Lesen Sie diesen Text gerade, obwohl Sie eigentlich etwas anderes, Wichtigeres zu tun hätten? Etwa die Steuererklärung erledigen, überfällige Arzttermine vereinbaren, ein Projekt für die Arbeit entwickeln? Möglicherweise zögern Sie unliebsame Dinge gerne hinaus. Damit wären Sie allerdings nicht allein. Bei Erhebungen der Universität Münster gaben nur zwei Prozent der Befragten an, niemals etwas aufzuschieben.
Wir zögern also fast alle hin und wieder Dinge hinaus. Von Prokrastination spricht man, wenn dieses…
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Wir zögern also fast alle hin und wieder Dinge hinaus. Von Prokrastination spricht man, wenn dieses Aufschieben chronisch wird. Aufgeschoben werden vor allem schwierige oder langwierige Aufgaben: Man sollte mit der Präsentation fürs Meeting beginnen oder mit der Seminararbeit, stattdessen nimmt man jede sich bietende Ablenkung gerne an – Kaffee kochen, E-Mails checken, die Einkaufsliste vervollständigen.
Angst vor dem leeren Blatt
„Wer aufschiebt, geht in einem entscheidenden Moment aus dem Feld und macht Ersatzaktivitäten“, sagt der Psychotherapeut und Psychoanalytiker Hans-Werner Rückert, der sich seit Jahrzehnten mit Prokrastination befasst und den Ratgeber Schluss mit dem ewigen Aufschieben geschrieben hat. „Lerntechnisch bedeutet das: Ich erspare mir unangenehme Gefühle, die mit dem eigentlichen Vorhaben verbunden sind, etwa die Angst vor dem leeren Blatt. Stattdessen schaue ich YouTube-Videos und entlaste mich.“
Für das Gehirn bedeute das eine Belohnung fürs Ausweichen. In der Psychologie bezeichnet man das als positive Verstärkung (siehe Definition unten): Je häufiger man das Verhalten wiederholt, desto mehr entwickelt es sich zu einer Gewohnheit. „Wenn man es viermal macht, dann sitzt es schon recht fest und es wird immer schwerer, am Schreibtisch durchzuhalten“, sagt Rückert.
Indem man auf eine andere Tätigkeit ausweicht, entkommt man zwar der Aufgabe und dem unangenehmen Gefühl, das mit ihr verbunden ist, doch die Erleichterung hält nur kurz an. Langfristig können negative Gefühle wie Stress, Druck, Anspannung, Selbstabwertung, gedrückte Stimmung und ein schlechtes Gewissen zunehmen.
Was, wenn meine Leistung ungenügend ist?
Doch wie kommt es überhaupt dazu, dass wir Aufgaben ausweichen? Laut Hans-Werner Rückert entsteht das Aufschieben an der Schnittstelle zwischen Persönlichkeit, Motivation und der Art der Tätigkeit: So sei man stärker geneigt, eine Aufgabe zu erledigen, wenn man sie als sinnvoll erachtet, ein Erfolg in Aussicht steht und man ohnehin eher gewissenhaft ist.
Dass Aufschieben mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen zusammenhängt, haben mehrere Studien gezeigt. Menschen, bei denen Gewissenhaftigkeit und Selbstkontrolle weniger stark ausgeprägt sind, neigen eher zum Prokrastinieren. Zudem begünstigt Impulsivität, also das Handeln aus dem Moment heraus das Aufschieben.
Auch Unter- oder Überforderung kann eine Rolle spielen: Wenn man sich einer langweiligen Aufgabe gegenübersieht, will man sie nicht angehen – man macht lieber etwas, bei dem man mehr Spannung spürt. Wenn man sich umgekehrt überlastet fühlt, hat man Angst, die Anforderung nicht zu bewältigen.
Diese Angst ist häufig der Grund, weshalb man nicht ins Handeln kommt. Querschnittuntersuchungen der Universität Münster zeigen, dass Prokrastination stark mit Versagensangst und Angst vor negativer Bewertung zusammenhängt. Auch das Gefühl, die Erwartungen von außen seien sehr hoch, hemmt viele Betroffene. Sie haben die Befürchtung, die geforderte Leistung nicht oder nur ungenügend erbringen zu können, negativ aufzufallen, kritisiert zu werden, sich zu schämen – für viele Menschen eine unangenehme Vorstellung.


Bis zur Selbstsabotage
„Das Aufschieben aus der Angst heraus zu versagen kann auch zu Selbstsabotage führen“, sagt Katrin Klingsieck, Professorin für psychologische Diagnostik und Förderung mit dem Schwerpunkt Bildung an der Universität Paderborn. „Indem man eine Aufgabe so lange aufschiebt, bis es nicht mehr möglich ist, sie gut zu erledigen, kann man am Ende sagen: Es lag nicht an meiner Kompetenz – mir hat nur die Zeit gefehlt.“ Das eigene Versagen fühle sich so weniger schlimm an.
Betroffene hinderten sich so immer wieder selbst daran, ihre volle Leistung zu erbringen und damit ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen, erklärt Klingsieck, die auch eine universitäre Beratungsstelle gegen Prokrastination leitet. „Damit wollen sie zwar den eigenen Selbstwert schützen, der aber wiederum leidet unter dem ständigen Aufschieben.“
Therapeutisch betrachtet ist Prokrastination keine Diagnose – in den Diagnosesystemen ICD und DSM wird sie nicht aufgeführt. „Es gibt jedoch Fälle, in denen das Aufschieben selbst so chronisch und exzessiv ist und zu Leiden und Beeintrachtigung in einem Ausmaß führt, dass es eine klinisch relevante und behandlungsbedürftige Symptomatik darstellt“, schreiben Anna Höcker, Margarita Engberding und Fred Rist in ihrem Fachbuch Prokrastination – Extremes Aufschieben.
Sie definieren Prokrastination folgendermaßen: Im vergangenen halben Jahr wurde regelmäßig aufgeschoben, obwohl Zeit zur Erledigung der Aufgaben da gewesen wäre. Durch das Aufschieben wurde das Erreichen der eigenen Ziele stark beeinträchtigt. Zudem müssen mindestens drei von sechs weiteren Kriterien erfüllt sein, etwa: Die anstehenden Aufgaben haben an mehr als der Hälfte der Tage Abneigung und Widerwillen ausgelöst. Oder: Durch das Aufschieben leidet man unter psychischen oder körperlichen Symptomen wie Schlafstörungen, innerer Unruhe oder einem Gefühl von Hilflosigkeit.
Nicht gleich psychisch erkrankt
Je länger das Aufschieben anhält, desto höher wird das Risiko eingeschätzt, eine depressive Störung zu entwickeln. Die Unzufriedenheit mit sich selbst, die mit dem ständigen Aufschieben wächst, kann typische Symptome wie gedrückte Stimmung, Hoffnungslosigkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten hervorrufen. Umgekehrt kann bei Menschen, die bereits unter einer Depression leiden, Prokrastination als Symptom auftreten. Weil ihnen oft grundsätzlich der Antrieb fehlt, schieben sie eine Aufgabe auf. Das kann sich jedoch ändern, nachdem eine depressive Phase überstanden ist.
Auch zwischen Prokrastination und Angststörungen, vor allem der Panikstörung, scheint es einen Zusammenhang zu geben: „Möglicherweise prokrastinieren Menschen mit einer Panikstörung, um angstauslösende Situationen zu vermeiden“, schreiben Taylor Hutchison und andere in ihrer Studie Procrastination and anxiety. Auch sei es möglich, dass Menschen, die häufig aufschieben, sensibel werden für die Angst, die durch das Prokrastinieren entsteht. Dadurch könne eine Panikstörung ausgelöst werden.
Um herauszufinden, ob das Prokrastinieren ein Symptom einer bestehenden Störung ist oder unabhängig davon auftritt, ist es wichtig, die Störungsbilder voneinander abzugrenzen. „Wenn ich aufschiebe und gleichzeitig spielsüchtig bin, ist nicht das Prokrastinieren das Problem, sondern die Spielsucht“, sagt die Psychologieprofessorin Klingsieck. „Prokrastination allein ist noch kein Hinweis auf eine psychische Erkrankung.“
Dass sich allein durch das Aufschieben eine Depression oder Angststörung entwickelt, ist laut Klingsieck eher unwahrscheinlich. Es müssten weitere Problematiken zugrunde liegen, damit es zu einer psychischen Störung komme.
Vor dem Erfolg fürchten
Doch nicht nur die Befürchtung zu versagen kann beim Prokrastinieren eine Rolle spielen, sondern – im Gegenteil – auch die Angst vor dem Erfolg. „Jeder Erfolg bringt das Risiko des Scheiterns bei der nächsten Aufgabe mit sich. Deshalb ist Erfolg eine zweischneidige Sache“, sagt Psychoanalytiker Rückert. Egal welche Angst zugrunde liegt, sie ist immer mit einem Fluchtreflex verbunden: Man will raus aus der unangenehmen Situation.
Um weniger zu prokrastinieren ist es wichtig, sich seinen Ängsten zu stellen, so Rückert. Eine Möglichkeit sei, sich in einem entspannten Zustand seine schlimmsten Befürchtungen vor Augen zu führen: dass man die eigenen Erwartungen und die der anderen nicht erfüllt und sich schämt. Wären die Folgen wirklich so schrecklich, wie man es sich einredet? Im nächsten Schritt kann man sich mit seinen Ängsten nicht nur in Gedanken, sondern in der Realität konfrontieren und aktiv werden (Sätze, die bremsen, und Sätze, die beflügeln: siehe Liste unten). Je besser man sich selbst und seine Aufschiebestrategien kennt, desto besser findet man einen Weg heraus aus dem Kreislauf.
Von denjenigen, die mit dem Prokrastinieren negative Gefühle vermeiden wollen, unterscheidet Rückert einen zweiten Typus: jene, die durch Zeitdruck einen Kick suchen. Von Menschen, die prokrastinieren, höre man oft, dass sie unter Druck besser arbeiten könnten. „Sie verwechseln das aber mit der Erregung, unter der sie stehen, ob sie es überhaupt schaffen. Gegebenenfalls sind sie auch überflutet mit Koffein oder anderen aufputschenden Substanzen, die sie zu sich nehmen“, sagt Rückert.
"Es war immer eine große Katastrophe."
Nele Lorenz kennt diese Momente von maximalem Stress gut, das Aufschieben wurde für sie zur riesigen Belastung. Der Name der 28-Jährigen ist geändert, weil sie nicht möchte, dass ihr berufliches Umfeld von ihren Problemen erfährt. Als Schülerin flogen ihr die guten Noten nur so zu. An der Universität sah es plötzlich anders aus, es wurden Hausarbeiten verlangt, die eine gute Planung erforderten. „Ich wusste, dass mehrere Wochen Bearbeitungszeit nötig sein würden, um es vernünftig zu machen. Aber umsetzen konnte ich es nie“, sagt Nele Lorenz.
Stattdessen verzettelte sie sich oft schon bei der Eingrenzung des Themas. „Wenn ich einen Ansatz hatte, dachte ich, er sei zu banal. Ich hatte immer einen Grund, ihn abzuwerten. Dabei hätte er den Anforderungen einer Uniarbeit völlig genügt.“ Beim Schreiben hielt sie sich oft mit Details auf und ließ sich leicht ablenken. Deshalb blockierte sie bestimmte Websites und ging wochenlang morgens in die Bibliothek. Doch am Abend kam sie nach Hause mit dem Gefühl, nichts geschafft zu haben.
Bei ihrer allerersten Hausarbeit war die Frist bereits deutlich verstrichen, als sie innerhalb von zwei Tagen und unter großem Stress den Text schrieb. Am Ende bekam sie die Bestnote. So handhabte sie es das gesamte Studium hindurch, insgesamt bei etwa 15 schriftlichen Arbeiten. „Es war immer eine große Katastrophe. Ich war zutiefst davon überzeugt, dass ich etwas Schlechtes abgeliefert hatte. Am Ende war es nicht so. Da zeigte sich, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung komplett auseinanderklafften“, sagt Nele Lorenz.
Meine Leistungsfähigkeit macht mich aus
Hilfe oder Rat suchte sie sich nicht, aus Angst, dumm zu wirken, oder aus der Überzeugung heraus, andere könnten ihr ohnehin nicht weiterhelfen. Auch mit den Dozierenden sprach sie meist nicht über ihre Schwierigkeiten. „Meine perfektionistische Veranlagung war meine Grundblockade.“
Bei Menschen, die wie Nele Lorenz zu Perfektion neigen, ist die Leistung oft stark mit dem Selbstwert verknüpft. „Ich dachte, meine Leistungsfähigkeit macht mich aus. Wenn sie nicht da ist, warum sollte man mich mögen?“, sagt Lorenz.
Problematisch ist jedoch nicht der eigene Anspruch, etwas perfekt machen zu wollen – Studien zeigen, dass dies sogar ein Ansporn sein kann, eine Aufgabe zügig zu erledigen. Es ist der gefühlte Druck von außen, der das Aufschieben befördert. Man hat das Gefühl, die Erwartungen nicht erfüllen zu können und sich dadurch bloßzustellen, wobei oft schon durchschnittliches Abschneiden mit einem Misserfolg gleichgesetzt wird.
Unter dem Leid des Kontrollverlusts
Psychotherapeut Rückert empfiehlt in seinem Ratgeber, zu lernen, die eigene Leistung realistisch einzuschätzen, und sich nicht an Idealen zu orientieren. Muss man beispielsweise einen Vortrag vorbereiten und hat ein krankes Kind zu Hause, sollte man keine Topleistung von sich erwarten. Manchmal reicht der Mittelweg für ein gutes Resultat aus.
Doch nicht nur perfektionistisch veranlagte Menschen, die prokrastinieren, haben Probleme mit dem Selbstwert. Die Forschung zeigt, dass er auch bei anderen Personen, die regelmäßig aufschieben, zunehmend sinkt. Weil eine zusätzliche Spannung durch Selbstverachtung und Versagensängste entstehe, verstärke sich das Aufschieben dann noch mehr, sagt Rückert.
„Man merkt, dass man keine Verbindlichkeiten sich selbst gegenüber eingehen kann. Viele Menschen verstehen nicht, warum es so ist, leiden aber extrem unter diesem Kontrollverlust. Man fühlt sich wie der Alkoholiker, der sagt: ,Morgen trinke ich nichts!‘, und der am nächsten Tag wieder mit der Flasche in der Hand dasitzt.“
"Ich akzeptiere, dass ich gerade aufschiebe."
Je besser man dazu in der Lage sei, sich selbst zu organisieren, desto stolzer sei man, erklärt Hans-Werner Rückert. Das habe viel damit zu tun, wie wir sozialisiert sind. Bereits in der Schule werden wir dafür belohnt, wenn wir es schaffen, uns selbst zu steuern, vorrangige Dinge zuerst zu erledigen und Planungsfähigkeiten zu haben. „Wer das nicht kann, fällt aus dem Raster. Das hat große Auswirkungen auf den Selbstwert.“
Laut dem Psychotherapeuten schafft es Betroffenen Erleichterung, wenn sie ihren Selbstwert nicht mehr an der Leistung festmachen. Kritik an ihrer Arbeit könne sie dann nicht mehr in den Grundsätzen erschüttern, folglich sinke auch die Angst vor dem Versagen. Um das zu erreichen, sei es nötig, die eigenen Überzeugungen aktiv zu ändern, etwa sich selbst nicht als „Aufschieberin“ oder „Aufschieber“ zu bezeichnen und sich damit als ganze Person zu entwerten.
Viel besser sei, zu sagen: „Ich akzeptiere, dass ich im Moment aufschiebe – ob es mir gefällt oder nicht.“ Um das Problem anzunehmen, ist es hilfreich, es nicht zu verschweigen, sondern mit vertrauten Menschen darüber zu sprechen. Ziel ist, verständnisvoller und weniger streng mit sich selbst umzugehen.
Dass das funktioniert, ist sogar wissenschaftlich erwiesen: Ein kanadisches Forschungsteam um den Psychologieprofessor Michael Wohl ließ Studierende vor einer Klausur einen Fragebogen ausfüllen, in dem es um Prokrastination und Selbstvergebung für das Aufschieben ging. Vor der nächsten Prüfung wurde die Gruppe erneut befragt. Diejenigen, die sich das Prokrastinieren vor der ersten Klausur verziehen hatten, schoben das Lernen bei der zweiten Klausur nicht mehr so stark auf.
Soziale Anerkennung, materielle Belohnung
Sich selbst zu vergeben mag nach langen Phasen der Prokrastination nicht einfach sein. „Das ist eine Haltung, zu der man finden muss“, sagt Psychologin Katrin Klingsieck. Dafür sei es wichtig, sich bewusstzumachen, warum man prokrastiniert. Man sollte sich fragen: Warum verfolge ich dieses Ziel? Ist es mein eigener Wunsch oder bin ich fremdbestimmt?
Dabei kann sich zum Beispiel herausstellen, dass man seinen Job nur macht, um den Eltern zu gefallen. Das bedeutet laut Klingsieck jedoch nicht, dass man sofort kündigen muss. So kann man sich etwa vornehmen, sich mehr auf die positiven Aspekte seiner Arbeit zu konzentrieren. Oder sich sagen: Ich möchte mir in diesem Jahr einen Urlaub leisten, dieser Job wird mir das ermöglichen.
Dass es einen Unterschied macht, ob die Motivation aus einem selbst heraus oder von außen kommt, legt auch eine rumänische Studie nahe: Hat man Interesse oder Spaß an einer Aufgabe, schiebt man sie weniger auf. Anders sei es im Fall von äußerer Motivation: Soziale Anerkennung oder materielle Belohnung können demnach entweder als Ansporn wahrgenommen werden – oder eben als Druck, der zum Aufschieben beiträgt.
Tägliche Nervenzusammenbrüche
Obwohl man in Nele Lorenz’ Familie nicht darüber sprach, hatte sie das Gefühl, bestimmte Erwartungen erfüllen zu müssen. „Ich hatte keinen Druck, gleichzeitig ist man davon ausgegangen, dass ich alles sehr gut mache“, erzählt sie.
Im Masterstudium wurde ihr Leiden infolge des Aufschiebens immer größer. An einem Punkt ging es nicht mehr: Sie ließ sich krankschreiben und machte eine Pause von den Hausarbeiten. „Ich hatte das Gefühl, nicht gut genug für das Studium zu sein und nicht zu wissen, wie ich all die Aufgaben angehen soll.“
Depressive Phasen kannte Nele Lorenz schon aus ihrer Jugend. Sie entschied sich, eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie zu machen. Doch das Muster war so festgefahren, dass sie nach der Pause weiter prokrastinierte. Bei der Masterarbeit kam sie lange nicht voran. Sie verlängerte die Abgabe. „Ich hatte ständig Nervenzusammenbrüche und habe geweint vor Verzweiflung“, erzählt sie. „Irgendwann wurde der Zeitdruck so groß, dass ich mich von manchen Leistungsansprüchen verabschieden und einfach etwas hinschreiben musste.“ In vier Tagen und Nächten verfasste sie die Arbeit, am Ende schlief sie kaum noch.
Die Tarnung: Workaholic
Belastend ist das Aufschieben nicht nur für die Betroffenen. Es kann auch im Zusammenleben mit anderen Menschen zu Konflikten führen. Sich nicht festlegen zu wollen, Termine nicht einzuhalten oder zu spät zu kommen sind typische Verhaltensweisen von Menschen, die prokrastinieren, weil ihnen Selbstorganisation oft schwerfällt. Als unzuverlässig zu gelten kann nicht nur negative Auswirkungen im Privatleben haben, sondern auch bei der Arbeit. Zögert man wichtige Aufgaben immer wieder hinaus, kann es unter Umständen den Job kosten.
Oftmals machen Menschen, die prokrastinieren, nicht den Eindruck, als würden sie aufschieben. Sie wirken ganz im Gegenteil übermäßig beschäftigt. „Sie können sich als Workaholics tarnen“, sagt Hans-Werner Rückert. „Sie schieben viele Sachen an und alle sind beeindruckt davon. Am Ende sind sie aber unglücklich, weil nichts dabei herauskommt.“
Das Muster der Prokrastination zu durchbrechen sei hart, sagt Rückert. Während viermal Aufschieben genüge, um es sich anzugewöhnen, sei etwa das Vierfache nötig, um es wieder loszuwerden. „Eine Gewohnheit sitzt so fest, dass man sie viele Male durchbrechen muss, um sie wieder zu verlernen“, so der Psychotherapeut. „Dafür müsste man sich statt für die Flucht fürs Durchhalten belohnen. Man bleibt also am Schreibtisch sitzen, erträgt die schlechten Gefühle und belohnt sich nach 20 Minuten – aber bewusst fürs Durchhalten, nicht fürs Aufschieben. Im Kopf entsteht der gleiche Effekt, unser Gehirn merkt sich das.“
Verhaltensmuster brechen
Die kognitiv-verhaltenstherapeutische Vorgehensweise gilt derzeit als die wirksamste Methode, um das Aufschieben zu bewältigen. Der Kern besteht darin, den Umgang mit den Aufgaben zu verändern. Anna Höcker, Margarita Engberding und Fred Rist haben dafür ein entsprechendes Programm entwickelt, das sie in ihrem Ratgeber Heute fange ich wirklich an! erklären. Dazu gehören eine realistische Zielsetzung und Planung sowie das präzise Einhalten von Arbeitszeiten. Indem man eine Aufgabe in kleine Schritte einteilt, wirkt sie nicht mehr übermächtig, sondern bewältigbar.
Zu einer guten Selbstorganisation kann auch gehören, Dinge zu delegieren, die man nicht unbedingt selbst erledigen muss. Graut es einen jedes Jahr wieder vor der Steuererklärung, kann man darüber nachdenken, eine Steuerberaterin zu beauftragen. Ist einem der Gedanke ans Fensterputzen zuwider, könnte eine Lösung sein, eine Reinigungskraft zu engagieren.
Änderungen in Denk- und Verhaltensmustern können laut Rückert in drei Viertel der Fälle zum Erfolg führen. Bei den übrigen liege eine andere Ursache zugrunde. Das Prokrastinieren sei dann ein Hinweis auf ein tieferliegendes Problem, das den Betroffenen meist nicht klar sei. Rückert berichtet von erfolgreichen Führungskräften, die zu ihm kommen, weil sie plötzlich eine Blockade haben, obwohl sie immer leistungsfähig waren.
„Einer verstand die Welt nicht mehr: Er war immer der Beste, und nun stand er morgens auf und wollte nicht arbeiten“, erzählt Rückert. Es stellte sich heraus, dass der nächste Schritt in der Karriere nicht einfach war: eine Stelle in China mit noch mehr Verantwortung. Dazu kam die Angst, die Familie könnte ihn wegen des Umzugs verlassen. „Statt den Karriereschritt und die Angst rational abzuwägen, entstand ein Symptom. Es enthält eine Wahrheit, die dem Betroffenen verborgen ist“, sagt Rückert. „Das Aufschieben bekommt einen Sinn: Ich weiß noch gar nicht, dass ich ein Problem habe, mein Körper aber schon.“
Auf Wiedersehen, Nachtschichten!
Nele Lorenz ist ihrem Problem erst einmal entkommen. Nach ihrem Studium bot sich ihr eine Promotionsstelle an einer Universität. Doch zwei Tage vor Stellenantritt machte sie einen Rückzieher und nahm stattdessen einen anderen Job im Bereich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit an, den sie sich eher zutraute. Die Aufgaben müssen meist am selben Tag erledigt werden, Zeit zum Aufschieben gibt es nicht. Auch weil Prokrastinieren gerade kein Thema ist, geht es ihr psychisch sehr gut.
„Nach einem Monat habe ich aber gemerkt, dass ich unterfordert bin. Ich hatte bald alle Aufgaben kennengelernt, mehr Neues kam nicht.“ Lorenz denkt deshalb über einen Jobwechsel nach, spielt wieder mit dem Gedanken, an eine Universität zurückzukehren und doch eine Promotionsstelle anzunehmen.
Sie sieht die Dinge realistisch: „Die Selbstwertproblematik hat sich abgemildert, aber das Arbeiten auf den letzten Drücker wird schwer zu ändern sein.“ Trotzdem nimmt sie sich fest vor, beim nächsten Mal anders zu arbeiten. Nachtschichten soll es nicht mehr geben, Freundinnen und Freunde sollen sie gelegentlich an ihre Vorsätze erinnern.
Wollen Sie mehr zum Thema Prokrastination erfahren? Dann lesen Sie gerne folgende Artikel aus derselben Ausgabe:
Wie die Methode der Arbeitszeitbegrenzung bei Prokrastination von Aufgaben helfen kann in Mit Arbeitszeitbegrenzung das Aufschieben überwinden
Psychologieprofessorin Regina Vollmeyer erklärt, wie Flow gegen chronisches Aufschieben genutzt werden kann in Vom Aufschieben zum Flow-Erlebnis
Zehn Sätze, die zum Aufschieben beitragen und zehn, die uns aus der Prokrastinationfalle befreien in Ich muss, ich will, ich werde das schaffen!
Positive Verstärkung
Verbinden wir ein Verhalten mit positiven Gefühlen, neigen wir dazu, es zu wiederholen. Wird ein Kind gelobt, weil es sein Zimmer aufgeräumt hat, wird es das womöglich häufiger tun. Positive Verstärkung kann aber auch zu schlechten Gewohnheiten führen. Menschen, die prokrastinieren, schieben unliebsame Aufgaben auf und beschäftigen sich mit etwas Angenehmerem. Damit wird das belastende Gefühl für den Moment durch ein positives ersetzt. Auf lange Sicht verstärkt dieses Verhalten jedoch das Problem.
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