Über Selbstausbeutung in der Forschung

Fernbeziehungen, Unsicherheit, Nachtschichten: Eine Wissenschaftlerin erzählt über die gängige Selbstausbeutung in der Forschung.

Ein Mann sitzt im Schichtbetrieb unter einer Schreibtischlampe und hat technische Geräte auf dem Tisch
Während der Messwochen arbeitete Jana Leipold bis zu 16 Stunden pro Woche – manchmal sogar nachts. © Hinterhaus Productions / Getty Images

Ich wollte immer etwas machen, was mich wirklich erfüllt, nicht nur arbeiten, um Geld zu verdienen. Mein Physikstudium hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich mit dem Gedanken gespielt habe, Professorin zu werden. Mich reizte es, durch Forschung die Welt besser zu verstehen und motivierte Leute zu unterrichten. Prestige hat sicher auch eine Rolle gespielt.

Welche Härten dieser Berufsweg mit sich bringt, wurde mir zum ersten Mal während der Promotion bewusst, als ich zwischen verschiedenen Orten in England und Deutschland hin- und herpendeln musste. Meine Familie sah ich nur noch ein- bis zweimal pro Jahr, später, auch wegen der Coronabestimmungen, sogar zwei Jahre gar nicht.

Bevor ich für die Forschung nach England gezogen war, hatte ich meinen Freund gefragt, an welchem Ort er sich sein Leben vorstellte. Er wusste es nicht. Also entschied ich mich für die Stelle, die meiner Karriere am zuträglichsten war. Für mich war klar, dass Fernbeziehungen in der Wissenschaft dazugehören. Unsere hielt das leider nicht aus.

Am Wochenende geht nichts mehr

Aber auch ohne Freund in Deutschland war das Leben anstrengend genug. Meine Promotionsstelle sah vor, dass ich in manchen Monaten an der Uni und in anderen an einem Teilchenbeschleuniger arbeiten sollte. Entfernung zwischen beiden Orten: wochentags vier, sonntags sechs Zugstunden. Kosten pro Fahrt: 50 Pfund. Ein Auto besaß ich nicht. Auch Wohnen war teuer. Der Teilchenbeschleuniger lag in einem Kaff ohne Supermarkt, in dem es die üblichen Studierendenzimmer nicht gab und das bereits zum Großraum London gehörte.

Trotzdem hatte ich mich bewusst für diese Stelle und gegen eine reine Vollzeitstelle am Unistandort entschieden. Durch meine Messungen am Beschleuniger würden wir als Arbeitsgruppe an der Uni an viel mehr Daten kommen. Ich durfte auch zu Zeiten messen, die Externen nicht zur Verfügung stehen.

Während der Messwochen arbeitete ich 14 bis 16 Stunden pro Tag, teilwei­se maßen wir die Nächte durch, bis uns nur noch Cola oder Mars vom Süßigkeitenautomaten wachhielten. An den Wochenenden war ich völlig tot.

Natürlich waren die Messzeiten auch toll. Man hat als Team eine begrenzte Zeit für eine Aufgabe. Man freut sich gemeinsam über gute Ergebnisse und leidet, wenn nichts funktioniert. Über die Stunden hinweg erfährt man auch viel Persönliches.

Wochenlanges Warten auf Feedback vom Betreuer

Es gab nie eine Situation, in der ich gedacht habe: Die Belastungen sind mir zu groß. Ich habe sie für eine Wissenschaftskarriere als normal empfunden und deshalb hingenommen. Aber beim Lauftraining, das ich semiprofessionell betreibe, wurden Zielzeiten plötzlich mühsam, die ich früher locker erreicht hatte.

Insgesamt verbrachte ich fünf Jahre in England. Tatsächlich konnte ich gute Daten erheben. Ein Paper ging glatt durch und wurde von Nature Nanotechnology publiziert. Was für ein Glück!

Aber an einem anderen Paper saß ich vier Jahre. Wir brauchten sehr lange, bis wir die Mechanismen wirklich verstanden hatten, es gab sehr viele Co-Autorinnen und -Autoren, die alle ihre eigenen Ideen hatten, und mein Betreuer war so überarbeitet, dass ich immer wieder wochenlang auf Feedback warten musste. Ein Teil der Daten ist noch immer nicht veröffentlicht. Ein Albtraum.

Nach meiner Promotion wechselte ich deshalb zu einer Arbeitsgruppe nach Deutschland, von der ich wusste, dass sie viel und schnell publiziert.

Was ist der Preis für eine wissenschaftliche Karriere?

Zwar hatte ich inzwischen eine Beziehung in England, aber das Angebot aus Deutschland war karrieretechnisch einfach das Beste, was mir passieren konnte. Dass diese Beziehung entgegen meiner Erwartung immer noch hält, liegt nur daran, dass mich mein Freund eine Woche pro Monat besuchen und im Homeoffice arbeiten kann.

Meine Postdoc-Stelle ist auf 20 Monate befristet. Dauerstellen sind in der universitären Wissenschaft rar. So begann ich, kaum angekommen, nach neuen Stellen zu suchen.

Wie oft wollte ich noch um Jobs und Forschungsgelder kämpfen, alle paar Jahre umziehen, Freunde zurücklassen und Beziehungen zerbrechen lassen?

Um zumindest näher bei meinem Freund wohnen zu können, suchte ich im Internet nach Lecturer-Stellen in England. Neben Uniangeboten bekam ich auch die Stelle einer Schule angezeigt.

Eigentlich hatte ich keine Lust auf 30 Kinder, die keinen Bock auf Physik haben. Aber das Angebot der Privatschule klang ganz anders – kleine Klassen, ein motiviertes Team, leistungsstarke Schülerinnen und Schüler. Ich bewarb mich und stand bald für eine Probestunde vor einer siebten Klasse. Es war toll, in den Gesichtern der Schülerinnen und Schüler zu sehen, wie sie nachdachten, immer mehr wissen wollten und Spaß an meinen Luftballon­experimenten hatten. Dass hinten im Raum zwei Beobachter saßen, hatte ich schnell vergessen. Schon am Abend bekam ich die Anfrage, ob ich die Stelle nehmen wolle.

Unverständnis im sozialen Umfeld

Plötzlich fühlte ich, dass ich an dieser Schule arbeiten wollte. Und darüber erschrak ich. Würde ich den endgültigen Ausstieg aus der Wissenschaft bereuen?

Wenn ich im Uniumfeld von meinem baldigen Wechsel ins Lehramt erzähle, bemerke ich, dass das in den Augen vieler einen Abstieg darstellt. „Warum du? Du hättest doch Chancen gehabt“, heißt es dann. Das fühlt sich nicht schön an. Auch mein Vater, ein eher frustrierter Lehrer, sieht das wohl so, auch wenn er es nicht ausspricht. Mein Chef hat mir unlängst noch eine Unistelle weitergeleitet.

Gleichzeitig frage ich mich: Warum muss man sich dafür rechtfertigen, wenn man die Wissenschaft verlässt – aber in der Wissenschaft bleiben gilt als selbstverständlich? Es geht schon sehr viel um Prestige.

Meine Mutter freut sich jedenfalls, dass wir uns dank acht Wochen Sommerferien jetzt wohl mehr sehen können. Und ich freue mich, dass ich bald mit meinem Freund zusammenwohnen kann und wieder ein Leben habe.

Hintergrund: Selbstausbeutung in der Wissenschaft

Frau Dr. Leipold, inwiefern gehört Selbstausbeutung in der Wissenschaft dazu?

Eine Wissenschaftskarriere erfordert definitiv Leistungsbereitschaft und man muss sich oft flexibel auf fremdbestimmte Bedingungen einstellen, zum Beispiel auf bestimmte Laborzeiten. Wenn das dazu führt, dass ich mich der Situation ausgeliefert fühle, kann Leistungsbereitschaft in Selbstausbeutungsgefühle umschlagen.

Was hilft, besser mit der Situation klarzukommen?

Hilfreich ist die Teleperspektive: Welche Lebensziele habe ich, beruflich und privat? Konkurrieren Ziele miteinander? Wo habe ich Stellschrauben, um etwas zu verändern?

Ich arbeite in der Beratung gerne mit dem Werte- und Entwicklungsquadrat von Schulz von Thun: Keine menschliche Qualität ist hilfreich, wenn man übertreibt – Sparsamkeit kann zum Beispiel in Geiz umschlagen. Bezogen auf extreme Leistungsbereitschaft könnte es Aufgabe sein, an der eigenen „Selbstfürsorge“ zu arbeiten. Das kann am Ende auch bedeuten, dass es besser ist, die Wissenschaft zu verlassen.

Zur Situation

Laut dem aktuellen Bundesbericht wissenschaftlicher Nachwuchs waren 92 Prozent des hauptberuflichen ­wissenschaftlichen und künstlerischen Personals an Hochschulen befristet beschäftigt (unter 45 Jahre, ohne Professuren). Unter #IchbinHanna wird im Internet seit Jahren über prekäre Bedingungen in der Wissenschaft gestritten.

Dr. Jana Leipold ist stellvertretende Leiterin der Personalentwicklung der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Psychologin und systemische Coachin.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2023: Dinge weniger persönlich nehmen
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