Die Befreiung der Meerjungfrau

Therapiestunde: Wie die achtjährige Alma mithilfe einer Sandspieltherapie ihre Wut loslassen und ihre innere Welt auch für ihre Eltern öffnen kann.

Die Illustration zeigt eine Frau als Meerjungfrau, die in einem zu kleinen Glaskasten ist, aus dem ihre Schwanzflosse herausschaut
Ein kleines Mädchen verbrachte kurz nach der Geburt längere Zeit in einem Brutkasten. In der Sandtherapie verarbeitet sie ihre Erfahrungen mit dem Bild einer Meerjungfrau. © Michel Streich für Psychologie Heute

Eine Mutter fragt für ihre Tochter um Therapie an: Alma, so nenne ich sie hier, breche oft heftig in Wut aus, schreie lange und durchdringend und sei unerreichbar. Wie ich erfahre, könne sie nicht mitteilen, was mit ihr los ist. Dann wieder weine Alma haltlos. Das Familienleben sei hierdurch sehr belastet.

In der Therapie begegnet mir ein achtjähriges Mädchen, das infolge einer Frühgeburt und der nachfolgenden Ent­wicklungsverzögerungen noch immer deutlich jünger erscheint. Alma antwortet spontan auf Fragen…

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Ent­wicklungsverzögerungen noch immer deutlich jünger erscheint. Alma antwortet spontan auf Fragen nach Interessen und Hobbys; Fragen nach ihrem Erleben bleiben dagegen unbeantwortet. Schon bald wird sie unruhig, rutscht hin und her und sieht sich im Raum um. Ich bin froh, ihr spieltherapeutische Medien anbieten zu können, mit denen sie sich jenseits von Sprache ausdrücken kann. Nachdem sie die Handpuppen und die Rollenspielutensilien betrachtet hat, zieht es Alma zu dem kleinen Sandkasten in meinem Therapiezimmer und den Figuren, mit denen im Sand Szenen gebaut werden können.

Alma greift sofort in den Sand. In dem Umgang mit ihm spiegelt sich ihre impulsive Art: Schnell türmt sie ihn zu einem Berg auf und greift nach rotem Stoff, um Feuer darzustellen. Ein Vulkan sei dort ausgebrochen. Ebenso rasch räumt sie Flammen und Lava wieder fort und legt einen blauen Streifen über den Berg; entgegen der Schwerkraft fließt dort ein Fluss bergauf und bergab. Erst jetzt findet Alma in ein ruhigeres Bauen hinein – schweigend widmet sie sich ihrem Sandbild.

Traumatische Szenen im Sand entstehen

Es stellt sich eine tranceartige Atmosphäre ein, in der sie den Sand weiter formt, Figuren auswählt und hinzufügt. Zuschauend nehme ich Anteil am Gestaltungsprozess. Schließlich erklärt Alma ihr Sandbild für fertig. Ich halte es auf einem Foto fest und nehme an ihrer Seite Platz. Gemeinsam schauen wir auf den Sandkasten, in dem eine bedrohlich wirkende Szene entstanden ist:

Mit einer Pistole bewaffnet steht ein Mann auf einer Brücke, die über den Fluss führt. Er zielt auf ein großes Ei, das er stehlen will. In eine Kiste hat er eine Meerjungfrau gesperrt, die er töten will. Eine Frau liegt schlafend im Hintergrund, die von dem ganzen Geschehen nichts mitbekommt und nicht zur Hilfe kommen kann. Ein Mann filmt die Szene mit einer Kamera. Als mir Alma ihr Sandbild beschreibt, wirkt sie angespannt und aufgeregt.

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Sich mit einem fertigen Sandbild zu konfrontieren ist nach Margaret Lowenfeld, Begründerin der Sandspieltherapie, „als würde man mit einem Stück Realität zusammentreffen, fast als ob man unerwartet seinem Spiegelbild begegnete“. Häufig scheinen in Sandbildern traumatische Szenen auf, die dem Alltagsbewusstsein nicht zur Verfügung stehen und nur im Körpergedächtnis gespeichert sind. Auch Almas Sandbild verweist auf sehr frühe Lebensereignisse: Aus der Anamnese weiß ich von ihrer Frühgeburt und einer langen Zeit, in der sie im Brutkasten liegend von ihren Eltern getrennt war. Danach blieb sie in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt und war teils schmerzhaften Behandlungen ausgesetzt.

Die Position der Meerjungfrau spiegelt diese Erfahrungen, auch das bedrohte, noch nicht geschlüpfte Wesen im Ei erinnert an ein frühes Entwicklungsstadium: Ei und Kiste der Meerjungfrau sind mit einem transparenten grünen Stoff umgeben, als gehörten sie noch einem Zwischenreich an und seien noch nicht ganz auf der Welt angekommen.

Wie Bewegung in das Sandbild kommt

Im Sandbild finden sich auch Bezüge zu Almas weiterer Lebensgeschichte. Ihre Mutter hatte den Vater bei einem Auslandsaufenthalt kennengelernt, die beiden wurden ein Paar und ließen sich in Deutschland nieder. Während der ersten, noch glücklichen Ehejahre wurde die ältere Schwester geboren; später verschlechterte sich die Beziehung. Nach Almas Geburt erlitt die Mutter eine Wochenbettdepression.

Die Jahre danach waren von einer konfliktreichen Trennungsphase der Eltern geprägt, deren bedrohliche Aspekte im Sandbild spürbar sind. Da der Vater im Gegensatz zu seiner Frau beruflich nicht gut Fuß fassen konnte, kümmerte vor allem er sich um die Kinder. Umso größer war sein Verlust für Alma, als er nach der Trennung wieder in sein Herkunftsland zog.

Alma schaut wie gebannt auf das Sandbild, in dem zunächst keine Rettung erreichbar scheint. Als ich sie aber frage, wie die Geschichte weitergehen könnte, beginnt sie sofort zu handeln. Sie greift zu einem Dinosaurier und stellt ihn vor das Ei: Er ist der Vater des noch ungeschlüpften Dinokinds, das er beschützen will.

Danach lässt Alma den Mann mit der Kamera in Aktion treten. Er ruft die Polizei, ein Polizist wirft ein Netz über den gefährlichen Mann und nimmt ihn gefangen. Auch für die Meerjungfrau geht die Geschichte gut aus: Eine Frau geht auf ihrem Weg zur Arbeit an der Kiste vorbei, hört sie schreien, holt sich ein Schwert und befreit sie. Anschließend tauscht Alma die Figur der Meerjungfrau gegen ein Kind aus: Es sei nur verwandelt gewesen. Auf dem Abschlussfoto steht ein kleines Mädchen dicht neben seinen Eltern.

Margaret Lowenfeld entwickelte die Sandspieltherapie in den 1920er Jahren, um Kindern eine Ausdrucksmöglichkeit für ihr präverbales Erleben zu geben, das von ihnen sonst nicht mitteilbar sei. Später verband Dora Kalff die Methode mit den Theorien C.G. Jungs. In beiden Konzepten bleibt das Gebaute nach dem Aufbau stehen. In der narrativen Sandspieltherapie rege ich dagegen dazu an, die Bilder in Bewegung zu bringen. Zu Therapiebeginn wirken Sandbilder oft wie in einem Problemzustand erstarrt. Ich versuche, den Zugang zu Ressourcen wiederherzustellen und Perspektiven zu erweitern.

Entscheidend für eine Auflösung der Problemtrance ist meist bereits die Frage, wie die im Sandbild dargestellte Geschichte weitergehen könnte – allein die Suggestion, dass dies möglich sein könnte, bringt festgefahrene innere Bilder in Bewegung. Aus Problembildern entstehen oft überraschend schnell Wege zu einem gewünschten Zustand.

Michael White umschreibt den Ausgangspunkt narrativer Therapie mit der Frage: „Welchen Geschichten erlaubst du, dein Leben zu regieren?“ Gesucht wird nach besonderen Ereignissen, die sich von den bisher dominierenden Problemnarrativen unterscheiden. Im Sandspiel treten solche Momente oft in eindrucksvollen Bildern in Erscheinung. Um sie zu bewahren, fotografiere ich die Lösungsbilder und halte sie mit den Geschichten für die Kinder fest.

Neuerzählung der Vergangenheit auf dem Weg zur Heilung

Oft bilden Sandbilder auch untereinander eine Fortsetzungsgeschichte, bis ein Thema schließlich zu einem Ende kommt. Auch bei Alma wiederholen sich Motive und Lösungsversuche: Ein Mädchen sitzt weinend allein in einem Vulkankrater. Es hatte auf dem Berg gestanden und ein Lied gesungen, als der Vulkan ausbrach. Später steigt der Vater auf den Vulkan, um das Mädchen zu retten. Er versucht es aus dem Krater zu ziehen, aber das Mädchen bemerkt ihn nicht. Der Vater stürzt ab und kann nicht mehr zur Hilfe kommen.

Lange sitzt das Mädchen im Krater, während Speere auf es herabregnen. Schließlich klettern die Mutter und Schwester hinauf, entfernen die Speere und helfen ihm hinaus. Danach stehen alle im Kreis und erzählen dem Mädchen, was passiert ist. Der Vulkan wird zu einem „Berg, der nie wieder ausbricht“.

In einem späteren Sandbild ist ein Schwan in einem Netz gefangen und Gefahren ausgesetzt. Aus eigener Kraft kämpft er sich heraus. Vor ihm liegt ein Ei, aus dem ein Vogel schlüpft und sein Freund wird. Den Abschluss der Serie bildet ein Sandbild, auf dem im Inneren eines Vulkans noch Lava zu sehen ist. Darüber ist jedoch in der Zwischenzeit viel Grün gewachsen. Da der Vulkan älter geworden ist, werden jetzt nur noch wertvolle Dinge aus ihm herausgeschleudert.

Systemisches Sandspiel bietet auch besondere Möglichkeiten in der Familientherapie. Da ich ihre Familie als liebevoll und zugewandt erlebte, habe ich vorrangig mit Alma im Einzelsetting gearbeitet. Im Sand fand sie Raum für die Neuerzählung ihrer Vergangenheit, für Momente von Nachbeelterung und Trost. Über die Sandbilder konnte sich Almas innere Welt auch für ihre Familie öffnen. Wut und Trauer gingen zurück.

Wiltrud Brächter ist systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Supervisorin, Dozentin und Autorin der Titel Einführung in die systemische Sandspieltherapie (2022) und Geschichten im Sand (2016). Mehr Infos auf der Website geschichten-im-sand.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2023: Alles fühlen, was da ist