„Glück kann verführbar machen“

Der Psychologe Joseph Forgas ist überzeugt: Um ein zufriedenes Leben führen zu können, sollte man auch negativen Emotionen einen Platz einräumen.

Eine junge Frau im Yoga-Kurs streckt glücklich und zufrieden die Arme nach oben
Beim Yoga kann man sich auf das eigene Befinden und die eigenen Emotionen konzentrieren © 10'000 Hours/Getty Images

PSYCHOLOGIE HEUTE Herr Professor Forgas, manche Leute halten Sie für einen Propheten des Trübsinns!

JOSEPH FORGAS Ach was! Ich bin ganz sicher kein Prophet des Trübsinns, das will ich gleich klarstellen. Was ich allerdings sage: Es ist nett, glücklich zu sein. Aber emotionale Schwankungen gehören nun mal dazu. Das hat evolutionäre Gründe und wirkt sich täglich auf die Entscheidungen aus, die wir treffen.

PH Das sehen viele Ihrer Kollegen aber anders, vor allem die Fans der positiven Psychologie.

FORGAS Ja, die…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

.

PH Das sehen viele Ihrer Kollegen aber anders, vor allem die Fans der positiven Psychologie.

FORGAS Ja, die erzählen uns, dass es immer und überall das Beste ist, wenn wir glücklich sind. Am besten rund um die Uhr.

PH Aber Sie können den Menschen doch nicht vorwerfen, dass sie glücklich sein wollen!

FORGAS Das mache ich ja auch nicht. Es ist die natürlichste Sache der Welt, dass wir lieber glücklich als unglücklich sind. Die Suche nach Glück ist eine der grundlegenden Eigenschaften des Menschen. Manche wie der britische Philosoph David Hume im 18. Jahrhundert sehen im hedonistischen Streben sogar das wichtigste Prinzip, das menschliches Verhalten erklären kann. Aber wenn ich die Ergebnisse der modernen Psychologie betrachte, kann ich eines sagen: Die Natur hat uns ganz sicher nicht dazu gemacht, vorwiegend glücklich zu sein.

Beispielsweise hat der Neurowissenschaftler António Damásio nachgewiesen, dass es das gesamte emotionale Repertoire braucht, um als Mensch sozial zu funktionieren. Es ist doch auffallend, dass unser emotionales Repertoire trotz der steten Suche nach Glück stark verzerrt ist in Richtung negative Emotionen. Nur zwei der sechs Basisemotionen des Menschen sind positiv: Glück und Überraschung. Dem stehen vier negative Emotionen gegenüber: Angst, Wut, Ekel und Trauer. Die gehören einfach zu uns. Die Menschen früherer Epochen haben das intuitiv akzeptiert.

PH Vielleicht sogar kultiviert?

FORGAS O ja, die Leute haben die negativen Emotionen als wertvollen Teil der menschlichen Erfahrungswelt anerkannt. Viele der größten Errungenschaften des menschlichen Geistes wurden geboren aus Trauer, Missstimmung und sogar Depression. Unzählige Werke der klassischen westlichen Literatur handeln davon, wie negative Gefühle heraufbeschworen werden. Seit der griechischen Antike gibt es mehr Tragödien als Komödien. Schauen Sie nur auf Shakespeare. In Kunst und Literatur wird Fröhlichkeit locker von der Ernsthaftigkeit abgehängt. Seit jeher geben die Künste den Menschen wertvolle Hinweise darauf, wie sie mit ihrer vollständigen Gefühlswelt umgehen sollten. Also auch mit Traurigkeit – oder besser gesagt: gerade mit Traurigkeit. In diesem Licht bieten zum Beispiel große literarische Werke etwa von Tschechow oder Ibsen eine Art Selbsthilfe.

PH Man kann ja irgendwie begreifen, dass Angst, Wut und Ekel eine Funktion im Sinne der darwinschen Evolution erfüllen. Dass sie den Menschen also einen Überlebensvorteil sichern. Aber was ist mit Trauer?

FORGAS Stimmt: Angst bereitet den Organismus vor, zu fliehen, Wut zu kämpfen und Ekel, gefährliche Krankheitserreger zu vermeiden. Aber lange Zeit wussten wir einfach nicht, was es mit der Traurigkeit auf sich hat, der vielleicht am weitesten verbreiteten unserer negativen Emotionen. Wozu dient Traurigkeit? Erst in den vergangenen Jahren haben wir gelernt, dass milde und vorübergehende Traurigkeit adaptiv im Sinne der Evolutionstheorie sein kann.

PH Inwiefern?

FORGAS Wir gehen davon aus, dass Traurigkeit wie ein automatisches unbewusstes Warnsignal fungiert, dass auf ungewöhnliche, neue oder problematische Herausforderungen hinweist. Der Effekt ist verblüffend: Sie löst in unserem Gehirn einen Verarbeitungsmodus aus, der nach außen gerichtet ist. Das heißt: Wir achten verstärkt und effektiver auf Informationen aus der Außenwelt und nicht so sehr auf interne, bereits im Gehirn vorhandene Informationen wie Erinnerungen und so weiter. Stellen Sie sich vor, Sie gehören einer Gruppe an, haben aber das Gefühl, dass Sie nicht wirklich akzeptiert sind. Das macht Sie traurig. Und das ist dann wie ein Signal: „Pass genau auf!“ Diese Theorie der Anpassungsfunktion der Emotionen haben übrigens meine deutschen Kollegen Herbert Bless von der Universität Mannheim und Klaus Fiedler von der Universität Heidelberg ausgearbeitet. Viele experimentelle Untersuchungen unterstützen dieses Modell.

PH Traurigkeit kann also in ganz konkreten Situationen sehr nützlich sein?

FORGAS Ja, denn unsere Studien zeigen: In vielen Situationen lohnt es sich, ein bisschen traurig zu sein und nicht im Glücksgefühl zu baden. Die Stimmung beeinflusst die Art des Denkens.

PH Warum? Wie funktioniert dieser Zusammenhang?

FORGAS Weil: Je mehr und je länger und je intensiver Sie über eine Situation nachdenken, desto mehr nutzen Sie Informationen aus Ihrem Gedächtnis, um sie zu bewerten. Das haben wir in unseren Laborstudien festgestellt. Wir bringen unsere Probanden gezielt in eine gewünschte Stimmung. Sie sehen lustige oder traurige Filme. Sie sollen sich an schlimme oder glückliche Momente in ihrem Leben erinnern, oder sie erhalten ausgezeichnete oder miserable Bewertungen auf Tests, die wir sie machen lassen. In der darauffolgenden Phase testen wir sie bei bestimmten Aufgaben – zu Aspekten, die uns interessieren. Und schauen nach, wie sich die unterschiedlichen Stimmungen auf ihre Leistungen, ihr Verhalten und ihre Entscheidungen auswirken. Zum Beispiel auf ihre sprachliche Überzeugungskraft.

PH Wie sieht es da aus? Können wir das besser, wenn wir weniger gut drauf sind?

FORGAS Ja. Wir haben das sehr klar gezeigt. Die negativer Gestimmten überzeugen andere leichter als Menschen, die in positiver Stimmung sind, und liefern unter diesen Umständen die besseren Argumente. Warum? Weil sie sich mehr auf konkrete Details konzentrieren, die sie aus der Situation heraus wahrnehmen. Bei allen Leistungen, bei denen Umweltinformationen wichtig sind, sind die Negativen im Vorteil.

PH Zum Beispiel?

FORGAS Wir haben inzwischen Dutzende Studien zum Thema gemacht. Wir haben zum Beispiel den Effekt der Stimmung auf die Skepsis der Menschen überprüft. Sie sollten angeben, welche gängigen Mythen sie für wahr oder falsch halten. Etwa ob die CIA Kennedy ermordet hat. Probanden in Glücksstimmung zeigten sich deutlich leichtgläubiger als die negativ Gestimmten. Glück kann also unaufmerksam und verführbar machen. Melancholisch Gestimmte erfassen auch bestimmte Situationen besser. In einer Studie haben wir unsere Probanden gebeten, auf einen Monitor zu starren und so schnell wie möglich mit einem Joystick zu schießen, falls sie sich durch das Geschehen auf dem Bildschirm in Gefahr glaubten. Einige der dort präsentierten Personen trugen muslimische Kopfbedeckungen. Die glücklichen Teilnehmer schossen deutlich öfter auf diese Menschen als die traurigen Probanden – auch wenn die Leute mit den „typischen“ Kopfbedeckungen keine Waffe in der Hand hielten, sondern nur eine Coladose. Die Glücklichen gaben eher ihren inneren Vorurteilen nach und konnten die äußere Gefahr schlechter einschätzen. Negativ gelaunte Leute urteilen genauer, lassen sich weniger von irrelevanten Informationen manipulieren. Sie sind auch die zuverlässigeren Augenzeugen mit einem besseren Gedächtnis für unbewusst wahrgenommene Szenen des Alltags.

PH Ich mache auch immer wieder die Erfahrung, dass sich die Glücklicheren egoistischer benehmen. Können Sie das bestätigen?

FORGAS In unseren Laborstudien benehmen sie sich tatsächlich egoistischer. In bestimmten Situationen, in denen Gemeinsinn gefragt ist, verhalten sich die Traurigen fairer. Und sie sind die empathischeren Menschen. Erst negative Gefühle wie Scham und Schuldbewusstsein motivieren uns, uns mehr um die Umwelt und die sozialen Normen zu kümmern, uns sozialer zu benehmen und an unseren schlechten Seiten zu arbeiten.

PH Ihre Kollegen von der positiven Psychologie sind da aber ganz anders unterwegs.

FORGAS Das ist ja auch das, was mich an den Vertretern der positiven Psychologie etwas stört: Die wollen uns Glück verkaufen und definieren sogar, was Glück ist. Für mich ist das fragwürdig. Das schürt nur falsche Erwartungen unter den Menschen. Die sehnen sich dann so sehr nach Glück, dass der Schuss nach hinten losgeht und sie möglicherweise noch unglücklicher werden. Wir müssen den Leuten vielmehr sagen, dass sie lernen sollten, mit ihrem gesamten emotionalen Repertoire umzugehen.

Der gebürtige Ungar Joseph Forgas flüchtete Ende der 1960er Jahre in den Westen. Seitdem ist er auch Deutschland verbunden, war Professor an der Universität Gießen, Gastprofessor an den Universitäten Mannheim und Heidelberg und erhielt den Alexander-von-Humboldt-Forschungspreis. Dass die Ungarn quasi angeboren zur Melancholie neigen, hält er für ein unbewiesenes Gerücht. Auf Besuch in seinem Geburtsland wundere er sich trotzdem immer wieder, wie negativ seine Landsleute durchs Leben gingen – im Vergleich zu den Menschen in seiner jetzigen Heimat Australien. „Aber sie haben auch einen Grund dafür“, sagt der Psychologieprofessor an der University of New South Wales in Sydney und verweist auf die von Leid geprägte Geschichte Ungarns. Ob ein Ungar nun per se prädestiniert ist, das Gute an der Traurigkeit zu erforschen, bleibt also dahingestellt.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2014: Zufriedenheit