Zu viel, zu wenig?

Unter Essstörungen leiden nicht nur Frauen, bei Männern werden sie nur oft übersehen. Betroffene haben mit weitaus mehr als ihrem Gewicht zu kämpfen

Ein sehr schlanker Mann steht in der Küche und bereitet sich ein Essen vor
Erst gesund kochen. Dann ein Jumbo-Döner und tütenweise Chips und Nüsse. © Daniel Feistenauer und Andreas Reeg für Psychologie Heute

Bereits Stunden vorher denkt Florian Tenndorf über seine nächste Mahlzeit nach. Was ist die richtige Menge? Diese Frage wälzt er ständig im Kopf hin und her. Es darf keinesfalls zu viel sein, dann überwältigt ihn die Angst, dass er einen Bauch entwickeln könnte. Aber es darf auch nicht zu wenig sein, damit er nicht wieder abnimmt. Bei einer Größe von 1,76 Meter wiegt er aktuell nur etwas mehr als 50 Kilogramm, das ist immer noch sehr untergewichtig. Das Essen muss genau geplant sein, damit er die Kontrolle…

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das ist immer noch sehr untergewichtig. Das Essen muss genau geplant sein, damit er die Kontrolle behält.

Jede Mahlzeit wird genau geplant

Um 7.30 Uhr frühstückt Tenndorf, um 12 Uhr wird Mittag gegessen und um 17 Uhr gibt es Abendessen. Und jeden vierten Tag um 13.30 Uhr backt Florian Tenndorf Brötchen. Der 38-Jährige steht in der Küche seines Hauses – ein großzügiger Holzbau am Hang mit Blick über das mittelfränkische Dorf, in dem er mit seiner Familie lebt –, die Hände in einer großen Schüssel mit dem Sauerteig vergraben, den er schon morgens angesetzt hat. Die Konturen seiner dünnen Beine zeichnen sich in der schwarzen Trainingshose ab. Er nimmt einen Teigkloß, schneidet auf einem Brett einen Streifen nach dem anderen ab und legt sie auf die Waage. „Es sollten jeweils 205, vielleicht auch 206 Gramm sein, damit es genau acht gleich große Brötchen werden“, sagt er. Jeweils ein Brötchen für ihn und eines für seine Frau, vier Brotmahlzeiten in den kommenden vier Tagen. Er sei ein Perfektionist, fügt er noch hinzu.

„Mich mit Lebensmitteln auseinanderzusetzen, ist für mich immer noch eine Herausforderung“, sagt er, die grau-blauen Augen blicken ernst in dem blassen Gesicht mit den feinen Zügen. „Ich weiß ja, dass ich mir die Semmeln die nächsten Tage zuführen muss.“ Teigwaren gehörten für ihn in der Zeit vor seinem Klinikaufenthalt zu den Tabulebensmitteln. Brot und Brötchen, Kuchen, Schokolade oder Pizza, aber auch Öl oder Nudeln hat er damals ganz zu meiden versucht, so groß war die Angst vor diesen kalorienreichen Nahrungsmitteln.

Von ohnehin schon kleinen Portionen, aß er nur die Hälfte

Sorgfältig formt Florian Tenndorf die Teigstreifen zu runden Ballen und verteilt sie auf dem Blech. Ein kleiner Klecks in der Mitte ist für die zweijährige Tochter, die sich gerade im sonnendurchfluteten Wohnzimmer mit den Stofftieren Muffi und Mäh vergnügt. Er schiebt das Blech in den Ofen – ein Profigerät. „Der Ofen backt mit Wasserdampf, so werden die Brötchen noch luftiger und trocknen nicht aus“, sagt Tenndorf nicht ohne Stolz. „Wenn ich mir Lebensmittel selbst herstelle, dann weiß ich wenigstens, was drin ist.“

Kontrolle, das ist etwas, das ihn viel beschäftigt, das war schon vor und in der Klinik so. Florian Tenndorf ist an Magersucht erkrankt. In den vergangenen Jahren wurde er immer dünner und dünner. Von den sowieso schon kleinen Portionen, die ihm seine Frau zubereitet hatte, aß er höchstens die Hälfte, den Rest warf er heimlich weg. Gleichzeitig verbrauchte er extrem viele Kalorien durch ein intensives Muskel- und Lauftraining. Seine Frau Patrizia sagt: „Es war kurz vor knapp. Wäre er nicht in die Klinik gekommen, hätte er nicht überlebt.“ Noch immer sind Mahlzeiten für ihn kein Genuss, sondern eine Aufgabe, die erledigt werden muss. Die Angst zuzunehmen ist immer noch da, mal mehr, mal weniger, je nach Tagesform.

Ein übergewichtiger Mann sitzt auf einem Fitnessgerät und schaut dabei aus dem Fenster
Er hat immer gerne gegessen – und viel Sport getrieben. Aber irgendwann wurde der Druck zu groß.
Ein übergewichtiger Mann sitzt auf einem Fitnessgerät und schaut dabei aus dem Fenster
Er hat immer gerne gegessen – und viel Sport getrieben. Aber irgendwann wurde der Druck zu groß.

Rund 700 Kilometer weiter nördlich freut sich Oliver Nurtner auf das Essen: Spaghetti mit Linsenbolognese. Dieses Gericht sei für ihn das Highlight in der Klinik gewesen, sagt der 57-Jährige: „Ich war sehr erstaunt, wie lecker und würzig ein Essen sein kann mit so wenig Kalorien und ohne Fleisch.“ Nurtner steht in der Küche seiner Neubauwohnung in einer Stadt nördlich von Hamburg, die weinrote Küchenschürze um den rundlichen Bauch gebunden, akkurat geschnittene kurze Haare, durch die Brille etwas vergrößerte, freundlich blickende Augen. Er trocknet zig gespülte Plastikbehälter ab, die er sich neu gekauft hat. Wozu er die braucht? Er öffnet den zwei Meter hohen Gefrierschrank und zeigt auf jede Menge Vorratsbehälter, alle gefüllt mit selbst gekochtem Essen: Gemüsesuppe, Bauerntopf, Rosenkohl und sein derzeitiges Lieblingsgericht: vegane Bolognese. Kommende Woche beginnt seine Wiedereingliederung in die Arbeit, die vorgekochten Mahlzeiten will er dorthin mitnehmen. „Ich gehöre jetzt auch zu den Meal Preppern“, sagt er mit leicht ironischem Unterton. Noch vor ein paar Monaten hätte er alles sofort verspeist.

Alles auf einmal aufgegessen

„Ich koche immer vier Portionen, so wie früher, als ich noch mit meiner Familie zusammenlebte. Das habe ich dann aber eben alles auf einmal aufgegessen“, sagt Nurtner, während er Zwiebeln, Sellerie und Möhren auf der Küchentheke schält und in kleine Stücke schneidet. Vor zweieinhalb Jahren ist er aus dem Haus ausgezogen, in dem er mit seiner Frau und den zwei Kindern wohnte. Schon damals im gemeinsamen Heim litt er darunter, dass er sein Essverhalten nicht unter Kontrolle bringen konnte.

Wenn er als Leiter des Kundenservice einer Bank spät sein Büro verließ, war er meist völlig ausgehungert. „Ich kaufte mir dann zum Beispiel beim Griechen Gyros mit Pommes, oft die doppelte Portion, oder beim Türken einen Döner in der Jumboversion“, sagt er. Doch dabei blieb es nicht. „In einer großen Schüssel habe ich mir danach einen Cocktail aus Chips, Flips und Nüssen gemischt, jeweils ein Drittel einer Tüte. Dann habe ich immer wieder nachgefüllt, so dass ich schließlich von allem eine ganze Tüte in mich reingestopft habe“, erzählt er, während er einen Topf aus dem Schrank holt. „Dazu habe ich literweise Süßgetränke konsumiert, mehrere Liter Cola light und Spezi zero pro Tag.“

Nach solchen Anfällen lag Nurtner mit Bauchschmerzen auf dem Sofa – über die Sättigung hatte er längst hinweggegessen. Er schämte sich, dass er sich nicht besser beherrschen konnte, ekelte sich regelrecht vor sich selbst. Er nahm immer mehr zu, wog schließlich mehr als 130 Kilogramm bei einer Größe von 1,85 Meter und zog sich immer mehr zurück. „Es ging kein Hemd mehr zu, es war mir peinlich, dass ich so dick geworden war.“ Nurtner wusste nicht, dass er unter der sogenannten Binge-Eating-Störung litt. Der Name leitet sich ab vom englischen binge, was so viel wie Gelage bedeutet. Ein Kennzeichen der Störung ist ungezügeltes, übermäßiges Essen.

„Essstörungen bei Männern werden oft übersehen“

Florian Tenndorf und Oliver Nurtner – das sind zwei sehr unterschiedliche Männer, die an zwei unterschiedlichen Formen einer Essstörung erkrankt sind. Beide wollen anonym bleiben, ihre Namen sind geändert. Bei beiden hat es viele Jahre gedauert, bis ihre Erkrankung erkannt und gezielt behandelt wurde, beide waren zuvor bereits in mehreren Kliniken oder Tageskliniken untergebracht, mit den Diagnosen Burnout oder Depression – obwohl das Thema Essen bereits ihr gesamtes Leben beherrschte.

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie gerne auch das Interview mit Professor Georgios Paslakis, der die einzige Forschungsgruppe in Deutschland zu Essstörungen bei Männern leitet und für mehr Diversität in der Forschung plädiert in „Das sind bearbeitete, völlig unrealistische Bilder“.

„Essstörungen bei Männern werden oft übersehen“, sagt Ulrich Voderholzer, ärztlicher Direktor der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Vorderholzer leitet dort eine von insgesamt sechs Stationen für Essstörungen – damit ist die Klinik die größte mit diesem Schwerpunkt in Europa. „Essstörungen gelten in der Bevölkerung, aber auch bei Ärztinnen und Ärzten immer noch als Frauenkrankheiten“, sagt Voderholzer. Betroffene Männer hätten so mit einer doppelten Stigmatisierung zu kämpfen: „Sie tun sich sowieso schwer, sich eine psychische Erkrankung einzugestehen, und dann müssen sie auch noch akzeptieren, dass es sich um eine – vermeintliche – Frauenkrankheit handelt.“

Dabei sind Essstörungen auch bei Männern längst keine Seltenheit mehr. In der Klinik kommt zwar auf zehn bis zwanzig Frauen mit Essstörungen nur etwa ein männlicher Patient. Doch untersucht man die Allgemeinbevölkerung, liegt das Verhältnis über alle Essstörungen hinweg schon bei vier zu eins. Betrachtet man die einzelnen Krankheitsbilder, zeigt sich nur bei der Anorexia nervosa – so der medizinische Begriff für die Magersucht, kurz Anorexie – und der Bulimia nervosa, kurz Bulimie, ein größerer Abstand zwischen Männern und Frauen: Der Anteil der Männer unter den Patienten und Patientinnen beträgt bei der Anorexie 10 Prozent und bei der Bulimie noch etwas weniger, während er bei der Binge-Eating-Störung bei 30 bis 40 Prozent liegt.

Die Symptome der einzelnen Störungsbilder sind bei Männern und Frauen grundsätzlich ähnlich, ein Unterschied findet sich vor allem beim Körperbild: „Frauen mit Anorexie und Bulimie haben Angst, zu dick zu sein, bei Männern kommt häufig noch die Angst hinzu, nicht muskulös genug zu sein“, sagt Voderholzer. Breite Schultern, schmale Taille, ausgeprägte Muskulatur: Diese Statur verkörpert in unserer Gesellschaft die Männlichkeitsideale von Stärke, Durchsetzungskraft und Disziplin.

Das „Muskelstreben“ kann sich zu einer regelrechten Muskeldysmorphie entwickeln. Dabei haben die Betroffenen auch bei einem überdurchschnittlich muskulösen Körper die verzerrte Wahrnehmung, sie seien zu schmächtig. Sie trainieren extrem viel und befolgen strenge, auf Muskelwachstum ausgerichtete Diätpläne. Teilweise ­nehmen sie auch missbräuchlich Medikamente ein. Der Übergang zur Magersucht ist fließend, eine Magersucht kann so aber unter Umständen auch verdeckt werden: Die Männer wirken durchtrainiert und fit, durch die Muskeln bringen sie vielleicht ein normales Gewicht auf die Waage, können aber trotzdem unterernährt sein.

Männer mit einer Muskeldysmorphie, auch Muskelsucht genannt, haben auch bei einem überdurchschnittlich muskulösen Körper die verzerrte Wahrnehmung, zu schmächtig zu sein. Sie trainieren extrem viel und befolgen strenge, auf Muskelwachstum ausgerichtete Diätpläne. Teilweise nehmen sie auch missbräuchlich Medikamente ein. Der Übergang zur Magersucht ist fließend.

Während es oben im Haus schon nach Brötchen duftet, zeigt Florian Tenndorf unten im Keller sein Fitnessstudio: eine Bank mit einer quer darüber gelegten langen Hantel und ein „Multi-Kraftturm“ mit einer Beinpresse und einem Seilzug, um den Trizeps zu trainieren. Zur Demonstration legt sich Tenndorf auf die Hantelbank, stemmt die Langhantel über dem Kopf nach oben – und bricht sofort wieder ab. „Das darf ich ja gar nicht.“ Noch wiegt er zu wenig, um wieder mit dem Krafttraining zu beginnen.

Kalorientracken als „Einstiegsdroge“

Tenndorf hat früher unzählige Stunden im Fitnessstudio verbracht. Mit einem Zehn-Wochen-Programm zum Muskelaufbau begann vor acht Jahren seine Magersucht. Er unterwarf sich einem rigiden Trainings- und Essensplan. Von Woche zu Woche steigerte sich sein tägliches Krafttraining. Mithilfe einer App trackte er, welche Nährstoffe in welchen Mengen er zu sich nahm, insbesondere Kohlenhydrate und Eiweiße sollten immer mehr werden, um den Muskelaufbau zu beschleunigen. Zusätzlich trank er Eiweißshakes. „Das Tracken der Nahrung war für mich die Einstiegsdroge“, sagt Tenndorf. Seitdem beschäftige er sich exzessiv mit Nahrungsmitteln und wisse genau, wie viel von was wo drinsteckt.

Während sich eine Magersucht bei Männern manchmal hinter dem Streben nach Muskeln verbirgt, versteckt sich eine Binge-Eating-Störung bei ihnen oft hinter Übergewicht. „Schätzungsweise ein Fünftel bis ein Drittel der Menschen mit Adipositas, also starkem Übergewicht, leiden an Symptomen der Binge-Eating-Störung“, sagt Voderholzer. Die Krankheit ist durch Essanfälle gekennzeichnet, die – im ­Unterschied zur Bulimie – nicht durch Sport oder Erbrechen kompensiert werden. Meistens nehmen die Betroffenen deshalb deutlich zu. Die Binge-Eating-Störung ist eine noch nicht so bekannte Essstörung: In der internationalen Klassifikation von Krankheiten, der ICD-10, wird sie nur unter „sonstige Essstörungen“ aufgeführt und erst in der ICD-11, die noch nicht in Deutschland eingeführt ist, als eigenständige Diagnose berücksichtigt.

Essen als Trostpflaster

Oliver Nurtner wiegt 150 Gramm rote Linsen ab, wäscht sie und kocht sie in einem Topf mit Wasser auf. Das andere Gemüse, das bereits in der Pfanne brutzelt, würzt er mit Pfeffer und Salz aus einer elektrischen Mühle. Die hat er von seiner Mutter und seinen vier Geschwistern zum Einzug geschenkt bekommen. Sein Vater ist vor drei Jahren gestorben, den Verlust hat er als nicht allzu groß empfunden. „Mein Vater war ein Pascha und hat uns geschlagen. Meine Mutter hat mir dann immer was Leckeres gekocht, um das wiedergutzumachen.“ Durch die psychotherapeutischen Gespräche in der Klinik sei ihm aufgegangen, dass sein Bezug zum Essen damit in der Kindheit angelegt wurde: Essen war mit Trost fest verknüpft.

Gegessen hat er immer gerne, sagt Nurtner, aber auch immer viel Sport getrieben. Fußball sei seine Leidenschaft gewesen. Doch dazu kam er später nicht mehr, weil er seine ganze Energie in die Arbeit steckte. Er wollte sich selbst und anderen beweisen, dass er kein Versager ist: „Ich bin nämlich Studienabbrecher“, schießt es plötzlich aus ihm heraus. „Ich habe mir immer vorgeworfen, dass ich mein Studium der Elektrotechnik nicht zu Ende gebracht habe.“ Der innere Druck sei immer größer geworden. „Seit der Geburt meines ersten Kindes hatte ich nur noch das Gefühl: Ich muss, ich muss, ich muss.“ Oliver Nurtner leitete ein Callcenter, dann einen Standort eines Paketzulieferers, zuletzt führte er den Kundenservice einer Bank und hatte die Verantwortung für viele Mitarbeitende. Er wechselte oft die Arbeitsstellen, um noch mehr Geld zu verdienen.

Essen, um die Gedanken auszuschalten

Damit habe er auch die Zuwendung seiner Frau zurückgewinnen wollen, die sich immer mehr von ihm abkapselte, sagt er rückblickend. „Nichts, was ich tat, war ihr gut genug.“ Er machte Überstunden „wie ein Irrer“, aß tagsüber nichts und konnte sich abends nicht mehr bremsen. „Ich war auch emotional komplett ausgehungert. Ich habe gegessen, weil ich mich einsam gefühlt habe“, erzählt er. Als es ihm so schlechtging, dass er nicht mehr arbeiten konnte, habe seine Frau die Trennung angeregt. Nurtner zog in die Ferienwohnung seiner Schwester, guckte den ganzen Tag fern und aß sich mit Fertiggerichten so pappsatt, „dass ich nicht mehr denken musste“. Sein Leben schien ihm ein Scherbenhaufen. Er dachte an Selbsttötung.

Schwierige Lebensumstände, Trennungen, Einsamkeit, völlige Überlastung können der Auslöser dafür sein, dass eine Essstörung richtig ausbricht: „So grundverschieden Anorexia nervosa und die Binge-Eating-Störung wirken – die dahinterliegenden Ursachen sind ähnlich“, betont Psychiater Voderholzer. „Das können traumatische Erlebnisse in der Kindheit sein, Erfahrungen von Ausgrenzung, ein fragiles Selbstwertgefühl oder Persönlichkeitsmerkmale wie Perfektionismus, aber auch eine erbliche Veranlagung.“

In vielen Kliniken würden Menschen mit einer Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating-Störung deshalb auch gemeinsam behandelt, sagt er. „Das Wichtigste ist, dass die jeweilige Klinik auf Essstörungen spezialisiert ist.“ Essstörungen seien tiefsitzende Erkrankungen, das werde manchmal unterschätzt. Die Ansatzpunkte für die betroffenen Männer und Frauen sind in wichtigen Aspekten vergleichbar: „Vor allem eine feste Mahlzeitenstruktur mit drei festen Essenszeiten am Tag erleben die Patientinnen und Patienten als hochentlastend.“ In der Therapie gehe es vor allem darum, Emotionen zu regulieren. „Bei schwierigen Gefühlen wie Einsamkeit, Traurigkeit, Ärger oder Ängsten reagieren Patienten mit Magersucht, indem sie nichts mehr essen, und Binge-Eating-Patienten, indem sie richtig viel essen. In beiden Fällen dient das Verhalten dazu, mit negativen Gefühlen besser klarzukommen.“

Lasten und Belastungen

Oliver Nurtner füllt sich den Teller mit Spaghetti und der Linsenbolognese, den Rest wird er einfrieren. Während seines achtwöchigen Aufenthalts in der Fontane-Klinik in Mittenwalde, südlich von Berlin, hat er bereits dreizehn Kilogramm abgenommen, auch wenn das nicht das Ziel der Therapie war. In der Körpertherapie hat er gelernt, seinen Körper wieder mehr zu spüren. Beeindruckt hat ihn die „Gewichte-Übung“, bei der er vollgepackt wurde mit schweren Gegenständen.

Nurtner zeigt ein Foto auf seinem Handy: Sandsäcke liegen da auf seinen Schultern und Armen, an den Armen hängen einige Reifen, in den Händen trägt er befüllte Eimer, selbst seine Füße sind mit Kissen beschwert. Die anderen Patienten hätten immer gefragt: „Noch mehr?“ Und er habe geantwortet: „Ja, geht noch.“ Für ihn war das eine eingängige Erfahrung: „Da habe ich gemerkt, was ich mir eigentlich alles aufgebürdet habe.“ Dann hieß es: Alles auf einen Schlag abschütteln. „Dieses Gefühl habe ich noch gut in Erinnerung – wenn die ganze Last von einem abfällt.“

Auch bei Florian Tenndorf ballten sich die Belastungen. Er arbeitete Vollzeit als Lehrer und machte eine ­Weiterbildung zum Fachlehrer Sonderpädagogik. Gleichzeitig modernisierte er das Holzhaus der Familie. Es fiel ihm schwer, Arbeiten aus der Hand zu geben. „Wenn die Handwerker gestrichen haben, bin ich noch mal drübergegangen. Alles war nie gut genug.“ Das Zehn-Wochen-Programm zum Muskelaufbau war damals als Stressausgleich gedacht. Tenndorf ahnte nicht, wie krank ihn das machen würde. Und um noch eins draufzusetzen, begann er mit dem Laufen. Er schloss sich einer Läufergruppe an, gewann aus dem Stand heraus mehrere Wettbewerbe, seine schlanke, leichte Figur wurde von allen gelobt. „Ich habe damals abgespeichert, dass leichter im Gewicht gleich effizienter ist.“

Veranlagung für Magersucht in der Familie

Tenndorf nimmt die Brötchen aus dem Ofen – alle sind perfekt gerundet, goldbraun gebacken – und führt anschließend durch das gesamte Erdgeschoss. Durch die große Fensterfront scheint die Wintersonne, gemütliche Dachbalken, selbst angefertigte Möbel aus Vollholz – alles passt perfekt an seinen Platz. Das Haus war die Studienarbeit seines Vaters, eines Architekten. Zu seinen Eltern habe er ein enges Verhältnis, sagt er; sie wohnen gegenüber, auf der anderen Seite der Dorfstraße. Was er von seiner Familie mitbekommen hat, ist die Veranlagung für die Erkrankung: Auch seine Tante und seine Schwester hatten Magersucht. Seine spätere Kindheit sei dadurch getrübt gewesen, dass er in der Schule gemobbt wurde, sagt Tenndorf. Er sei von Mitschülern geschlagen und „wie ein Fußabtreter“ behandelt worden. Da fing es an mit dem „zweiten Gesicht“, wie er es nennt: Er ließ sich von außen nichts anmerken, machte immer weiter, auch wenn er eigentlich gar nicht mehr konnte.

In seiner Zeit in der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee saß anfangs beim Essen immer eine Therapeutin neben ihm, erinnert er sich. „Die hat genau geschaut, ob ich auch wirklich alles bis auf den letzten Krümel aufesse.“ Eine solche Essbegleitung ist ein zentraler Baustein in der Therapie der Anorexia nervosa. Später war die sogenannte „Pizza­exposition“ seine große Herausforderung. Pizza – vor diesem kalorienhaltigen Lebensmittel hatte er besonders große Angst. Seine Aufgabe: in der Pizzeria in der Nähe der Klinik eine ganze Pizza zu essen. Sein Ziel: seine Frau zu einer Pizza einladen. Tenndorf steht in seinem Wohnzimmer vor einem Foto, das das Paar vor Ausbruch seiner Erkrankung zeigt, beide lachen fröhlich, er mit cool nach hinten gegeltem Haar. Er blickt versonnen darauf. „Das ist ja eigentlich kein Zustand, vor dem man Angst haben muss“, sagt er leise.

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Quellen

Universitätsklinik für Psychosomatik der Ruhr-Universität Bochum: Männer mit Essstörung

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Essstörungen bei Jungen und Männern

Landesfachstelle Essstörungen NRW (Hrsg.): Essstörungen bei Jungen und Männern. Köln 2019

Stephan Herpertz u. a. (Hrsg.): Handbuch Essstörungen und Adipositas. Springer 2022. Darin: Barbara Mangweth-Matzek: Essstörungen bei Männern (S. 109-115)

Bundesfachverband Essstörungen (BFE) e.V. https://www.bundesfachverbandessstoerungen.de

Deutsche Gesellschaft für Essstörungen (DGESS) e.V. https://www.dgess.de/aktuelles

Gerrit Brandt u. a.: Gender differences in individuals with obesity and binge eating disorder: A retrospektive comparison of phenotypical features and treatment outcomes. European Eating Disorders Review 31, 2023, 413–424

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Martin S. Lehe u. a.: Invisible walls? Stigma-related perceptions are associated with reduced help-seeking intentions for disordered eating in men. Journal of Eating Disorders, 12, 200, 2024

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Ulrich Voderholzer u. a.: Are there differences between men and women in outcome of intensive inpatient treatment for anorexia nervosa? An analysis of routine data. European Eating Disorders Review, 27, 2019, 59–66

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2025: Mit schwierigen Menschen leichter leben