erkrankung verwechselt, entsteht ein Problem. Statt die äußeren Bedingungen zu ändern, würde man den Organismus durch Medikamente dazu bringen, krankmachende Bedingungen zu tolerieren. Darum kann man die Grundvoraussetzungen für die Diagnose einer ADHS nicht oft genug wiederholen: Beginn in der Kindheit, Situationsunabhängigkeit, und das Leiden kann durch andere Ursachen nicht besser erklärt werden.

Felix Betzler, der Leiter der ADHS-Ambulanz an der Charité, sagte unlängst gegenüber Psychologie Heute: „Nicht jeder, der sich nicht zwei Stunden am Stück konzentrieren kann, hat eine ADHS. Wir müssen aufpassen, dass nicht jeder, der in der Leistungsgesellschaft nicht mithält, eine ADHS verpasst bekommt.“ Wie schätzen Sie diese Aussage ein?

Ich stimme ihr vollkommen zu. Was an Verhalten als normal gilt, unterliegt historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungen. Implizit sagen wir: Es ist nicht gut, bewegungsstark, assoziationsreich und intensiv emotional zu sein. Eine weitere Gefahr ist, dass der kreativ-chaotische Leistungstyp pauschal pathologisiert wird. Wir unterscheiden diesen vom logisch-seriellen Leistungstypen. Der kreativ-chaotische ist auf den ersten Blick störungsverdächtig, weil er tiefere Emotionalität, höhere Gleichzeitigkeit und Assoziationsbreite aufweist. Kinder mit diesem Leistungstyp funktionieren oft im Schulsystem nicht gut. Aber ­Kreativität, Innovation und künstle-risches Schaffen sind wichtige Säulen unserer Gesellschaft, sie entstehen nicht allein durch abstraktes, logisch-serielles Leisten.

Für einige ist ADHS eine neurologische Erkrankung und eine Bürde. Aus Sicht der Neurodiversität ist sie ein Teil der Identität und eine besondere Gabe. Wie blicken Sie darauf?

Ich wende einen breiten Normalitätsbegriff auf Verhalten an. Wir Menschen sind nach dem biopsychosozialen Modell eine Einheit aus Körper, Psyche und sozialen Beziehungen. Über den Körper sind wir komplex mit der Umwelt verbunden. Menschen sind äußerst nuanciert. Wissenschaftlich erfasst ist von dieser Komplexität nur ein Bruchteil. Unser Menschsein ist etwas Fluides, Wandelbares, Verletzbares. Diese Verletzbarkeit anzunehmen und damit den eigenen Weg zu finden halte ich für die eigentliche Aufgabe. Das Konzept der Identität, nach dem ich bestimmen soll, in welche Kategorie ich nun gehöre, halte ich für nicht hilfreich. Und schon gar nicht würde ich die Identität eines Menschen unter einen Krankheitsbegriff fassen.

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Karoline Klemke ist Diplompsychologin und war viele Jahre in der forensischen Psychiatrie tätig. Sie ist psychologische Gutachterin und arbeitet in eigener Praxis als Psychologische Psychotherapeutin in Berlin.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2024: Bin ich gestresst oder habe ich ADHS?