Schon lange stand keine junge Generation mehr vor so gewaltigen Herausforderungen wie die Generation Y. Von ihren Eltern behütet und gefördert wie keine andere vor ihr, könnten die Ypsiloner die Ersten seit dem Zweiten Weltkrieg sein, für die das Versprechen auf immer mehr Wohlstand tatsächlich nicht mehr gilt: Die Zahl sozialversicherter Vollzeitjobs für Berufseinsteiger nimmt ab, die Mieten steigen, und die Ankündigung, die Renten seien sicher, scheint heute aus einer anderen Zeit.
Das „Y“– im Englischen…
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heute aus einer anderen Zeit.
Das „Y“– im Englischen ausgesprochen wie why – ist der Buchstabe, der diese Generation medial auf den Punkt bringen soll. Die Frage nach dem Sinn wird zum Merkmal einer Generation. Die Generation Y ist die kleinste, die die Bundesrepublik je gesehen hat. Ihre Mitglieder sind aktuell zwischen 15 und 30 Jahre alt. Diese Generation besteht aus den ersten Digital Natives, die online aufgewachsen sind. Computer, Tablets und Smartphones gehören für sie genauso selbstverständlich zum Alltag wie Google, Apple und Facebook. Letzteres, das inzwischen weltweit größte soziale Netzwerk mit über einer Milliarde Mitgliedern, erzielte in ihrer Kinder- und Jugendzeit seinen Durchbruch.
Neben den technischen Umwälzungen erleben die jungen Leute im Vergleich zu ihren Eltern und Großeltern eine veränderte wirtschaftliche und politische Lage. Ein viel zu großer Teil der Schulabsolventen hatte bis vor kurzem keine Chance, einen Ausbildungs- und späteren Arbeitsplatz zu bekommen. Die Älteren von ihnen, die 1985 geboren wurden, müssen hinnehmen, dass 20 Prozent eines jeden Jahrgangs keinen beruflichen Ausbildungs- und Arbeitsplatz erhalten. Nur noch ein Teil der Generation Y kann den traditionellen Mustern von Beruf und Karriere folgen. Mindestens ein Drittel muss mit Teilzeitjobs und Kettenverträgen rechnen oder wird vorübergehend arbeitslos. Mit der Ungewissheit groß zu werden, dass völlig offen ist, ob man nach Schule und Ausbildung wirklich einen passablen Job findet, wird zu einer Grunderfahrung. Eine sichere Lebensplanung ist unter diesen Umständen unmöglich. Im Jahr 1960 hatten in den USA etwa 70 Prozent der 30-Jährigen die Hürden zum Erwachsenwerden genommen: Sie verfügten über eine abgeschlossene Ausbildung, eine eigene Wohnung und finanzielle Unabhängigkeit, waren verheiratet und hatten Kinder. Heute sind es nur 15 Prozent, die alle diese sozialen Meilensteine passiert haben, und auch in den folgenden Lebensjahren ist nicht garantiert, dass die anderen alle nachfolgen können.
Alle Optionen offenhalten
In dieser Situation müssen die Ypsiloner eine Persönlichkeit entwickeln, die es ihnen erlaubt, auf die Veränderungen zu reagieren, ohne sich von ihnen treiben zu lassen. Die Generation Y ist eine Generation der Realisten. Sie ist nüchtern und genau in der Wahrnehmung ihrer Umwelt. Da ihre Zukunftsperspektive während ihrer gesamten Jugend unsicher schien, ist sie es schon lange gewohnt, sich immer mehrere Optionen offenzuhalten. Es ist gewissermaßen die Anleitung zum Glücklichsein der Generation Y: Klappt ein Praktikum oder eine Bewerbung nicht oder wird ihr Zeitvertrag nicht verlängert, hat sie immer Plan B, C und wohl auch D und E in der Hinterhand. Wenige Ypsiloner können die Frage beantworten, wo sie sich beruflich in fünf Jahren sehen. Aber deshalb werden auch wenige von ihnen enttäuscht, wenn das Leben sie woandershin führt.
Wer wie die Ypsiloner über einen so langen Zeitraum so viel Ungewissheit und Unsicherheit erlebt hat und ertragen musste, der ist daran gewöhnt und hält diesen Zustand für normal. Gleichzeitig ist er immer bemüht, sich bei seinen Entscheidungen keine Chancen zu verbauen. Die Generation Y wird damit zu einer Generation der Egotaktiker: Sie erfassen schnell und mit großer Sensibilität die Ausgangslage. Daraufhin legen sie ihr eigenes Verhalten so fest, dass möglichst viel Gewinn für sie selbst zu erwarten ist. Dabei gehen sie ganz nüchtern von ihren individuellen Wünschen und Bedürfnissen aus. Leitfragen sind also immer: Was ist das Beste für mich? Und wie halte ich mir möglichst viele Optionen offen? Das gilt schon in der Schule, wo sie immer den Blick darauf richten, was ihnen die richtigen Noten bringt, um später Erfolg im Beruf zu haben.
Die Egotaktik ist der Mechanismus, mit dem die Generation Y jederzeit schnell im Alltag flexible Entscheidungen treffen kann. Sie nutzt eine Mischung aus Selbstbezug und sensiblem, strikt nach opportunen Gesichtspunkten ausgerichtetem, tastendem und taktierendem Verhalten, über das sie Chancen auslotet und Entfaltungsspielräume erkundet. Ideale, Normen und Prinzipien helfen da wenig. Oft kommt es auf Intuition an. Improvisation wird zum zentralen Element der Lebensführung. Jede Entscheidung und jede Handlung rechtfertigen sich am Ende allein durch ihr Ergebnis.
Lieber nichts entscheiden
Bei der Fülle der Möglichkeiten und einem notorischen Überangebot an Informationen wird dieses Taktieren zum obersten Gebot. Sich im falschen Moment festzulegen könnte verhängnisvoll für die Zukunft sein. Etwa wenn man sich zu früh auf einen bestimmten Bildungsweg festlegt und damit bessere Optionen ausschließt. Dennoch können auch die Ypsiloner irgendwann Entscheidungen treffen. Doch sie versuchen sich dabei erst gar nicht an einer rational „richtigen“, sondern folgen ihrem Bauchgefühl. Ohnehin gibt es heute oft viel zu viele Optionen, um alle Argumente gegeneinander abzuwägen.
Und sie schieben Entscheidungen sehr lange auf. Es kann sogar passieren, dass sie den richtigen Zeitpunkt verpassen. Das halten die Ypsiloner für besser, als eine falsche Entscheidung zu treffen. Insgesamt aber sind sie Meister darin, irgendwann dann doch eine für sie passende und zufriedenstellende zu treffen. Die kommt aus einer Mischung aus Intuition, Eingebung, Erfahrung, Erwartung und Chuzpe zustande, ist eine mit Bauchgefühl. Wer gewohnt ist, aus 30 Sorten Kugelschreibern, 287 Fernsehprogrammen oder 26 Fernsehserien die passende auszuwählen, der schafft das. Und jede Entscheidung kann ja auch revidiert werden.
Soziale Netzwerke statt organisierte Politik
Auf die Idee, sich in der organisierten Politik zu engagieren, kommen nur sehr wenige der Ypsiloner. Sie sind zufrieden mit der bundesdeutschen Demokratie, doch ein soziales Engagement betreiben sie lieber über soziale Netzwerke im Internet. Sie sind unideologisch und haben eine realistische und pragmatische Weltsicht. Über die elektronischen Medien organisieren sie ihr gesamtes soziales Leben und sorgen dafür, sich persönlich vorteilhaft zu präsentieren.
Sie sind nicht selbstzufrieden, die Ypsiloner, aber überzeugt von ihren Fähigkeiten sind sie schon. Und das kann selbstverliebte Züge annehmen. Weil sie immer überall irgendwie durchgekommen sind, haben sie insgesamt eine hohe Meinung von sich. Das kann dazu führen, dass sie narzisstisch zu lange in den Spiegel schauen und nur noch sich selbst sehen, sich unheimlich viel zutrauen und vorübergehend die Maßstäbe für die reale Welt verlieren.
Bequem bei Mutter und Vater
Noch nie sind Jugendliche im Schnitt so spät ausgezogen wie heute. Von den 22- bis 25-Jährigen leben fast 40 Prozent noch in ihrem Kinderzimmer, darunter deutlich mehr junge Männer als Frauen. Bei den 30-jährigen Männern ist es immer noch mehr als ein Zehntel. Ein großer Teil von ihnen hat in der Zwischenzeit schon einmal in einer eigenen Wohnung gelebt, kam aber zurück, weil er damit nicht zufrieden war. Einige junge Männer bleiben sogar im Elternhaus, wenn sie in einer festen Partnerschaft leben, und auch, wenn sie schon berufstätig sind. Zugehörigkeit und Harmonie in einer eigenen Partnerbeziehung und parallel dazu im Elternhaus empfinden sie nicht als Widerspruch. Sie genießen die Wahlmöglichkeiten, die sich hieraus ergeben.
Gerade weil die jungen Leute in ihrem Beziehungsleben pragmatisch vorgehen, sind ihnen ihre Eltern so wichtig. Mutter und Vater geben dem eigenen Leben Orientierung, Halt und Perspektive. Sie sind so wichtige Kontaktpersonen, dass man die völlige Loslösung vom Elternhaus, die absolute Selbständigkeit so lange wie möglich aufschiebt. Die Ypsiloner fühlen sich in between ganz wohl: halb noch zu Hause, halb bei der Freundin; auf Kühlschrank und Waschmaschine von Mutter zurückgreifen und gleichzeitig Ausgehen ohne Kontrolle der Eltern. 43 Prozent der Nesthocker erklären ihr Verbleiben im Elternhaus damit, dass das „für uns alle am bequemsten ist“, 46 Prozent machen finanzielle Gründe geltend. Wahrscheinlich spielt unbewusst die Sehnsucht eine große Rolle, in einer unübersichtlich gewordenen Welt einen festen Platz zu haben und irgendwo dazuzugehören– auch wenn das die Generation Y nicht so ohne weiteres zugeben möchte.
Das lange Verweilen zu Hause ist also ein zweischneidiges Schwert. Bei aller Harmonie – irgendwann muss sich die Generation Y wie jede vor ihr von ihren Eltern lösen. Das ist kein Selbstzweck: Nur so kann ein junger Mann oder eine junge Frau eine eigenständige Persönlichkeit entwickeln und später selbst eine Familie gründen. Freunde statt Eltern als Bezugsgruppe, die erste Liebe statt Muttis Gutenachtkuss, ein eigener Geschmack in Mode, Musik, Literatur, eine eigene Wohnung, später eigenes Geld– all das gehört zur normalen Entwicklung. Wenn aber die Beziehung zu den Eltern derartig innig und gut ist wie heute, dann wird der richtige Zeitpunkt für die Ablösung schon mal verpasst, und die Trennung fällt schwer.
Spaß statt Geld
Die Ypsiloner stehen zum Kapitalismus und zum Gewinnprinzip, aber sie arbeiten nicht um des Geldes, sondern des Interesses willen und wollen ihre Arbeitskraft in sinnvolle Projekte stecken. Die gutgebildeten Ypsiloner wollen sich selbst über die Berufstätigkeit als unverwechselbare Persönlichkeiten entfalten. Sich mit Haut und Haaren ihrer Arbeit verschreiben und das persönliche und gesellige Leben darüber hintanstellen – das ist nicht in ihrem Sinne. Sie haben sich in ihrer Bildungs- und Ausbildungslaufbahn viel Mühe gegeben und haben intensiv an sich gearbeitet. Nun erwarten sie vom Arbeitgeber, dass er auf ihre Wünsche und Bedürfnisse eingeht.
Die Generation Y fordert auffällig häufig persönliche und familiäre Auszeiten. Und wenn ein Vorgesetzter nicht bereit oder in der Lage ist, diese zu gewähren, dann wechselt man eben den Arbeitsplatz. Das gilt verstärkt dann, wenn die Ypsiloner eine Familie gründen. Wenn sie denn schon Kinder haben, sollen die nicht unter dem Diktat beruflicher Anforderungen leiden, sondern viel Aufmerksamkeit bekommen. Flexible Arbeitszeiten, Arbeitszeitkonten, Elternzeit und Elterngeld, Heimarbeitsplätze– das sind alles Regeln, die voll im Interesse der jungen Generation liegen. Rund ein Drittel aller Väter nimmt mittlerweile Elternzeit. Zwar ist die Zahl immer noch erstaunlich gering, auch nehmen die meisten nur ein bis zwei Monate– doch es werden mehr. Auch Betriebskindergärten oder andere Unterstützungen für eine gute Betreuung der Kinder werden hoch geschätzt und für die Auswahl eines Arbeitsplatzes immer wichtiger.
Hier baut sich auch eine neue Anspruchshaltung auf: Wenn der Arbeitgeber etwas von mir verlangt, nämlich meine kreative Mitarbeit, dann erwarte ich, dass er mich dabei unterstützt, dies mit meinen persönlichen Lebensbedingungen in Einklang zu bringen. Das ist heute erst bei einigen Leitungskräften eine selbstverständliche Regel, aber immer mehr Ypsiloner, das zeichnet sich schon ab, werden auch in ganz normalen mittleren Positionen am Arbeitsplatz diesen Anspruch in den kommenden Jahren anmelden. Die Generation Y will am Arbeitsplatz zwar volle Leistung bringen, aber im Gegenzug mitbestimmen können. Und sie wollen genau wissen, wie viel Arbeit und Zeit ein Job erfordert. Sie möchten sich nicht vom Beruf verschlingen lassen. Mehr Gestaltungsfreiheit und ausreichend Zeit für das Privatleben sind ihnen wichtig. Sie sind auch bereit, Abstriche bei der Karriere zu machen, damit sie nicht auf Kosten von Familie und Privatleben geht.
Innere Sicherheit trotz unsicherer Umwelt
Allerdings überschätzen die Ypsiloner leicht ihre Kompetenzen. Oft machen sie sich nicht die Mühe, erst einmal sorgfältig die bisherigen eingefahrenen Arbeitsabläufe zu verstehen, bevor sie mit kühnen Reformideen in den Ring steigen. Viele junge Leute leben in dem naiven Gefühl, durch die guten Schulabschlüsse und ihren Umgang mit elektronischen Medien überlegen zu sein. Sie müssen auf den Boden der Tatsachen gebracht werden und sich auf das konzentrieren, was sie wirklich sehr gut können. Am besten ist es für sie, wenn sie in der Anfangszeit im Beruf erst einmal an begrenzte und überschaubare Arbeitsprojekte gesetzt werden, die sich innerhalb einer begrenzten Zeit lösen lassen und kreativen Einsatz ermöglichen. So können ihnen nach jedem Schritt Rückmeldungen, darunter natürlich auch Erfolgsmeldungen, gegeben werden, und allmählich können sie sich in die Arbeitsabläufe einklinken.
Die Generation Y ist in ihrer Kindheit und Jugend von ihren Eltern so häufig gelobt worden wie keine andere vor ihr. Darauf will sie auch bei der Arbeit nicht verzichten. Sie kann zäh und ausdauernd viel leisten. Sie kann auf diese Weise große Dinge erschaffen, aber nur dann, wenn sie Spaß an ihrer Arbeit hat und konstant Feedback erhält. Dieses kleinschrittige Arbeiten zur Lösung großer Probleme sind die Ypsiloner aus Schule und Ausbildung gewohnt. Es entspricht dem Belohnungsmechanismus bei elektronischen Spielen, bei dem man große Aufgaben durch die angeleitete Meisterung kleiner, aufeinander aufbauender Lösungen abarbeitet und im Erfolgsfall auf ein höheres Schwierigkeitsniveau steigen kann. Arbeitsplätze, die so organisiert sind, dass sie diese eingespielten Muster aufnehmen, gefallen den Ypsilonern am besten, und dort wachsen sie in ihrem Output schnell über sich hinaus. Schwierigkeiten haben sie, wenn monotones und mechanisches Hintereinander-weg-Arbeiten von ihnen verlangt wird, wenn dabei stur nach Zeit gearbeitet werden muss und ein Ergebnis erst ganz am Ende steht und zwischendurch nichts Geschafftes greifbar ist.
Ypsiloner möchten zur Gesellschaft dazugehören, aber sie nehmen gelassen zur Kenntnis, dass sich soziale, kulturelle, wirtschaftliche und ökologische Rahmenbedingungen geändert haben und alte Regeln und Strukturen nicht mehr gelten. Ihnen macht das nichts. Sie sind es gewohnt, immer wieder vor dem Nichts zu stehen. Schließlich ging es danach immer weiter. Das hat sich in ihre Persönlichkeit eingebrannt. Sie sind es gewohnt, ihre Lebensplanung immer wieder neu den Realitäten anzupassen. Als Egotaktiker haben sie dazu die nötige Kompetenz der hyperflexiblen Problemverarbeitung aufgebaut. Schon lange müssen sie mit der Ungewissheit umgehen können, ob sie tatsächlich jemals erwachsen und damit vollwertige Mitglieder der Gesellschaft werden. Das treibt sie nicht mehr um, weil sie ahnen, dass „Erwachsenwerden“ und „Gesellschaftliches-Vollmitglied-Sein“ nicht mehr das sind, was sie noch für ihre Eltern waren. Erstaunlich ist die innere Sicherheit, mit der die Ypsiloner durch das Leben gehen. Offenbar gerade weil die Umwelt so unsicher ist.
Klaus Hurrelmann, 70, beobachtet als Leiter, Berater und Autor zahlreicher Jugendstudien junge Generationen bereits seit vielen Jahren. Er war an den Shell-Jugendstudien ebenso beteiligt wie an vielen anderen Generationenstudien. Außerdem arbeitet er eng mit dem Sinus-Institut zusammen, das schon zweimal Milieustudien zu Jugendlichen erstellt hat.
Erik Albrecht, 35, hat die Generation Y zunächst als Auslandskorrespondent in Russland und der Ukraine kennengelernt. Neben politischer Berichterstattung hat er mehrere Jahre für Radio, Fernsehen und Print in zahlreichen Beiträgen erzählt, wie es sich anfühlt, in diesen Ländern jung zu sein.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem aktuellen Buch der Autoren: Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert (Beltz Verlag, Weinheim 2014 - Shop-Link).