Gefährliche Geheimnisse

Wenn man feststellt, dass ein naher Mensch ein geheimes Leben führt, kommt das einem Erdbeben gleich. Wie kann man wieder festen Halt gewinnen?

Ein junger Mann ist mit einer Frau im Bett und schaut dabei geheimnisvoll
Ist man in einer Beziehung hintergangen worden, ist das Grundvertrauen in den Partner dahin. © Merlas/Getty Images

Alles, was bislang mein Leben ausmachte, lag in Trümmern.“ Nach einer langjährigen Ehe, aus der zwei Söhne hervorgingen, muss die New Yorker Autorin und Lektorin Jane Isay erkennen: Das Leben mit ihrem Mann Dick war eine Lüge. Zwar hatte sie schon lange gespürt, dass etwas nicht stimmte: Ihr Mann schien keine Lust mehr auf Sex zu haben, und sie fragte sich: „Warum findet er mich nicht mehr anziehend? Bin ich zu fett? Vielleicht liegt es an meiner dominanten Persönlichkeit?“ Doch als er ihr versicherte,…

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Persönlichkeit?“ Doch als er ihr versicherte, alles sei in Ordnung, die Sexualität spiele in langjährigen Beziehungen nun mal keine große Rolle mehr, glaubte sie ihm. Sein Geständnis, das er ihr plötzlich eines Abends machte, traf sie deshalb mit voller Wucht: „Ich bin homosexuell.“ Über viele lange Jahre hinweg habe er versucht, mithilfe einer Psychoanalyse seine sexuelle Orientierung zu „heilen“, aber es habe nicht funktioniert, wie er seiner Frau nun eingestand. Jane Isay war verzweifelt: „Wie soll ich das überleben? Wie soll mein Leben weitergehen, kann es überhaupt weitergehen?“

Wenn man das Geheimnis einer geliebten, wichtigen Person entdeckt, schwankt die Erde; man wird regelrecht von den Beinen gefegt, verliert jeglichen Halt. Ein Mann sieht seine Frau im Arm eines Fremden im Café, eine Frau entdeckt durch eine nicht entsorgte Quittung die Spielsucht ihres Partners, ein heranwachsendes Kind trifft den Vater, der eigentlich bei der Arbeit sein soll, in der Stadt und erfährt auf diese Weise von seiner Arbeitslosigkeit – die Vorstellung, dass der andere womöglich über lange Zeit hinweg ein Doppelleben gelebt hat, verstört, kränkt, verletzt zutiefst. Von einem Moment auf den anderen steht alles infrage: die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. In diesem Ausnahmezustand versteht man die Welt nicht mehr, weiß nicht, ob man jemals wieder in der Lage sein wird, Vertrauen zu fassen und zu schenken.

Jane Isays Ehemann Dick berichtete ihr erleichtert von seinen Ausflügen in die Gay-Community und über seine heimlichen Besuche in einschlägigen Lokalen. Die Beichte tat ihm gut. Jane Isay aber war „erschüttert bis auf die Knochen“ und stürzte ins Badezimmer. „Ich nahm das heißeste Bad, das ich aushalten konnte, und ließ mich im Wasser versinken. Meine Haut prickelte von der Hitze, aber mir wurde nicht warm.“

Geheimnisse verunsichern und rütteln an der Identität

Die Familientherapeutin Evan Imber-Black, Direktorin des Center for Families and Health am Ackerman Institute for the Family in New York, ist eine ausgewiesene Geheimnisexpertin. Sie bestätigt: Dunkle Geheimnisse können das Leben der Betroffenen vergiften. „Sie wirken sich verheerend auf zwischenmenschliche Beziehungen aus. Solche Geheimnisse führen zur Zerreißprobe in den Beziehungen, sie stellen unsere Identität infrage und verunsichern uns zutiefst. Sie schränken unsere Fähigkeit ein, klare Entscheidungen zu fällen, unsere Kräfte sinnvoll zu nutzen und authentische Beziehungen zu pflegen.“

Am schlimmsten ist für viele Betroffene, dass sie nicht mehr vertrauen können. Quälende Fragen tauchen auf: Habe ich mich all die Jahre im anderen geirrt? Gab es die guten Zeiten, an die man sich erinnert, wirklich, oder war alles eine große Täuschung? Habe ich mein ganzes Leben auf Sand gebaut? Plötzlich wird klar, was das seltsame Telefonklingeln in der Nacht bedeutete, dass die ständigen Überstunden im Büro nicht stattgefunden haben, die angebliche Fehlbuchung der Bank einen anderen Grund hatte und dass das bleierne Schweigen am Familientisch nicht grundlos war. Auch Jane Isay wurde schlagartig klar: Die langen, angeblich einsamen Spaziergänge, die ihr Mann während der Ehe immer häufiger unternahm, führten ihn schurstracks in die Arme seiner Liebhaber. Nichts war so, wie sie dachte. Erkenntnisse wie diese sind geeignet, sich zu allem Elend nun auch noch dumm und gutgläubig fühlen zu müssen. Wenn wir das Geheimnis eines anderen entdecken, dann wird uns nicht nur klar, dass wir den anderen nicht in dem Ausmaße kennen, wie wir bislang glaubten. Es zeigt auch, so schreibt der Philosophieprofessor Harry G. Frankfurt, „dass unser eigenes Wesen unzuverlässig ist, da es uns dazu veranlasst hat, uns auf jemanden zu verlassen, dem wir nicht hätten vertrauen sollen. Es zeigt uns, dass wir nicht realistisch auf unsere Fähigkeit vertrauen können, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden – auf unsere Fähigkeit, anders gesagt, den Unterschied zwischen dem, was real ist, und dem, was nicht real ist, zu erkennen.“

Die Entdeckung eines Geheimnisses verstört also auf zweierlei Weise: Erschüttert wird das Vertrauen, das man in den anderen gesetzt hat. Erschüttert wird aber auch das Vertrauen zu sich selbst. Man muss sich eingestehen, dass man in einen „Zustand der Ignoranz“ gezwungen wurde, so Jane Isay, denn „man kann ja nicht wissen, was man nicht weiß. Höchstens spürt man, dass etwas nicht in Ordnung ist.“ Und weil dieses „Spüren“ äußerst unangenehm ist, geht man diesem Gefühl freiwillig nicht gerne nach. Später, wenn man die Wahrheit kennt, macht man sich häufig Vorwürfe: Hätte ich es nicht besser wissen müssen? Wie konnte ich so dumm sein? Warum habe ich es nicht wahrgenommen?

Schutz vor schmerzhaften Wahrheiten

Selbstanklagende Fragen wie diese erschweren jedoch das Weiterleben nach der Wahrheit. Man sollte mit sich nicht so hart ins Gericht gehen, sondern sich stattdessen um Verständnis für sich selbst bemühen. Denn es gibt immer gute Gründe, nicht wissen zu wollen – und unsere Seele kennt Mittel und Wege, die vor zu schmerzhafter Wahrheit schützen.

So hilft sie uns beispielsweise, eine sogenannte „kognitive Dissonanz“ zu vermeiden. Wenn wir einmal eine Entscheidung getroffen haben, wollen wir daran glauben, dass es eine gute war. Wir wollen über uns selbst als klug und richtig liegend denken. Eine neue anderslautende Information widerspricht diesem Glauben, stellt ihn infrage. Lassen wir diese Information zu, erleben wir einen kognitiven Zwiespalt, den wir als belastend und schmerzhaft empfinden. Deshalb wollen wir sie nicht wahrhaben. Für diesen Prozess stehen uns, wie Sigmund Freud und seine Tochter Anna Freud festgestellt haben, seelische Abwehrmechanismen zur Verfügung. Mit dem Mittel der „Verleugnung“ beispielsweise weigern wir uns – bewusst oder unbewusst –, bestimmte Situationen und Ereignisse so zu sehen und zu akzeptieren, wie sie sind. Wir biegen uns die Realität zurecht, damit sie erträglicher wird. Oder wir praktizieren den Abwehrmechanismus „selektive Wahrnehmung“ und achten nur auf das, was in unser Bild passt.

Auch der sogenannte sunk cost effect, der Effekt der versenkten Kosten, kann erklären, warum wir davor zurückschrecken, das Geheimnis eines anderen wichtigen Menschen aufzuspüren. Wenn man für ein Ziel, ein Projekt viel investiert und hart dafür gearbeitet hat, dann wünscht man sich verständlicherweise, dass sich das Ganze lohnt. Bemerkt man Anzeichen dafür, dass man einen Irrweg eingeschlagen hat oder die Situation eine negative Entwicklung nimmt, will man es oft nicht wahrhaben. Nach dem Motto „Jetzt habe ich schon so viel dafür getan, jetzt kann ich das doch nicht einfach loslassen“ halten wir am angestrebten Ziel fest.

Beziehungen auf eine neue Grundlage stellen

Jane Isay erging es ähnlich. „Viele Frauen, konfrontiert mit einer solchen Enthüllung, sind verzweifelt, wütend und fühlen sich betrogen, sie trennen sich von ihren homosexuellen Männern. Ich aber wollte mein Leben nicht ändern.“

Wenn der Effekt der versenkten Kosten am Werke ist, blendet man jedoch wichtige Fragen aus und übergeht sein Bauchgefühl, das oft ganz anderer Meinung ist. Man will nicht wahrhaben, dass sich die Grundvoraussetzungen geändert haben, dass das gewünschte Ziel möglicherweise längst unerreichbar geworden ist und alle weiteren Anstrengungen nicht mehr fruchten.

So verständlich der Wunsch ist, dass sich das Leben nicht ändern soll, nach der Aufdeckung eines schwerwiegenden Geheimnisses muss es sich ändern. Um die neu entstandene Situation bewältigen zu können, muss man die Bindung an den Geheimnisträger lösen und zugleich nach einer Alternative suchen. Denn selbst wenn das Geheimnis die Beziehung nicht zerstört, so zwingt es die Beteiligten dennoch, das Miteinander auf eine andere, neue Grundlage zu stellen. Auch Jane Isay und ihr Mann Dick kamen um diesen schweren Schritt nicht herum. Denn mit der Zeit zeigte sich, dass das bisherige Leben nicht mehr aufrechtzuerhalten war. „Er hatte die Liebe seines Lebens, und ich hatte die Goldberg-Variationen. Ich war so einsam, dass es wehtat.“ Die Scheidung war unausweichlich.

„Wenn ein Weg verschüttet ist, wird ein anderer sichtbar“ 

Wenn die Wahrheit auf dem Tisch liegt, ist das bisherige Skript unseres Lebens an einem vorläufigen Ende angekommen. Alles, was vor der Enthüllung unsere Identität geformt und den Sinn unseres Lebens definiert hat, muss im Lichte des neuen Wissens betrachtet und neu formuliert werden. Wir sind gezwungen, unser Lebensdrehbuch neu zu schreiben und den erlittenen Verrat zu integrieren. Eine Revision der eigenen Geschichte steht an. Eine Revision, die nichts beschönigt, nichts verleugnet und es dennoch möglich macht, einen neuen Sinn zu finden.

Wie wichtig ein Perspektivenwechsel nach einem schwerwiegenden „Ereigniseinbruch“ ist, betonen die Psychologen Charles S. Carver und Michael F. Scheier. Sie haben sich wissenschaftlich mit dem Thema „Scheitern“ auseinandergesetzt und stellen fest: „Wenn ein Weg verschüttet ist, wird ein anderer sichtbar. Indem ein nicht erreichbares Ziel aufgegeben wird, gleichzeitig aber ein anderes gewählt wird, bleibt die Person in einer Vorwärtsbewegung. Das Leben hat weiterhin einen Sinn. Die Bereitschaft, einen Wechsel vorzunehmen, wenn die Umstände es erfordern, ist eine wichtige menschliche Stärke.“ Und: Die Fähigkeit, sich im Falle eines Verrates oder Betruges neu zu definieren, ist der beste Schutz vor Depressionen.

Das hat auch Jane Isay so erfahren. „Endlich weiß ich Bescheid“, schreibt sie am Ende ihres Buches und ermutigt Betroffene: „Die Wahrheit zu kennen, auch wenn man sie noch so sehr fürchtet, gibt Ihnen Kraft. Sie setzt Ihre Kräfte frei, fördert Ihre seelische Widerstandskraft und ermöglicht es Ihnen, neue und schwierige Erlebnisse in eine richtige Perspektive zu rücken. Haben Sie keine Angst vor der Wahrheit, wie sehr sie auch verletzen mag. Das Leben weiß einen Weg, wie es weitergehen kann.

Literatur

  • Harry G. Frankfurt: Über die Wahrheit. Hanser, München 2007

  • Evan Imber-Black: Die Macht des Schweigens. Geheimnisse in der Familie. Klett-Cotta, Stuttgart 1999

  • Jane Isay: Secrets and lies. Surviving the truths that change our lives. Doubleday, New York 2014

Das geht niemanden etwas an!

Die wichtige Rolle guter Geheimnisse

„Geheimnisse sind für den Menschen lebensnotwendig wie das Feuer und werden wie dieses gefürchtet. Geheimnisse wie Feuer stärken und schützen das Leben, können es aber auch ersticken, Verwüstungen anrichten und sich unkontrolliert ausbreiten. Beide können dazu dienen, die Intimsphäre zu schützen oder zu verletzen, beide können nähren oder verzehren.“

Dieses Zitat der in Schweden geborenen und in den USA lehrenden Geheimnisexpertin Sissela Bok beschreibt sehr anschaulich die Komplexität von Geheimnissen. Manche sind „vergiftend“, sie richten im Leben aller Betroffenen schlimme Schäden an. Langjährige Untreue, verschwiegene Erkrankungen, Suizide, eine geheimgehaltene Adoption, Missbrauch – solche schwerwiegenden Vertrauensbrüche können das Leben der Betroffenen nachhaltig beschädigen.

Daneben aber gibt es noch andere Geheimnisse – sie kennt jeder von uns, denn sie sind allgegenwärtig. Gedanken, die wir für uns behalten; Pläne und Fantasien, über die wir mit niemandem reden; unser Intimleben – diese Geheimnisse gehören zu den „guten“, sie schaden niemandem, im Gegenteil: Sie sind notwendig für unsere Integrität und Individualität. „Man hat kein eigenes Selbst, solange man kein Geheimnis hat“, davon war der vor einem Jahr verstorbene Psychologieprofessor Daniel Wegner überzeugt. „Wir alle kennen Momente in unserem Leben, in denen wir das Gefühl haben, uns selbst in einer sozialen Gruppe, der Arbeit oder einer Ehe zu verlieren. In diesen Situationen ist es gut, wenn man auf ein Geheimnis zurückgreifen kann, um sich seiner Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu versichern.“ Gute Geheimnisse geben uns einen „Raum für uns allein“, sie erst machen eine geschützte Privatsphäre möglich.

Das gilt auch für Paarbeziehungen. Auch hier ist vollkommene Offenheit nicht unbedingt ein Glücksgarant für eine Beziehung. „Keine Geheimnisse, das heißt keine Abgrenzung, kein unabhängiges Selbst, keine privaten Briefe oder Tagebücher, kein Raum für eigene Träume, nichts Rätselhaftes. Wenn zwei Ich sich in einem Wir auflösen, verschwindet die Freude am Unterschied. Paare, die keine Geheimnisse voreinander haben, kommen häufig zur Therapie, weil ihre Beziehung langweilig und trist geworden ist.“

Gute Geheimnisse ermöglichen es zwei Menschen, sich immer auch etwas fremd zu bleiben, und halten damit das Interesse aneinander aktiv. Umgekehrt aber können Geheimnisse der guten Art die Bindung zwischen Menschen stärken. „Wenn Geschwister vor ihren Eltern Geheimnisse haben, dann entwickeln sie einen Sinn für Unabhängigkeit und fühlen sich nah.“ Umgekehrt müssen auch Kinder nicht immer alles von den Eltern wissen. Gute Geheimnisse von Familienmitgliedern errichten sinnvolle Grenzen zwischen den Generationen, und sie schützen zudem die Familie vor der Welt „da draußen“. „Das geht niemanden außer uns was an“ – diese Haltung stärkt den Zusammenhalt zwischen Familienmitgliedern und gibt Sicherheit.

Der Preis der Enthüllung

Wer sich entschließt, sein Geheimnis zu lüften, muss seine Motive prüfen und Verantwortung übernehmen

Soschwer drückt nichts, wie ein Geheimnis drückt“, meinte der französische Schriftsteller Jean de La Fontaine. Neue Forschungsarbeiten zeigen, dass er recht hatte. Ein Geheimnis zu haben kann sich tatsächlich anfühlen wie eine körperliche Last. Für eine Studie fanden Forscher per Internet Teilnehmer, die ihre Partner betrogen hatten. Sie baten sie, anhand einer Skala zu beschreiben, wie sehr sie selbst unter dem Geheimnis litten. Anschließend sollten sie in einem weiteren Fragebogen angeben, für wie schwer sie verschiedene Aufgaben einschätzten. Dazu gehörten zum einen leichte körperliche Anstrengungen wie mit dem Hund Gassi gehen oder Tätigkeiten, die keinen körperlichen Einsatz verlangten (wie Geldwechseln, jemandem den Weg zeigen). Das Ergebnis bestätigte: Geheimnisse wiegen schwer. Denn je mehr die Geheimnisträger unter ihrer Untreue litten, als umso mühsamer schätzten sie die körperlichen Aktivitäten ein.

Ein ähnliches Ergebnis erbrachte eine weitere Studie. Hier sollte ein Teil der Teilnehmer anonym schriftlich ein ernstes Geheimnis beichten, ein anderer Teil sollte ein harmloses Geheimnis notieren. Danach wurde allen das Bild eines Hügels gezeigt, und sie sollten seine Steilheit einschätzen. Jene, die über ein schwerwiegendes Geheimnis berichtet hatten, empfanden den Hügel als deutlich steiler und schwerer zu bezwingen als jene, deren Geheimnis eher trivial und unbedeutend war. Vor allem diejenigen, die über ihr Geheimnis viel nachdachten, schätzten den Hügel als besonders hoch ein.

Es spricht also einiges dafür, dass ein Geheimnis so niederdrückend wie eine körperliche Last sein kann – und dass es verlockend erscheint, sich von dieser Last zu befreien. Doch wer sich mit dem Gedanken trägt, sein Geheimnis zu lüften, sollte sich vorher ehrlich Rechenschaft über seine Motive ablegen.

Häufig lüften Menschen ihr Geheimnis, weil sie die Last der Schuldgefühle und ihrer moralischen Bedenken nicht mehr tragen können oder wollen. Nach dem Motto „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ wollen sie auch ihr Wissen teilen, in der Hoffnung, sich nach dem Geständnis besser fühlen zu können. Das aber ist kein gutes, sondern ein egoistisches Motiv. Denn nur selten hat der andere, der betrogen und belogen wurde, so viel Kraft, für die Geheimniskrämerei Verständnis aufzubringen und dem anderen zu verzeihen.

Im Grunde gibt es nur drei wirklich gute Motive, um ein Geheimnis zu lüften:

  • Wenn man der ehrlichen Überzeugung ist, dass ein anderer Mensch einen Anspruch darauf hat, das Geheimnis zu kennen, weil dadurch sein Selbstbestimmungsrecht wiederhergestellt wird.

  • Wenn man glaubt, durch Ehrlichkeit eine Beziehung retten oder wiederherstellen zu können.

  • Wenn man seine eigene Integrität, seine Gesundheit oder die eines anderen und sein Gleichgewicht in Gefahr sieht.

Wichtige Fragen, die sich der Geheimnisträger vor der Enthüllung stellen sollte: Beeinflusst das Geheimnis eine andere mir wichtige Person oder mich selbst? Ist der andere oder bin ich selbst als Folge des Geheimnisses häufig niedergeschlagen, hat der andere oder habe ich selbst psychosomatische Symptome entwickelt, die auf das Vorhandensein des Geheimnisses zurückgeführt werden können? Ist die Kommunikation zwischen mir und anderen mir wichtigen Menschen durch das Geheimnis gestört, oder hat sie sich stark verschlechtert? Muss ich, um das Geheimnis zu wahren, ständig lügen und täuschen? Bin ich emotional überhaupt anwesend, oder zieht das Geheimnis so viel Energie ab, dass meine Beziehungen zu anderen darunter leiden?

Hat man nach reiflicher Überlegung entschieden: „Ich sag’s“, gilt es, günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. So sollte man nicht mit der Tür ins Haus fallen, sondern dafür sorgen, dass die schmerzliche Enthüllung an einem Ort stattfindet, der allen Beteiligten Schutz und Geborgenheit bietet. Möglicherweise sollte man zunächst einen unbeteiligten Dritten (zum Beispiel einen Psychotherapeuten) einweihen und sich Unterstützung holen.

Und schließlich sollte man sich keine Illusionen machen. Die Hoffnung, dass sich die mit dem Geheimnis bislang verbundenen Probleme allein durch die Beichte in Schall und Rauch auflösen, wird enttäuscht werden. Mit der Enthüllung des Geheimnisses entstehen neue Probleme, die unter Umständen für die betroffenen Personen eine harte Zerreißprobe mit sich bringen. Der ehemalige Geheimnisträger steht dann vor großen Herausforderungen. Dazu muss er bereit sein, bedingungslos alles offenzulegen, nichts mehr geheimzuhalten, er muss nachvollziehbar erklären, warum er das Geheimnis hatte, und er muss die volle Verantwortung für sein Verhalten übernehmen. Das heißt, er darf sich nicht herausreden, darf sich nicht rechtfertigen, sondern muss ehrlich bereuen und viel Geduld mitbringen, um Vertrauen wieder aufzubauen.

So erleichternd es sein mag, die Wahrheit zu sagen, so hoch ist der Preis. Der Psychotherapeut John Bradshaw hat sicher recht, wenn er meint: „Niemand kann dir einen besseren Rat geben als du selbst.“ Die Entscheidung „Enthüllen oder schweigen?“ ist immer eine einsame Entscheidung. Es gibt keinen allgemeingültigen Weg. „Niemand behauptet, sicher zu wissen, wann, wo und wie und wem Geheimnisse erzählt werden sollten. Das Beste, was wir tun können, ist, die Verantwortung für unsere eigenen dunklen Geheimnisse zu übernehmen.“

Michael L. Slepian u. .: The physical burdens of secrecy. Journal of Experimental Psychology, 141, 4, 2012, 619–624

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2014: Geheimnisse