Die müssen nur mehr Sport machen. Und weniger ins Smartphone starren. Und wer schlecht erzogen ist, bekommt irgendwann sowieso eine ADHS-Diagnose. Das Medikament Ritalin macht süchtig. Über die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, gibt es viele Diskussionen – und viele Meinungen. Darüber hat Psychologie-Heute Chefredakteurin Dorothea Siegle mit Professorin Sarah Hohmann und Kinder- und Jugendlichentherapeutin Mila Ould Yahoui in einem Psychologie Heute Live-Talk gesprochen. Im…
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Die müssen nur mehr Sport machen. Und weniger ins Smartphone starren. Und wer schlecht erzogen ist, bekommt irgendwann sowieso eine ADHS-Diagnose. Das Medikament Ritalin macht süchtig. Über die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, gibt es viele Diskussionen – und viele Meinungen. Darüber hat Psychologie-Heute Chefredakteurin Dorothea Siegle mit Professorin Sarah Hohmann und Kinder- und Jugendlichentherapeutin Mila Ould Yahoui in einem Psychologie Heute Live-Talk gesprochen. Im Interview beantworten die zwei Expertinnen die meistgestellten Fragen der Zuschauerinnen und Zuschauer.
Diagnose und Abgrenzung von anderen Störungen
Macht es eine Hochbegabung schwer, ADHS zu erkennen?
Hohmann: Intelligente Kinder sind in der Lage, bestimmte Symptome zu kompensieren. Sie sind dann zwar auch nicht bei der Sache, aber erfassen Inhalte schneller und können sie besser umsetzen. Hochbegabte Kinder fallen daher meist in der Grundschulzeit nicht auf. Die Probleme zeigen sich dann gegebenenfalls erst in den weiterführenden Schulen, wenn der Anteil des Lernstoffs so groß ist, dass man konzentriert dranbleiben muss. Diesen Switch bekommen viele der intelligenten oder auch hochbegabten Kinder dann oft nicht hin. Daher kommen die Eltern dann mit ihren 12- oder 13-Jährigen in die Praxis oder Ambulanz. Die Vorstellung, Beeinträchtigungen durch ADHS müssten sich bereits im oder vor dem Grundschulalter zeigen, ist inzwischen überholt.
Gleichzeitig ist die Beeinträchtigung, die dem betreffenden Kind mit entsprechender Veranlagung durch einen bestimmten Kontext entsteht, die zentrale Voraussetzung für eine Diagnosestellung. Ich käme nie auf die Idee, einem Kind, das in der Schule zurechtkommt, Freunde hat und dem es auch sonst gut geht, eine psychiatrische Diagnose zu stellen – selbst wenn potentiell Auffälligkeiten bezüglich Konzentration, Impulskontrolle und Zappeligkeit bestehen. Trotz vorhandener Veranlagung sollten wir keinen Diagnosestempel draufpacken, wenn keine bedeutsamen Beeinträchtigungen vorhanden sind.
Haben Jungs grundsätzlich ADHS und Mädchen ADS, also eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne Hyperaktivität?
Hohmann: Nein, es gibt auch aufmerksamkeitsgestörte Jungs, die nicht hyperaktiv – oder es nicht primär – sind. Und es gibt Mädchen mit einer ausgeprägten Hyperaktivität. Aus Studien geht hervor, dass Jungs tendenziell häufig eine hyperaktive Symptomatik zeigen, Mädchen hingegen eher unaufmerksam sind. Es gibt aber nicht entweder oder, sondern ein breites Spektrum, was die Ausprägung von Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität betrifft. Interessanterweise ist ADS weniger stigmatisiert als ADHS.
Worin unterscheiden sich ADHS und hyperkinetische Störung?
Hohmann: Beides meint das gleiche, die Begriffe werden synonym verwendet. Hyperkinetische Störung ist ein alter Begriff aus dem ICD-10. ADHS ist ursprünglich die Formulierung, die wir von den Amerikanern aus dem Diagnose-Manual DSM-4 übernommen haben und die jetzt auch im ICD 11 zum Einsatz kommt.
Was antworten Sie Eltern, die überlegen, trotz eines ADHS-Verdachts einfach abzuwarten und keine Diagnostik bei ihrem Kind vornehmen zu lassen?
Ould: Ich frage mich, worin die Gründe liegen, weshalb die Eltern eine Untersuchung so rigide ablehnen. Steckt dahinter die Angst vor Stigmatisierung? Oder sind es religiöse Gründe? Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass es sinnvoll ist, einen Verdacht durch eine Diagnose abzuklären, dann weiß man Bescheid. Ich sehe keinen Vorteil darin, im Ungewissen zu bleiben.
Welche Tests können zur Diagnostik herangezogen werden?
Hohmann: Wir führen primär ein klinisches diagnostisches Interview zur Anamneseerhebung. Der Großteil der Diagnostik besteht dabei aus Anamnese, psychopathologischer Befunderhebung, Verhaltensbeobachtung sowie Eigen- und Fremdbeurteilung durch Betroffene und ihre Betreuungspersonen. Man kann zur Unterstützung dabei beispielsweise Diagnosechecklisten verwenden und auch ergänzende Fragebogenverfahren wie die Child Behavior Checklist oder die Caregiver-Teacher Report Form für Eltern und Lehrkräfte.
Ebenfalls geeignet ist der Strength and Difficulties Questionnaire (SDQ), da geht es um die Erfassung von Stärken und Schwächen. Dann gibt es noch ADHS-spezifische Fragebögen, die von Kindern – sofern sie alt genug sind – oder von Eltern und Lehrern beantwortet werden. Wir verwenden hierfür den Fremdbeurteilungsbogen ADHS (FBB-ADHS) oder den Selbstbeurteilungsbogen (ADHS-SB) bei Kindern ab 11 Jahren. Man kann aber auch die Conners-Rating-Scale ausgeben.
Für Intelligenztests verwenden wir den Hamburg-Wechsler-Intelligenztest (WISC-V). Man kann auch andere Testverfahren heranziehen. Früher hat man häufig viele Tests zur Prüfung der Aufmerksamkeit durchgeführt, die Leitlinien empfehlen das aber nicht mehr. Man hat in Studien gefunden, dass sich von der Testung einer Einzelperson an einem Computer keine Rückschlüsse auf die Konzentrationsfähigkeit unter realen Bedingungen ziehen lässt. Die Aussagekraft dieser Tests ist begrenzt, da das Ergebnis unter anderen Bedingungen, wie etwa in einem lauten vollen Klassenraum, völlig anders ausfallen würde.
Begleitende psychische Erkrankungen
Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen ADHS und Ängsten?
Hohmann: Kinder und Jugendliche mit ADHS entwickeln nicht selten Ängste oder Angststörungen. Bekommen sie besonders viel Druck von zuhause im Leistungsbereich, kann es passieren, dass sie Leistungsängste entwickeln oder sich nicht mehr in die Schule trauen. Negatives Feedback und Abwertung durch Gleichaltrige kann zu sozialen Ängsten führen. Angststörungen treten aber allgemein sehr häufig im Kindes- und Jugendalter auf.
Ist es richtig, dass eine Posttraumatische Belastungsstörung, eine Bindungsstörung und ADHS ähnliche Symptome verursachen? Erschwert das die Diagnosestellung?
Hohmann: Ja. Es gibt Befunde, aus denen hervorgeht, dass eine frühkindliche Vernachlässigung zu einer ADHS-Symptomatik beitragen kann. Die Zeitspanne und das Ausmaß wirken sich auf die Ausprägung der Symptomatik aus. Eine Bindungsstörung lässt sich z.B. anhand der Betreuungssituation vermuten, etwa wenn ein Kind früh wechselnde Bezugspersonen hatte oder sonstige gravierende Ereignisse stattgefunden haben wie Heimunterbringung oder Vernachlässigung. Das geht oft aus der Anamnese hervor. Gleichzeitig würde man die Behandlung aller drei Erkrankungen auf der symptomatischen Ebene ähnlich anlegen.
Altersgerechte Erklärung der Diagnose
Wie erklären Sie einem jüngeren Kind ADHS, nachdem es diagnostiziert wurde?
Ould: Fragt mich ein Kind, was ADHS eigentlich ist, dann würde ich erstmal antworten: Das Gehirn von manchen Menschen ist ein bisschen wie eine Schneekugel. Es ist alles da, was da sein muss, aber es weht ein wenig durcheinander. Weil im Kopf so vieles gleichzeitig passiert, ist es schwieriger, den richtigen Gedanken zur richtigen Zeit zu fassen. Manchmal ist man ganz abgelenkt, und deshalb es ist für einen etwas anstrengender, geradeaus zu denken, als für andere. Und manchmal macht man Dinge schneller, als man darüber nachdenken kann, ob das so eine gute Idee ist. Und manchmal ist man in einer Sekunde total begeistert und lustig und in der nächsten schon traurig oder sauer. Man fühlt alles sehr intensiv. Und oft kriegt man einfach nicht hin, was man sich vorgenommen hat, egal, wie doll man es will. Auch bekommt man jede Kleinigkeit mit, die um einen herum passiert. Das alles gehört zu ADHS.
Behandlung mit Medikamenten
Welche Medikamente werden bei ADHS verordnet?
Hohmann: Für die medikamentöse Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen sind in Deutschland vier Wirkstoffe zugelassen: Da gibt es Methylphenidat, ein sogenanntes Stimulans, die Markennamen lauten beispielsweise Ritalin oder Medikinet, es gibt aber auch zahlreiche Generika. Dann Dexamphetamin und Lisdexamfetamin, die ebenfalls zu den Stimulanzien gehören mit Produkten wie Attentin und Elvanse. Die Wirkstoffe aus der Gruppe der Stimulanzien fallen unter das Betäubungsmittelgesetz und haben ein ähnliches Nebenwirkungsspektrum. Zudem steht uns Atomoxetin, enthalten z.B. in Strattera und weiteren Produkten, zur Verfügung, hierbei handelt es sich um ein Medikament mit einem anderen Wirkmechanismus. Ähnlich wie bei Antidepressiva wird die Wiederaufnahme eines Botenstoffes (hier Noradrenalin) in die Zelle über einen Transporter gehemmt. Atomoxetin hat jedoch keine antidepressive Wirkung.
Schließlich haben wir noch Guanfacin (Handelsname Intuniv), das ursprünglich als Antihypertensivum (Blutdrucksenkende Arznei) zugelassen war und bei dem sich in Studien eine positive Wirkung auch auf ADHS-Symtomatik herausgestellt hat. Grundsätzlich sind Metylphenidat und Atomoxetin als first line-Behandlung zugelassen, das bedeutet, dass wir sie in der Regel zuerst verschreiben sollten, bevor die anderen Wirkstoffe in Betracht gezogen werden können.
Vorausgesetzt natürlich, die Eltern und das Kind sind damit einverstanden, das ist wichtig. Erzielen die beiden Wirkstoffe keine oder eine zu schwache Wirkung oder werden schlecht vertragen, können wir auf eines der anderen Medikamente zurückgreifen. Zu unseren Aufgaben als verschreibende Ärztinnen gehört, Eltern und Kinder genau über das Medikament, seine Wirkweise, die Vor- und Nachteile und mögliche Nebenwirkungen aufzuklären. Nach meiner Erfahrung haben die Eltern meist eine klare Einstellung zur Medikamenteneinnahme. Jüngere Kinder orientieren sich sehr an der Haltung ihrer Eltern, sind deshalb fast immer bereit, Medikamente auszuprobieren, wenn ihre Eltern dem aufgeschlossen gegenüberstehen. Jugendliche hingegen haben sich oft auch unabhängig von ihren Eltern eine eigene Meinung gegenüber dem Thema Medikation gebildet.
Die Befürchtung, Medikamente führten zu Suchtverhalten und Abhängigkeit, ist weit verbreitet. Was antworten Sie darauf?
Hohmann: Methylphenidat, der Wirkstoff von Ritalin, und Dexamfetamin/Lisdexamfetin, leiten sich von Amphetamin ab, damit geht tatsächlich ein gewisses Missbrauchsrisiko einher. Bei einem Jugendlichen, der ohnehin schon an Drogenkonsum interessiert und auch in bestimmten Szenen unterwegs ist, besteht die Gefahr, dass die Medikamente so manipuliert werden, dass sie einen rauschhaften Kick auslösen.
Zudem könnten Heranwachsende die Medikamente für diesen Zweck verkaufen. Das ist ein Risiko, dessen man sich bewusst sein sollte und das man in seine Entscheidung für oder gegen bestimmte medikamentöse Empfehlungen miteinbeziehen sollte. Dennoch führen die beiden genannten Medikamente, wenn vorschriftsgemäß eingenommen, per se zu keiner Abhängigkeit. Mehrere Studien (z.B. Registerstudien) belegen, dass unbehandelte ADHS sogar das Risiko erhöhen kann, im späteren Leben eine Suchterkrankung zu entwickeln.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Medikamente zur Behandlung von ADHS eine Tic-Störung oder ein Tourette-Syndrom auslösen?
Hohmann: Die medikamentöse Behandlung von ADHS löst nicht ursächlich eine Tic-Störung/ein Tourette-Syndrom aus. Tics sind unter Kindern weit verbreitet, rund 8 Prozent aller Kinder haben vorübergehend motorische Tics, auch ist eine Tic-Störung eine häufige Komorbidität bei ADHS. Medikamente wie Methylphenidat können aber bestehende Tic-Symptome verstärken und verschlimmern. Das ist häufig ein vorübergehendes Phänomen, bis sich die Betroffenen an das Medikament gewöhnt haben. Vorhandene Tics stellen keine Gegenanzeige für eine Behandlung mit Stimulanzien dar, die Patienten und ihre Eltern sollten aber über die Möglichkeit der Verstärkung unter Medikation Bescheid wissen.
Sollte sich die Tic-Störung verschlimmern und den Leidensdruck des Kindes oder Jugendlichen erhöhen, würde man die Medikamente absetzen. Die Tic-Symptomatik geht dann in den nächsten Tagen wieder auf das Ausgangsniveau zurück oder verschwindet.
Nichtmedikamentöse Therapien und Methoden
Wie läuft eine kognitive Verhaltenstherapie ab? Sind die Eltern in den Sitzungen dabei?
Ould: In einer Verhaltenstherapie wird grundsätzlich ein Viertel der Stunden für die gemeinsame Arbeit mit den Bezugspersonen bewilligt. Das heißt, jede vierte Sitzung findet zusammen mit dem Kind und den Eltern statt. Wie genau die Therapie dann gestaltet wird, hängt auch immer ein wenig vom Therapierenden ab. Ich stelle Psychoedukation an den Anfang, wir gehen die Symptome durch, damit das Kind oder der Jugendliche sich darin wiedererkennt. Steht nach dem Diagnoseprozess fest, dass es sich um ADHS handelt, beleuchte ich die spezielle Symptomatik und betone, worin die Stärken und Fähigkeiten liegen. Und wir schauen, was dem Kind oder dem Jugendlichen noch nicht so gut gelingt und wie wir das verbessern könnten. Das ist ehrliche, aufrichtige Arbeit, in der sich die jungen Menschen wirklich intensiv mit sich auseinandersetzen.
Es ist wichtig, den Eltern zu vermitteln: Ihr Kind verhält sich nicht aus bösem Willen und absichtlich auf diese Art und Weise, sondern weil es eine Stoffwechselerkrankung im Gehirn hat, bei der ein Dopaminmangel vorherrscht. Das Gehirn von ADHS-Betroffenen ist etwas anders strukturiert. Die Eltern lernen im Laufe der Therapie, wie sie ihr Kind unterstützen können und welche Alternativen es zu – ohnehin sinnlosen – Strafen gibt. Ziel ist es, dabei zu einem Team zu werden. Ich erlebe regelmäßig, dass während der therapeutischen Arbeit mindestens ein Elternteil seine eigene ADHS oder ADS entdeckt und dadurch auf Gemeinsamkeiten mit dem Nachwuchs stößt, die ihm vorher nicht bewusst waren.
Es geht darum, die Beziehung zum Kind zu stärken und sich klar zu machen: Mein Kind ist nicht wie das Kind der Nachbarn. Mein Kind ist nicht wie das Kind der Leute, die alles besser wissen. Mein Kind ist mein Kind. Und dieses Kind hat es verdient, individuell zu seinem Besten Unterstützung zu erfahren, damit es zu einem glücklichen Erwachsenen heranwachsen kann.
Was ist von einer Behandlung mit Neurofeedback zu halten?
Hohmann: Aufgrund der wissenschaftlichen Datenlage kann man die Methode bisher nicht generell für alle Betroffenen empfehlen. Neurofeedback ist sehr aufwändig und muss von gut geschulten Kräften durchgeführt werden. Zudem sind mindestens 25 Sitzungen erforderlich, in denen trainiert wird. Es gibt auch nicht nur eine Art von Neurofeedback, sondern viele verschiedene Trainings, von denen nur ein bis zwei ausreichend wissenschaftlich überprüft sind. Da die Evidenz, also der Wirksamkeitsnachweis, bisher nicht ausreicht, spricht die derzeit noch gültige S3-Leitlinie auch keine Empfehlung aus.
Auch ist die Finanzierung oft schwierig, Neurofeedback wird momentan meist von Ergotherapeutinnen im Rahmen einer ärztlichen Heilmittelverordnung eingesetzt, auch als Element einer Verhaltenstherapie kann es theoretisch abgerechnet werden. In psychotherapeutischen Institutionen oder Kliniken wird Neurofeedback bisher jedoch nicht standardmäßig als Teil der Regelversorgung angeboten. Neurofeedback kann eine Option sein, man muss aber sehr genau darauf achten, ob die behandelnde Person über ausreichend fachliche Erfahrung verfügt: Und Neurofeedback ist eben nicht gleich Neurofeedback. Die Leitlinien führen auf, welche Methoden geeignet sind – das können aber nicht alle Familien wissen.
Ist es hilfreich, das Marburger Konzentrationstraining einzusetzen?
Ould: Ich verwende daraus bestimmte Übungen in der Diagnosestellung, etwa jene, in denen ich vorgegebene Motive nachzeichnen lasse. Dann sehe ich, wie lange das Kind dafür braucht. Das Marburger Konzentrationstraining gibt es in zwei Ausführungen: für Kinder und für Jugendliche. Es ist – gut angeleitet– dazu geeignet, die Konzentrationsfähigkeit zu steigern, ändert aber an einer grundsätzlichen ADHS-Veranlagung nichts und kann auch keine Psychotherapie ersetzen.
Einfluss des Umfelds und der Erziehung auf die Entwicklung von ADHS
ADHS ist genetisch bedingt. Wie müsste die Umwelt von Kindern idealerweise sein, damit die Störung sich gar nicht erst entwickelt, trotz einer Vorbelastung? Ist es überhaupt möglich, einer Erkrankung vorzubeugen, indem man beispielsweise eine sehr reizarme Umgebung schafft oder auf eine bestimmte Weise erzieht?
Hohmann: Ich denke, man hat einen gewissen Einfluss. Dazu gehört für mich, dass Eltern klare Strukturen schaffen, Anforderungen eindeutig formulieren und bestimmtes Verhalten belohnen. Dazu gehört auch, dass man sich nicht nur auf den Leistungsaspekt bei den Schulnoten fokussiert, sondern die Ressourcen und positiven Eigenschaften des Kindes anerkennt und stärkt. Im Wesentlichen sollten die Eltern für ihre Kinder da sein und diese liebevoll unterstützen. Tendenziell geht es darum, dem Kind genügend Außenstrukturierung zu geben, ihm gleichzeitig positive Lernerfahrungen zu ermöglichen und zu vermitteln, mit Frustration umzugehen.
Eine reizarme Ideal-Umgebung zu schaffen, lässt sich nicht durchhalten. Prinzipiell profitieren alle Kinder und Jugendlichen von einem analogen Lebensstil mit wenig Bildschirmzeit, viel Sport, Bewegung, sozialer Interaktion, Natur und ausgewogener Ernährung. Man sollte sich als Eltern von der Idee verabschieden, sein Kind vor allem behüten zu können. Spätestens in der Schulzeit kommt es mit all den Dingen in Berührung, vor denen man es zu schützen versucht.
Risikofaktoren für eine Erkrankung
Können frühe traumatische Ereignisse das Risiko für eine ADHS-Erkrankung erhöhen?
Hohmann: Belastende Erlebnisse rund um die Geburt können das Risiko für ADHS erhöhen. Dazu zählen Frühgeburtlichkeit, sehr geringes Geburtsgewicht, Stress oder Erkrankung der Mutter. Eine Vielzahl von Studien belegt diese Zusammenhänge. Einzelne Untersuchungen weisen darauf hin, dass auch Faktoren wie Schädel-Hirn-Traumata in Zusammenhang mit einer Erkrankung stehen können.
Aus meiner Sicht bringt es jedoch nichts, sich auf Ursachen zu konzentrieren, auf die man keinen Einfluss hatte. Es lohnt sich, ein wenig Distanz zu dem Störungsmodell einzunehmen und sich eher dem Gedanken der Neurodiversität zuzuwenden. Der Schlüssel für ein gutes Leben mit ADHS besteht in der richtigen Passung: Menschen mit ADHS verfügen mitunter über besondere Fähigkeiten, sie sind z.B. teils sehr kreativ, denken out of the box und sind oft eher risikobereit. Das kann in gestalterischen Berufen oder z.B. bei der Gründung eines Start-ups von Vorteil sein.
Symptomatik im Verlauf
Wie verändern sich die ADHS-Symptome mit dem Eintritt in die Pubertät? Worauf müssen die Eltern achten?
Ould: Es muss nicht sein, aber es ist möglich, dass sich die Symptome in eine extremere Richtung entwickeln. Ist beispielsweise die Impulsivität stark ausgeprägt, kann es möglicherweise zu extremem Verhalten kommen. Die Eltern sollten darauf achten, ob die Jugendlichen zu Substanzkonsum, also zu Alkohol- und Drogenkonsum, tendieren. Darüber sollte gesprochen werden. Neigt der Sohn oder die Tochter zu risikoreichem Verhalten, sollte man über die Gefahren sprechen, die damit einhergehen, wenn man beispielsweise ohne Führerschein Auto fährt oder sich auf Trinkwettbewerbe einlässt.
Man muss auch darüber reden, dass Sexualität mit Risiken behaftet sein kann. Gerade bei Letzterem kommen dann auch die impulsiven Mädchen ins Spiel. Weit verbreitet ist das Vorurteil: Jungs sind eher wild, Mädchen eher ruhig. Ich habe in meiner Praxis einige Teenagerinnen, die sich hochriskant verhalten, beispielsweise nachts ins Freibad einbrechen. Erst wenn dann die Rechnung vom Amt kommt, wird ihnen klar, wie die Gesetzeslage ist. Bei eher stillen Heranwachsenden würde ich als Eltern großen Wert darauf legen, das Selbstwertgefühl zu stärken. Und auch achtsam hinsichtlich der Selbstzufriedenheit zu sein, indem man sein Kind aktiv dabei unterstützt, seine individuellen Eigenschaften und Charakterzüge wertzuschätzen und nicht in eine Schlaufe der Selbstabwertung zu geraten.
Elterliche Erziehung und Kommunikation
Grobe Beleidigungen, Türenknallen und Wutanfälle kommen bei ADHS-Kindern und Jugendlichen nicht selten vor. Oft folgen darauf Entschuldigungen und Aussagen wie: Ich wollte das nicht. Welches Verhalten der Eltern ist hier angebracht?
Ould: Auf die Gefahr, dass das furchtbar schlau klingt, würde ich empfehlen, es erst gar nicht so weit kommen zu lassen. Indem die Eltern herausfinden, was Hinweise im Verhalten des Kindes auf eine nahende Eskalation sind. Mir ist klar, dass es bei den Betroffenen sehr schnell dazu kommen kann, aber ich bin mir auch sicher, dass eine Eskalation zuhause nicht ohne Grund stattfindet. Sie findet genau dort statt, weil es als sichere Umgebung wahrgenommen wird, in dem das Kind all die schlimmen und schmerzhaften Gefühle herauslassen kann, die sich in einer anderen Umgebung aufgestaut haben.
Weil es keine Bewältigungsstrategien für diese schlimmen Gefühlen hat, schleudert es in einem explosionsartigen, gewaltvollen Akt seine Wut heraus. Und zwar in das Gesicht der Personen, von denen es glaubt, dass sie es aushalten können. Auch wenn das im ersten Moment ganz anders klingt, ist das in erster Linie ein Kompliment für die Tragfähigkeit der Beziehung zwischen Eltern und Kind. Dennoch sind diese Ausbrüche furchtbar und unerwünscht. Die Wut hat in solchen Situationen eine Funktion, die man verstehen muss. Sie muss gewissenmaßen einspringen, weil das eigentlich schwierige Gefühl, zum Beispiel Traurigkeit oder Verletztheit, für das Kind schwer auszuhalten ist.
Meine Empfehlung wäre, gemeinsam herauszufinden, was der eigentliche Auslöser dieses extremen Verhaltens ist. Ich bin mir sehr sicher, dass davor belastende Faktoren aufgetreten sind. Vielleicht hat das Kind etwas Schlimmes in der Schule erlebt oder es hat sich so verhalten, dass es sich jetzt Selbstvorwürfe macht. Irgendetwas ist emotional vorgefallen. Gerade wenn es ein Kind ist, dass sich danach entschuldigt, kann man davon ausgehen, dass es interessiert ist, an diesen Eskalationen etwas zu verändern.
Ich würde mich dazu in einer guten Phase hinsetzen und sagen: Liebes Kind, ich würde gerne mit dir über diese emotionalen Ausbrüche sprechen, weil ich eine gute Idee haben, wie wir gemeinsam etwas daran ändern können. Ich habe gelernt, dass du eskalierst, wenn dir davor etwas Doofes passiert ist. Ich würde gerne mit dir zusammen herausfinden, was passiert ist und wie sich das für dich anfühlt. Dann kann ich dir ganz anders helfen, ohne dass es zu solchen Szenen kommt.
Wie können die Eltern eines 16-Jährigen, der eine konkrete Auseinandersetzung mit ADHS und Autismus ablehnt, auf ihn einwirken? Einer Diagnostik wolle er sich auf keinen Fall unterziehen: „Ich gehe nicht noch mal zu so einem Psychologen.“
Ould: Hier steht die Frage im Raum, weshalb sich der junge Mann total verweigert. Angenommen, er ist ein ganz rigider Autist, ergibt sein Verhalten auch Sinn. Vielleicht wäre es für die Eltern eine Möglichkeit, ihn medial mit ADHS und Autismus in Kontakt zu bringen, indem sie sich mit ihm gemeinsam eine gut gemachte Dokumentation oder Reportage ansehen oder ihm Links von informativen Websites oder Instagram-Accounts wie Autisplus weiterleiten. Die Eltern könnten so ein Gespräch eröffnen: Hör mal, wir machen uns manchmal Gedanken, ob du dich in diesen Themen nicht ein wenig selbst erkennst. Damit wäre ein erster Schritt gemacht.
Welche Erziehungsprogramme können Sie empfehlen? Was halten Sie von Triple P?
Ould: Ich plane derzeit mit meiner Schwester ein eigenes Programm. Sie ist Psychologin, Autistin und Mutter einer Autistin, sowie eines ADHS-Kindes. Sie sehen, ADHS und Autismus sind wie die rechte und die linke Hand, aufgrund der genetischen Veranlagung. Für mich lassen die erhältlichen Erziehungsprogramme oft zu wenig Raum für Individualität. Der elterliche Wunsch nach einer möglichst konkreten Handlungsanleitung ist nachvollziehbar. Mit Triple P machen Eltern durchaus gute Erfahrungen.
Ich finde es zudem sinnvoll, eine bestimmte Haltung einzunehmen, von der sich dann das Verhalten ableitet: liebevolle Konsequenz, weil ADHS-Betroffene dazu tendieren, alles ausdiskutieren und verhandeln zu wollen. In der Kommunikation: kurze Ansagen und konkrete Vereinbarungen, etwa wenn man beim Einkaufen vorab festlegt: In den Wagen kommt nur, was auf der Liste steht. Die Psychotherapeutin und ADHS-Koryphäe Cordula Neuhaus beschreibt dieses Vorgehen in ihren Büchern sehr anschaulich.
Probleme beim Einschlafen
Wie sollen sich Eltern verhalten, wenn ihr Grundschulkind immerzu Einschlafprobleme hat und um 22 Uhr noch im Bett liest?
Ould: Toll, wenn ein Grundschulkind schon so gern liest! Generell ist gegen Lesen nichts einzuwenden. Die Frage ist, was da um diese Uhrzeit beim Kind geschieht. Sind noch alle Systeme hochgefahren, weil das Buch so spannend ist? Ist sehr viel Adrenalin im Körper? Dann ist an Schlaf nicht zu denken.
Es könnte sinnvoll sein, mit dem Kind eine feste Uhrzeit zu vereinbaren, bis wann es lesen darf und danach geht es auf „Traumreise“. Man könnte dem Kind sagen: Jetzt stellen wir eine Entspannungsmusik an und du darfst dich dann in deinem Kopf mit der Geschichte aus dem Buch beschäftigen und dir etwas ausdenken; in der Hoffnung, dass es dann einschlafen kann. Schlafprobleme sind bei ADHS-Betroffenen ein großes Thema, ich würde versuchen, eine Schlafhygiene zu entwickeln, die Schlaf-Rituale betrachten und darauf achten, dass der Abend so gestaltet ist, dass das Kind zur Ruhe kommen kann. Lesen ist dazu weitaus besser geeignet, als Gaming oder Social Media mit kurzgetakteten ständig neuen Impulsen.
Selbstberuhigendes Verhalten
Ist selbststimulierendes Verhalten (Fachbegriff Stimming) wie Hin- und Herschaukeln, lautes Zählen, Wippen, Summen, Klopfen, tatsächlich beruhigend? Oder handelt es sich hier um ein Symptom von ADHS und Autismus? Wie schafft man es, dass diese sich wiederholenden Aktivitäten nicht die Mitmenschen stören?
Ould: Zeigt jemand sehr viel Stimming würde ich dazu raten, abzuklären, ob hier möglicherweise Autismus vorliegt. Ich würde mit der- oder demjenigen versuchen, etwas zu finden, das wenig Geräusche macht oder nicht gleich den ganzen Tisch zum Wackeln bringt, wie beispielsweise Fidget-Tools, die zum Herumfummeln gedacht sind. Mitunter kann Stimming auch selbstverletzend sein, wenn man sich selbst kneift oder mit den Fingernägeln kratzt. Am besten spricht man gemeinsam ab, was nicht ok ist und wofür eine Alternative gefunden werden muss, die für alle Beteiligten akzeptabel ist. Im Klassenraum könnte die Lehrkraft sagen: Du kannst während des Unterrichts zwar nicht herumlaufen, aber du kannst stehen, wenn du deinem Bewegungsdrang nachgeben musst. Oder: Wenn du mit den Füßen wackelst, dann zieh die Schuhe aus, damit es leiser ist.“
Psychoedukation in der Erziehungsberatung
Kennen Sie gute Bücher oder Videos, die psychoedukativ sind und für Kinder in der Erziehungsberatung geeignet sind?
Ould: Ich kann auf www.adhs-info.de die Rubrik Ein Tag mit Max und Lisa empfehlen, dazu gibt es auch ein Video. Auf dem Infoportal findet man Seiten, die sich speziell an Kinder, Jugendliche und Eltern sowie Familienmitglieder richten, dabei werden auch diagnostische Begriffe anschaulich erklärt. Auch das Buch Wilma Wolkenkopf von Saskia Niechzial ist sehr beliebt.
Mehr über die Expertinnen:
Professor Dr. Sarah Hohmann ist Leiterin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Mila Ould Yahoui ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in eigener Praxis in Hamm. Derzeit arbeitet sie an einem Podcast zu ADHS mit dem Titel Kipsy.
Mehr Informationen:
Die Leitlinie zu ADHS (aktuell in Überarbeitung) und auch eine Kurzinformation dazu:
Auf der Seite der AWMF (www.awmf.org)
Eher wissenschaftliche Informationen:
World-Federation of ADHD (www.adhd-federation.org) oder über das European Network of Hyperkinetic Disorder (EUNETHYDIS, www.eutnethydis.eu)
Website des zentralen ADHS-Netzes (www.zentrales-adhs-netz.de)
Kostenfreies webbasiertes Selbsthilfetool für Eltern:
z.B. der ADHS-Elterntrainer (www.adhs-elterntrainer.de)
Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung BZGA (www.kindergesundheit.info oder www.bzga.de) bietet auch eine gute Broschüre zum Thema ADHS an, die man als Schule oder pädagogische Einrichtung bestellen kann
Bücher:
Manfred Döpfner u.a.: Den Alltag meistern mit ADHS: Arbeitsbuch für Eltern von Schulkindern/Vorschulkindern bzw. für Lehrer und pädagogische Fachkräfte. Hogrefe 2021
Manfred Döpfner, Stephanie Schürmann: Wackelpeter und Trotzkopf. Hilfen für Eltern bei ADHS-Symptomen, hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten. Mit Online-Material und App. Beltz 2023
Manfred Döpfner u.a.: Ratgeber ADHS. Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher zu Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätstörung. Hogrefe 2019
Deutlich wissenschaftlicher aufgebaut und geeignet, wenn man sich tiefergehend informieren möchte:
Hans-Christoph Steinhausen u.a.: Handbuch ADHS. Grundlagen, Klinik, Therapie und Verlauf der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Kohlhammer 2022
Alessandro Zuddas (Hg): Oxford Textbook of Attention Deficit Hyperactivity Disorder. Oxford University Press 2018
Stephen P. Hinshaw, Richard M. Scheffler: The ADHD Explosion: Myths, Medication, Money and Today´s Push for Performance. Oxford University Press 2014
Cordula Neuhaus: ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Kohlhammer 2023
Selbsthilfevereinigungen und Betroffenennetzwerke:
ADHS Deutschland (www.adhs-deutschland.de) oder ADHD Europe (www.adhdeurope.eu)
https://psychologie-to-go.podigee.io/88-adhs-bei-erwachsenen