Rock ’n’ Roll, Petticoat, das Wunder von Bern: Es braucht nicht viel, um die 1950er Jahre vor dem inneren Auge auferstehen zu lassen. Für die Sechziger stehen Woodstock, Vietnam, Weltraum und die Pille, für die Siebziger Schlaghose, Ölkrise, RAF und „Atomkraft? Nein danke“. Die Achtziger waren das verlorene Jahrzehnt, eine Dekade der Angst und der Sinnkrise, meint der Autor und Werbetexter Frank Jöricke. Die Neunziger seien wirr gewesen, aber außer dass wir seither nicht mehr wissen, wer die Guten und wer…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Die Neunziger seien wirr gewesen, aber außer dass wir seither nicht mehr wissen, wer die Guten und wer die Bösen sind, gar nicht so schlecht. Ganz anders als die Nullerjahre, die mit al-Qaida und Börsenturbulenzen bis heute nicht zu enden scheinen.
Jöricke nennt sich einen Jäger des verlorenen Zeitgeists. In der Tat: Vom Zeitgeist ward lange nichts gehört. Der Begriff kam aus der Mode, als die Diktatoren der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ihn allzu unverblümt vor ihre Karren spannten. In der Wissenschaft stören seine unscharfen Grenzen zu größeren Einheiten wie den Epochen oder kleineren wie Trends oder Moden. Doch je schnelllebiger, globalisierter und unübersichtlicher sich die Gegenwart präsentiert, desto attraktiver erscheint die Idee, es gebe in all dem Durcheinander um uns herum doch so etwas wie einen roten Faden, eine Idee, eine treibende Kraft, die sich aufspüren und ausbuchstabieren lässt.
„Der Zeitgeist ist eine Heimat in der Zeit. Es ist der Versuch, im sprichwörtlichen Fluss der Zeit eine insuläre Größe auszuzeichnen und zu sagen, das ist unsere Zeit, unsere Gegenwart, und wir sind jetzt Zeitgenossen“, erklärt Ralf Konersmann, Professor für Philosophie an der Universität Kiel. „Konsistenzbildungsversuch“ nennt er das Unternehmen, den Zeitgeist dingfest zu machen. Dabei erweist sich dieser jedoch wie eh und je als unhandlicher und widersprüchlicher Geselle.
Ein Ikea-Katalog des Mittelalters
Der Zeitgeist, so die Idee, prägt die Art, wie Menschen in einer Zeit handeln – und kann so helfen, dieses Handeln zu erklären. „Wenn Menschen Entscheidungen fällen, ergeben sich großräumige Muster“, erklärt Susanne Hakenbeck. Sie lehrt an der Universität Cambridge Archäologie. Das ist nicht unbedingt die Disziplin, die man zuerst mit dem Zeitgeist in Verbindung bringen würde. Dennoch hat sie jüngst in Bielefeld eine Tagung zusammengerufen, um mit Kollegen zu diskutieren, wozu der Begriff zu gebrauchen sei. „In der modernen Archäologie geht es entweder kleinräumig um einzelne Grabungsstellen, an denen im Detail geklärt wird, wie sich das Leben der Menschen dort entwickelt hat, oder es geht um große systemtheoretische Entwürfe. Es gibt aber noch etwas dazwischen“, so Hakenbeck.
Ein Beispiel: Archäologen finden von England bis Ungarn und von Nordfrankreich bis Italien Belege für eine Veränderung in der Bestattungskultur um die Mitte des fünften Jahrhunderts. Überall tauchen handtellergroße Fibeln auf, Anstecknadeln, meist aus Gold- oder Silberlegierung, mit ganz ähnlichen Mustern verziert. „Das ist wie aus einem mittelalterlichen Ikea-Katalog“, sagt Hakenbeck. Sie ist davon überzeugt, dass sich in den ähnlichen Funden eine ähnliche Erfahrung manifestiert: der Zusammenbruch des Römischen Reiches als zentraler Macht. Und dass diese geteilte Erfahrung die Bedeutung der Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Volksstämmen, die damals in Europa unterwegs waren, relativiert. „Diese Fundstücke sind der materialisierte Zeitgeist.“
Der Zeitgeist zeigt sich in Brüchen und Veränderungen
In der Archäologie hat der Zeitgeist einen langen Atem. Im frühen Mittelalter sind es ein oder zwei Jahrhunderte, in der Vorgeschichte auch einmal tausend Jahre, in denen etwa das Bauen von Steinkreisen angesagt war. Das liegt vor allem daran, dass wir von diesen Zeiten wenig wissen. „Uns fehlen einfach die Daten, um uns damit zu beschäftigen, was dieser oder jener Jäger in der frühen Steinzeit am Donnerstagnachmittag getan hat“, erklärt Hakenbeck. Je näher wir an die Gegenwart kommen, desto kleinteiliger erinnern wir uns, und desto stärker verschwimmt zugleich das Bild. „Ich habe den Eindruck, dass schon Menschen, die sechs oder sieben Jahre auseinander sind, heute ganz anders ticken, ganz andere Erfahrungen gemacht haben, die Welt anders sehen“, sagt Jöricke. Das macht es nicht leichter, einen zugrunde liegenden roten Faden zu erkennen.
Jöricke sucht den Zeitgeist in Brüchen und Veränderungen. 1986 lief die letzte Sendung von Dalli Dalli mit Hans Rosenthal. „Das war der Inbegriff deutscher Fernsehunterhaltung, ein paar nette Spielchen, und wenn es gut gelaufen ist, ist er in die Luft gehüpft“, so Jöricke. „Und nur drei Jahre später hat RTL Tutti Frutti gebracht, einen größeren Gegensatz kann man sich kaum vorstellen.“ Hier kann man den Wandel des Zeitgeists am Fernsehprogramm festmachen. Man kann ihn auch daran erkennen, was die Menschen lesen: Vampirromane, Harry Potter, Käpt’n Blaubär, Sachen, die eigentlich für Kinder und Jugendliche gemacht wurden und nun von Erwachsenen gelesen werden. „Natürlich haben die Leute früher auch nicht nur hohe Literatur gelesen, aber es macht doch einen Unterschied, ob man Russlandkriegsromantikschund liest oder sich solchen infantilen Themen widmet“, so Jöricke. Der Zeitgeist tendiert zur Flucht in eine zwar nicht heile, aber überschaubarere Welt.
Der Geist der unsicheren Zeiten
Die zahlreichen Retrobewegungen und Revivalpartys weisen für Jöricke in dieselbe Richtung. „Warum haben die Leute so eine Sehnsucht nach den Achtzigern, die ja eigentlich gar kein so dolles Jahrzehnt waren? Für mich ist das ein Indiz, dass die Leute sich mit der Gegenwart nicht mehr auseinandersetzen wollen, weil sie vieles einfach nicht mehr verstehen.“ Früher waren die Identitäten viel stärker von außen vorgegeben, von Nation, Religion, Familie. Heute müssen wir uns die Eckpfeiler der Identität selbst basteln. Viele empfinden das nicht nur als Befreiung, sondern auch als Belastung. Hier macht der Zeitgeist Orientierungsangebote, wo uns Begründungen fehlen. „Man kann etwas so oder so oder so machen, und der Zeitgeist sagt: ‚Mach es so‘“, erklärt Konersmann. Um aus Unentschiedenheit und Beliebigkeit herauszukommen, könne dies durchaus eine Hilfe sein. Wenn ich nicht weiß, wo ich hinwill, fahre ich eben dahin, wo alle hinfahren: „Das entlastet, orientiert und ist wichtig für die Gemeinschaft.“
Seine große Zeit hatte der Zeitgeist nicht zufällig im 19. Jahrhundert, auch damals war Orientierung gefragt. Die Zeitgenossen hatten die Französische Revolution als Bruch mit der Vergangenheit wahrgenommen. Die Weltgeschichte war nicht mehr Heilsgeschichte, nicht mehr Warten auf die Apokalypse. „Die Zukunft war offen, die Geschichte abgeschlossen, neue Erfahrungen standen an, die Gegenwart wollte interpretiert werden“, so der Soziologe Fran Osrecki von der Universität Wien. Diese Lücke füllte der Zeitgeist. Er sollte die Eigenart des „philosophischen Jahrhunderts“, das auf die Kraft der Vernunft vertrauen wollte, auf den Begriff bringen. Dabei entwickelte er sich zu einer mächtigen Waffe in den politischen Auseinandersetzungen, verlieh Legitimität, erklärte Erfolg und Misserfolg. Wer mit dem Zeitgeist ging, war auf der richtigen Seite, wer gegen ihn war, kämpfte wie gegen Windmühlenflügel.
Die Verheißung einer besseren Zukunft schwingt im Begriff Zeitgeist bis heute mit: „Der Zeitgeist selbst hat immer so einen Innovationsappeal, er gibt sich im Modus der Überraschung, des Neuen, des Aufregenden, des nie Dagewesenen“, sagt Konersmann. Nicht umsonst bemühen sich ganze Thinktanks, dem Zeitgeist nicht nur auf die Spur zu kommen, sondern ihm am besten auch noch ein Stück voraus zu sein. Diese Prognosen interessieren heute vor allem die Werbeindustrie. Ob Armbanduhr, Hochglanzmagazin oder Waschmaschine, wer den Nerv der Zeit trifft, dem winken die besten Verkaufszahlen.
Der Zeitgeist als Verführer
Im unterschwelligen Zwang, den er auf die Zeitgenossen auszuüben scheint, zeigt der Zeitgeist sein zweites, sein unsympathisches Gesicht. Der Philosoph Johann Gottfried Herder, der den Begriff als einer der Ersten verwandte, beklagte bereits im 18. Jahrhundert den „bleiernen Druck“ des Zeitgeists: die Erfahrung, dass man der Prägung durch die eigene Zeit nicht entgehen, sich einer sich abzeichnenden Entwicklung nicht entziehen kann. Aldous Huxley nannte den Zeitgeist Anfang der 1930er Jahre ein finsteres Tier und wünschte sich sehnlichst, seinen Klauen zu entkommen. Für Michel Foucault war er ein Gesetzestext von anonymer Hand, dem alle unterworfen sind.
„Zeitgeist sickert über die Intuition in unseren Geist, das sind winzige Wahrnehmungen, über die wir uns keine Rechenschaft ablegen, die aber gleichwohl ihre Spuren hinterlassen“, erklärt Konersmann. Dabei spielen die Dinge, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden, eine Rolle und auch das Bedürfnis dazuzugehören. „So kann man schon ganz junge Menschen auf den Zeitgeist einschwören, ohne dass sie wissen, wie ihnen geschieht.“
Nach der einen Lesart ist, wer mit dem Zeitgeist geht, an der vordersten Front des Fortschritts, nach der anderen ein Langweiler und Mitläufer, im schlimmsten Fall sind wir alle seine Marionetten. „Leider ist der Zeitgeist verdächtig, nicht gerade eine reflektierte Erscheinung zu sein, eher ein Konglomerat der Massenmeinung, also kein besonders feiner Geselle“, konstatiert Konersmann.
Und sicher kann man sich seiner auch nicht sein. „Es gibt keinen Katalog des Zeitgeists, er hat keine Paragrafen, man kann nicht mit dem Finger darauf zeigen“, benennt Konersmann ein Dauerproblem mit dem Zeitgeist. Das galt im 19. Jahrhundert, als die Zeitgenossen den Zeitgeist zugleich aufseiten der Revolutionäre, Napoleons und des Wiener Kongresses fanden. Und in Zeiten von „Google-Zeitgeist“, einer Statistik, die für jedes Jahr die am häufigsten in der Suchmaschine gesuchten Begriffe auflistet, gilt es noch immer. Wahl-O-Mat, Immobilienscout, Paul Walker, iPhone5 und das Dschungelcamp verraten uns wenig über den Zeitgeist von heute.
Unser Zeitgeist, euer Zeitgeist
Selbst wenn wir meinen, uns an den Geist einer Epoche zu erinnern, können wir falsch liegen. So waren für viele die 1970er ein Jahrzehnt der Freiheit. „Die Siebziger waren aber auch ganz anders“, erinnert Jöricke. Der Optimismus der Sechziger hatte sich verflüchtigt, man merkte, dass keine bessere Welt geschaffen würde. Auf einmal gab es Massenarbeitslosigkeit, Ölkrise, den Deutschen Herbst. „Trotzdem: Wenn man heute fragt, kommen die Leute mit ABBA, Boney M. und großer Leichtigkeit, der Zeitgeist wird reduziert auf Blümchentapeten.“ Vor allem zum Individuum hat der aktuelle Zeitgeist ein unentspanntes Verhältnis. Er verlangt Selbstverwirklichung und Originalität und liefert doch immer nur Orientierungsangebote für die Massen. Die stehen dann in individuellem Outdooroutfit mit ihrem individuellen Allrad-SUV Schlange, um ganz individuell durch eine isländische Furt zu fahren. „Da dämmert es einem, dass man doch wieder dem Zeitgeist auf den Leim gegangen ist“, sagt Konersmann mit einem Schmunzeln. Auch wer versucht, sich so weit wie möglich vom Zeitgeist zu distanzieren und alles ganz anders zu machen, wird ihm nicht entgehen: „Diese Menschen prägen den neuen Zeitgeist“, so Konersmann. „An ihnen können wir sehen, wo wir in fünf Jahren stehen werden.“
Literatur
Susanne Hakenbeck: Zeitgeist. Materialized worldviews in archaeology (in Vorbereitung)
Frank Jöricke: Jäger des verlorenen Zeitgeists. Solibro, Münster 2013
Ralf Konersmann: Der Hüter des Konsenses. Zeitgeist-Begriff und Zeitgeist-Paradox. In: Michael Gamper, Peter Schnyder (Hg.): Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfassbare Körper. Rombach, Freiburg 2006