Früher war vielleicht nicht alles besser, aber vieles war übersichtlicher. Zwar war das Fernsehen auch vor einigen Jahrzehnten bereits das Massenmedium, das es noch immer ist. Doch wer heute einen Blick auf alte Serien wie Starsky & Hutch oder Derrick wirft, wird überrascht sein, wie eindimensional Handlung und Charaktere damals angelegt waren und mit welchem Schneckentempo die Geschichte vorangetrieben wurde. Dagegen wirkt das Fernsehen des 21. Jahrhunderts fast überkomplex. Ein Beispiel: In einer einzigen…
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vorangetrieben wurde. Dagegen wirkt das Fernsehen des 21. Jahrhunderts fast überkomplex. Ein Beispiel: In einer einzigen Episode der amerikanischen Thrillerserie 24 begegnet der Zuschauer 21 Personen. Jede Figur hat ihre eigene Geschichte, und jede ist mit den anderen verwoben, die Handlungsstränge werden parallel erzählt. Es ist nicht leicht, da den Überblick zu behalten und den Plot wirklich zu verstehen. Waren die Zuschauer, die früher vor den Röhrenbildschirmen saßen, etwa weniger klug als diejenigen, die heute vor ihren Flachbildfernsehern hocken?
Genauso ist es, sagt James Flynn. Der amerikanische Politikwissenschaftler entdeckte 1984, dass die Menschen in den Industrienationen über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg immer besser bei Intelligenztests abgeschnitten hatten. Die Frage war seither nur: Hat sich tatsächlich etwas an unserer Art zu denken geändert? Flynn, Jahrgang 1934, glaubt, dass dies der Fall ist. Auch Ursachen hat der Forscher ausgemacht. Die moderne Welt fordere den Verstand stärker heraus, als dies der Alltag in früheren Zeiten tat. In Schule, Universität und Beruf ist es heute nötig, abstrakt zu denken, Logik auf schwierige Probleme anzuwenden sowie sich hypothetische Szenarien vorzustellen. Das bleibe nicht folgenlos.
In seinem jüngsten Buch Are We Getting Smarter? argumentiert Flynn: Wer sich tagsüber bei der Arbeit oder in der Schule mit komplexen Inhalten auseinandersetzt, fühlt sich abends von einfach gestrickter Fernsehunterhaltung wie Starsky & Hutch unterfordert. Kognitiv anspruchsvolle Formate wie 24 zu produzieren sei auf dem Unterhaltungsmarkt nur sinnvoll, wenn ein durchschnittlicher Zuschauer der Handlung folgen und sie verstehen könne. Nicht nur am Fernsehprogramm zeigt sich, wie sich die geistigen Ansprüche verändert haben. Auch das Niveau von Schachturnieren ist in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter gestiegen. Und die Großmeister, also die Besten der Besten, werden immer jünger. Magnus Carlsen aus Norwegen, 1990 geboren, darf sich seit 2013 Schachweltmeister nennen. Hätten die steigenden IQ-Werte nichts mit der wirklichen Welt zu tun, hätte das alles nach Ansicht Flynns nicht passieren dürfen.
30 Jahre Flynn-Effekt
Was James Flynn, heute emeritierter Professor der University of Otago in Neuseeland, vor 30 Jahren entdeckte, trägt als Flynn-Effekt längst seinen Namen. Flynn war übrigens nicht der Erste, dem diese Veränderungen auffielen – aber derjenige, der die Öffentlichkeit nachhaltig darauf aufmerksam machen konnte.
Mittlerweile ist diese Entwicklung für die gesamte industrialisierte Welt gut belegt. Und in vielen Regionen ist noch kein Ende in Sicht. In den USA werden die Ergebnisse bei Intelligenztests noch immer von Jahr zu Jahr besser. Auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz legen Erwachsene bei bestimmten Aufgaben, etwa Wortschatztests, weiterhin zu. Und was heißt das nun? Nach Ansicht von Flynn vor allem eines: Jede Epoche hat ihre eigenen Herausforderungen. Daran passen sich Menschen an. Wer um 1900 auf einem Bauernhof lebte, musste konkrete, unmittelbare Lösungen für seinen Alltag finden. Dagegen lernen wir heute schon früh, Dinge zu klassifizieren, sie systematisch zu betrachten. Das lässt sich anhand einer scheinbar simplen Frage zeigen: „Was haben Hunde und Hasen gemein?“ Die pragmatische Antwort eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebenden Menschen wäre, so Flynn: „Mit Hunden jagt man Hasen.“ Unsere heutige, logisch korrekte Lösung ist: „Beides sind Säugetiere.“
Die moderne Gegenwart schult jene Fähigkeiten, die in Intelligenztests abgefragt werden. Sind wir heute Lebenden deshalb wirklich intelligenter als unsere Vorfahren oder nur anders? Letztlich, so Flynn, bleibt das eine Frage der Wortwahl. Sicher sei jedoch, dass die Gegenwart ein größeres Spektrum kognitiver Herausforderungen bereithalte als die Umgebung unserer Vorfahren. Um damit umzugehen, hat die Menschheit neue geistige Fähigkeiten entwickelt. Das bedeutet jedoch nicht, dass 1990 geborene Leute vom Moment ihrer Zeugung an den Bauplan für ein leistungsfähigeres Gehirn in sich tragen. So schnell verläuft die Evolution dann doch nicht, als dass sie innerhalb von 100 Jahren zu so umfangreichen Verbesserungen hätte führen können.
Doch auch wenn viel darüber geredet wird: Kaum ein Begriff scheint so unscharf zu sein wie der der Intelligenz. Was also ist damit gemeint? Die Psychologin Linda Gottfredson versteht darunter einen Überbegriff für verschiedene geistige Fähigkeiten. Diese können hoch oder weniger hoch ausgeprägt sein. Zu diesen Eigenschaften gehören schlussfolgerndes und abstraktes Denken, die Fähigkeiten zum Planen und Problemlösen sowie das Verständnis komplexer Ideen. Hinzu kommen die Schnelligkeit der Auffassungsgabe und das Lernen aus Erfahrungen. Für die Intelligenzforscher Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer ist das schlussfolgernde Urteilen das Kernstück der Intelligenz: also aus gegebenen Informationen neue Informationen abzuleiten.
Eine Frage der Motivation?
Psychologen messen die verschiedenen Eigenschaften der Intelligenz mit Tests. Die darin enthaltenen Aufgaben überprüfen zum Beispiel Wortschatz und Satzverständnis, die Handhabung von Gegenständen oder den logischen Umgang mit Bildern. Allerdings sind die Ergebnisse immer relativ. Anders als feste Parameter wie etwa die Größe werden die Ergebnisse eines Intelligenztests mit den Werten anderer Menschen des gleichen Alters in Beziehung gesetzt. Der Durchschnitt liegt dabei immer bei 100. Werte zwischen 90 und 110 Prozent gelten als normal. In einem Ort mit 10 000 Einwohnern hätten 5000 Menschen einen solchen durchschnittlichen IQ.
Klar ist auch, dass die Motivation eine Rolle für die geistige Leistung spielt: Ob sich jemand bei Intelligenztests anstrengt, beeinflusst, wie gut er dabei abschneidet. Wie Angela Lee Duckworth von der University of Pennsylvania gezeigt hat, bemühen sich nicht alle Teilnehmer von Intelligenztests in gleicher Weise um gute Ergebnisse. Duckworth geht deshalb davon aus, dass Menschen mit hohem IQ sowohl motiviert als auch talentiert sind. Dagegen ist bei Personen mit niedrigen Werten oft weniger klar, ob jemand keinen Anreiz sieht, sein Bestes zu geben – oder ob fehlende intellektuelle Fähigkeiten für das Ergebnis verantwortlich sind.
Flynn untersuchte für seine Arbeiten Intelligenztest-Rohwerte. Die Ergebnisse zeigten nun, dass jede Generation bei den üblichen Tests besser abschnitt als die vorangegangene, also jeweils mehr Probleme lösen konnte. Das galt selbst bei Aufgaben, die eigentlich wenig abhängig von kulturellen und sozialen Einflüssen sein sollten. In den Niederlanden etwa legten junge Männer von 1952 bis 1982 beim sogenannten progressiven Matrizentest um satte 20 Prozent zu. Dabei muss in einer Reihe geometrischer Muster ein fehlendes Teil ergänzt werden (siehe Abbildung). Eigentlich, so die Überlegung, ist dafür nur wenig Vorwissen nötig. Deshalb sollten Umwelteinflüsse gering sein.
Auffällig war in der Gesamtbetrachtung jedoch, dass die Zugewinne der verschiedenen intellektuellen Tests unterschiedlich stark ausfielen. Der größte Anstieg ließ sich auf Aufgaben zurückführen, die die Fähigkeit zum abstrakten Denken messen. Die Frage ist nun: Was bedeuten diese Veränderungen?
Um eine Antwort zu finden, muss man etwas in der Zeit zurückgehen. Schon 1904 beobachtete Charles Spearman, dass die Resultate verschiedener Aufgaben statistisch miteinander zusammenhängen. Gute Ergebnisse in einem Intelligenztest sagen tendenziell auch gute Ergebnisse in einem zweiten vorher. Spearman folgerte, dass es einen allgemeinen Kern der Intelligenz gibt, der an allen geistigen Leistungen beteiligt ist. Der britische Psychologe wählte dafür die Bezeichnung des Generalfaktors, kurz g-Faktor. Neben dieser breiten Grundintelligenz sah der Forscher zudem besondere Fähigkeiten am Werk, die vor allem für bestimmte Bereiche hilfreich sind. Ein Schüler, der gut in einer Mathematikklausur abschneidet, profitiert demnach von seiner generellen Intelligenz und seiner konkreten Fähigkeit, mit Zahlen umzugehen. Da manche Untertests die Ergebnisse anderer Aufgaben besonders gut vorhersagen, scheinen diese auch mehr über die allgemeine Intelligenz einer Person auszusagen. Sie haben demnach ein hohes sogenanntes g-Loading. Dieses ist umso höher, je komplexer eine Aufgabe wird. Zahlenreihen nachzusprechen hat beispielsweise ein geringes g-Loading, Zahlenreihen rückwärts zu wiederholen dagegen ein höheres.
Ob der Flynn-Effekt tatsächlich auch Zugewinne dieser Grundintelligenz beinhaltet, ist umstritten. Der mittlerweile verstorbene Psychologe Arthur Jensen tat den Flynn-Effekt als bedeutungslos ab. Jensen zufolge handelt es sich nicht um einen Zuwachs im Sinne des g-Faktors. Warum? Es ist bekannt, wie hoch der g-Gehalt einzelner IQ-Aufgaben ist. Sollte die allgemeine Denkkraft insgesamt zugenommen haben, müssten die Zugewinne sich entsprechend auf die einzelnen Untertests verteilen. Das tun sie aber nicht.
Jensen hielt insbesondere die Grundintelligenz für weitgehend vererbt. Er beobachtete, dass Zwillinge sich in dem Maße, in dem sie sich genetisch ähneln, auch hinsichtlich ihrer g-Loadings übereinstimmen. Äußere Einflüsse dürften demnach höchstens Spezialfertigkeiten fördern.
James Flynn sieht das anders. Auch ihm ist zwar bewusst, dass die Testergebnisse in verschiedenen Bereichen unterschiedlich stark angestiegen sind. Doch er argumentiert, dass sich trotz dieser verwirrenden Befunde auch die zugrunde liegenden allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten verbessert haben. Um das zu erläutern, setzt er eine Analogie ein. Sportler, die für den 100-Meter-Lauf trainieren, verbessern dadurch ihre allgemeine Schnelligkeit – ein Faktor, der auch für andere Wettbewerbe von Vorteil ist. Doch um als geübter 100-Meter-Läufer ein erfolgreicher Hürdenläufer zu werden, braucht es mehr, etwa ein gutes Rhythmusgefühl. Trotzdem hilft das spezielle Training, eine allgemeine Fähigkeit zu verbessern. Niemand würde einem geübten Sprinter absprechen, dass er sich einen insgesamt nützlichen Vorteil erworben hat und auch in anderen Disziplinen etwas besser dasteht.
Vorteil für die Jugend
Ähnlich sei es bei der Intelligenz. Schulkinder in den USA etwa würden heute insbesondere in Aufgaben geübt, die denen des progressiven Matrizentests ähnelten. Zudem widme sich der Nachwuchs in seiner Freizeit am Computer Spielen, die das Problemlösen in visuellen und symbolischen Zusammenhängen ebenfalls fördern. Der Klassiker Tetris schult den Umgang mit räumlicher Geometrie, Myst dagegen setzt auf logische Rätsel, bei Grand Theft Auto kommt man ohne Kartenlesen nicht weit. Trainiert werden also spezielle intellektuelle Fähigkeiten, weshalb ein gleichmäßiger Anstieg des Generalfaktors nicht zu erwarten sei.
Trotzdem: Wer sich in einer konkreten Disziplin verbessert, erhöht demnach auch seine allgemeine Fitness.
Flynns Interpretation ist, gerade was den g-Faktor angeht, umstritten. Die Forschungsliteratur liest sich widersprüchlich. Oder wie der britische Psychologe James Thompson sagt: „Für jeden Befund scheint es einen Gegenbefund zu geben.“ Doch angenommen, Flynn hat recht: Worin besteht genau die geistige Fitness jüngerer Generationen? Die Psychologen Mark Fox und Ainsley Mitchum von der Florida State University sind der Frage nachgegangen. Sie werteten Daten von 1940 und 1990 geborenen Versuchspersonen neu aus. Beide Gruppen hatten sich im Alter von 20 Jahren mit dem progressiven Matrizentest auseinandergesetzt.
Je weniger offensichtlich die Lösung der Probleme war, desto mehr fielen die Ergebnisse der 1940 Geborenen ab. Die Generation 1990 hatte dagegen geringere Probleme damit, verborgene Gesetzmäßigkeiten zu entdecken und anzuwenden. Ein Beispiel: Wer etwa die folgende Reihenfolge ergänzen soll, dem helfen seine Kenntnisse zu Buchstaben und Zeichen nicht weiter: &$B:B&$:: T&T:$$_. Ziemlich knifflige Aufgabe, zugegeben. Um sie zu lösen, muss man das zugrunde liegende Prinzip erkennen, nämlich: zwei von einer Sorte. In der Gruppe links der beiden Doppelpunkte sowie rechts davon finden sich stets zwei unterschiedliche Zeichen einer Art. Entsprechend fehlt in der letzten Gruppe noch: &.
Warum lösen jüngere Menschen solche Probleme häufiger? Wohl nicht, weil sie von Geburt an mit leistungsfähigeren Gehirnen ausgestattet sind. Da sind Fox und Mitchum ganz bei James Flynn. Die Psychologen aus Florida glauben, dass kulturelle Ursachen entscheidend sind – selbst bei Tests, die eigentlich keine Rücksicht auf die Lebensweise nehmen sollen. Doch heute wachsen Kinder mit dem Bewusstsein auf, sich nicht mit der erstbesten Antwort auf eine Frage zufriedenzugeben. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sei die Bereitschaft, die Welt aus einer wissenschaftlichen, logischen Perspektive zu betrachten, gestiegen. Damit verbunden ist das Vertrauen, hinter jedem scheinbaren Chaos eine nachvollziehbare Logik zu finden. Es könnte also sein, dass frühere Generationen nach einem kurzen Blick die Lust aufs Rätselraten verloren – im Gegensatz zu den fleißig weiterknobelnden Testlösern der Gegenwart.
Fox und Mitchums Ergebnisse könnten auf elegante Weise erklären, warum der Flynn-Effekt so hohe Zugewinne bei logischen Tests gezeigt hat. Dagegen gab es bei Aufgaben, die größeres Vorwissen voraussetzen, kaum Zugewinne. Bei Mathematik bringt Logik allein nicht weiter – man muss auch die Fachsprache kennen.
Mitchum weist darauf hin, dass auch heute Menschen in ein und derselben Gesellschaft unter ganz unterschiedlichen kulturellen Bedingungen leben. Ziemlich sicher sind manche Umgebungen aber förderlicher als andere, um etwa logisches Denken zu trainieren. Mitchum: „Die aktuellen Intelligenztheorien berücksichtigen diese Vielfalt zu wenig. IQ-Tests können deshalb nicht sicher sagen, in welchem Umfang oder in welcher Weise sich neurologisch gesunde Menschen intellektuell voneinander unterscheiden.“
Zurück zum Entdecker des Flynn-Effekts: James Flynn meint also, Generation auf Generation sei tatsächlich schlauer geworden. Die ultimative Ursache sieht der Politologe in unserer modernen Umwelt, wie sie unter anderem die industrielle Revolution geformt hat. Diese große Umwälzung der Verhältnisse habe letztlich eine ganze Reihe von kleineren Veränderungen ausgelöst. In den Industrienationen wurde die Ernährung besser; Eltern bekamen weniger Kinder, um die sie sich besser kümmern konnten. Die Berufe wurden mit der Zeit immer anspruchsvoller. Da qualifizierte Arbeiter gebraucht wurden, entstanden staatliche Schulsysteme, Bildung wurde für immer mehr Menschen zugänglich. Um 1900 ging ein durchschnittlicher Amerikaner weniger als sechs Jahre zur Schule. Heute besuchen viele die Universität und sind später als Ingenieure, Softwareprogrammierer oder Lehrer angestellt – intellektuell fordernde Tätigkeiten, die auch gut bezahlt werden. Wie sollte das keine Auswirkungen auf das Denkvermögen haben?
Doch auch wenn der Flynn-Effekt selbst gesichert ist: Letztlich lassen sich die Ursachen nicht wirklich präzise bestimmen. Wären sie vollständig bekannt, würden sich diese Fortschritte gezielt fördern lassen.
Es bleibt die Frage: Wenn Menschen in den Industrienationen große Intelligenzzugewinne verzeichnen konnten – ist das dann auch anderswo möglich? Es ist unstrittig, dass es heute zwischen Industrieländern und weniger entwickelten Nationen Unterschiede gibt. In Afrika liegen die Durchschnitts-IQs südlich der Sahara bei etwa 70, bei Ländern in Nordostasien wie Japan und Südkorea bei etwa 105. Auch hier könnte die Industrialisierung einen guten Teil der Unterschiede erklären: Während einige Teile der Welt noch kaum davon profitiert haben, haben sich andere Regionen mindestens ebenso rasant entwickelt wie Europa und Nordamerika.
Allerdings stimmen nicht alle Forscher Flynn zu, der gestiegene IQ-Werte als Folge der wirtschaftlichen Veränderungen versteht. Andere sehen in Intelligenzunterschieden die Ursache für unterschiedliche Arten des ökonomischen Fortschritts. Der britische Psychologe Richard Lynn und der finnische Politikwissenschaftler Tatu Vanhanen etwa schlussfolgern, in den heutigen Entwicklungsländern fehle die grundlegende Intelligenz, um den Wohlstand der reichen Länder zu erreichen.
Flynns Gegenargument ist ein historisches. Er verweist darauf, dass ein durchschnittlicher Amerikaner 1917 auch nur auf einen IQ von 72 Punkten kam – aus heutiger Sicht. Das habe die USA nicht daran gehindert, zur reichsten und mächtigsten Nation der Welt aufzusteigen. Deshalb sei die geistige Leistungsfähigkeit wohl keine unmittelbare Voraussetzung für die sonstige Entwicklung einer Region.
Die Wissenschaftler Gerhard Meisenberg und Michael Woodley haben berechnet, ob die bisherigen Niedrig-IQ-Nationen auch mit größeren Flynn-Effekten rechnen können. Die Forscher von der Ross University Medical School in Dominica sowie von der Umeå University in Schweden werteten dafür die Daten zu Schultests aus Mathematik, Naturwissenschaften und Leseleistung aus. Die Ergebnisse sind zwar nicht ganz identisch mit Intelligenztests, überschneiden sich jedoch.
In beiden Untersuchungen zeigten die bisherigen Niedrig-IQ-Länder ein stärkeres Wachstum als die hochentwickelten Länder. Meisenberg und Woodley sehen darin ein Indiz für die Annahme, dass die Unterschiede sich weltweit verringern. Je höher die Ergebnisse der Schüler zu Beginn eines Messzeitraums, desto weniger Luft nach oben scheint noch zu sein. Meisenberg und Woodley sind sich deshalb einigermaßen sicher, dass „Länder, die bisher niedrige Durchschnittswerte aufweisen, sich den Ländern mit hohen Punktwerten angleichen“. Die Forscher haben berechnet, dass, sofern sich die aktuellen Trends fortschreiben, die weltweiten Ergebnisse der PISA-Studie nach 40 Jahren auf einem Level liegen. Bei der Mathematik- und Naturwissenschaftserhebung TIMSS könnte das aber noch deutlich länger dauern.
Ob es tatsächlich so kommt, weiß heute niemand. Arthur Jensen, der konservative Gegenspieler von James Flynn, ging etwa davon aus, dass die biologischen Grenzen für die Entwicklung insbesondere hoher Intelligenz nicht überall gleich verteilt sind. Allerdings sind die genetischen Grundlagen von Intelligenz bisher weitaus weniger gut untersucht, als man denken würde. Und Flynn plädiert ausdrücklich dafür, in der Intelligenzforschung auch in Zukunft die äußeren Einflüsse zu berücksichtigen. Er appelliert an Psychologen, nie die gesellschaftliche Perspektive zu vernachlässigen, also mögliche soziale und kulturelle Ursachen für einen Befund.
Literatur
James R. Flynn: Are we getting smarter? Rising IQ in the twenty-first century. cambridge University Press, Cambridge 2012
Elsbeth Stern, Aljoscha Neubauer: Intelligenz. Große Unterschiede und ihre Folgen. DVA, München 2013
James R. Flynn: The “Flynn Effect” and Flynn’s paradox. Intelligence, 41/6, 2013, 851–857. DOI: 10.1016/j.intell.2013.06.014
Mark C. Fox, Ainsley L. Mitchum: A knowledge-based theory of rising scores on “culture-free” tests. Journal of Experimental Psychology: General, 142/3, 2013, 979–1000. DOI: 10.1037/a0030155
Gerhard Meisenberg, Michael Woodley: Are cognitive differences between countries diminishing? Evidence from TIMSS and PISA. Intelligence, 41/6, 2013, 808 bis 816. DOI: 10.1016/j.intell.2013.03.009
James Flynn: Why our IQ levels are higher than our grandparents’
James Flynn, 1934 geboren, ist ein amerikanischer Politologe. In den 1960er Jahren wanderte er nach Neuseeland aus. Selbst seine Kritiker würdigen ihn als großen Gentleman-Gelehrten.