Die Geschichte der Gefühle

Eine Kulturhistorikerin in einem psychologischen Institut? Für Ute Frevert kein Widerspruch. Psychologie brauche einen Bezug zur Geschichte.

Eine Frau mit schwarzen langen Locken trägt Kopfhörer und lächelt dabei gefühlvoll
Einer Psychologie ohne Bezug zu Gegenwart und Vergangenheit fehlt eine zentrale Dimension. © Westend61/Getty Images

Psychologie Heute Frau Professor Frevert, sind Sie immer noch ein Risiko?

Ute FREVERT Warum sollte ich je eines gewesen sein?

PH Sie haben sich selbst so bezeichnet, 2008, als Sie Ihr Amt als Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin antraten. Im Gespräch mit der Zeit nannten Sie sich damals „eine riskante Berufung“.

FREVERT Nun ja, das war der neuen Situation geschuldet: eine Historikerin unter lauter Psychologen, Neurowissenschaftlern und Bildungsforschern – da kommt anfangs schon…

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Historikerin unter lauter Psychologen, Neurowissenschaftlern und Bildungsforschern – da kommt anfangs schon eine gewisse Unsicherheit auf: Wie passen meine eigenen Pläne zu den Erwartungen der Kollegen? Werde ich den mir zugedachten Part auch zum Nutzen aller spielen können?

PH Liegt in Ihrer Berufung vielleicht der Ausdruck für ein selbst wahrgenommenes Defizit bei den Psychologen? Irgendein Mensch muss doch festgestellt haben: Uns fehlt da etwas …

FREVERT Diesen Menschen kann man sehr genau benennen: Das war Paul Baltes. Bis zu seinem Tod im November 2006 war er Direktor dieses Instituts – und im Jahr zuvor der Spiritus Rector hinter meiner Berufung. Der Soziologe Karl Ulrich Mayer hatte das Haus verlassen, und die Frage war: Wer soll ihm folgen? Wieder ein Soziologe? Oder vielleicht, damit es nun ganz homogen ist, ein Psychologe? Da war Baltes derjenige, der in seiner ausgreifenden und neugierigen Art sagte: Leute, erkennt die Chance, die sich uns da öffnet! Eine Kulturhistorikerin oder ein Kulturhistoriker – das könnte interessant sein.

PH Ihr Thema, das Forschungsziel Ihrer ganzen Abteilung, ist die Geschichte der Gefühle. Sie haben etwa über männlichen Stolz geforscht, über die Rollen von Mann und Frau im Lauf der Zeiten, über Willy Brandts Kniefall vor den Opfern des Warschauer Ghettos und über die Tränen von Hillary Clinton, als sie Präsidentschaftskandidatin der amerikanischen Demokraten werden wollte. Das sind Gesten, vielleicht menschliche Momente, schön. Aber Gefühle in der Politik – ist das nicht ein bisschen abseitig?

FREVERT Das war lange Zeit so etwas wie ein konditionierter Reflex: Diese vermeintlich durch und durch rational strukturierte Welt – und dann so etwas wie Emotionen. Das passt doch nicht! Dabei haben Sie selbst ein paar sprechende Beispiele dafür genannt, welche Bedeutung Gefühle oder Gefühlsäußerungen haben können. Immerhin hat Hillary Clinton anschließend die Vorwahl in New Hampshire gewonnen – zu spät wohl, denn schließlich war es ihr Kontrahent Barack Obama, der Kandidat und dann auch Präsident wurde. Aber der Erfolg ihres Appells war nicht zu übersehen. So funktioniert das mit der Gefühlspolitik: Es geht nicht um eine Politik, die aus dem Gefühl heraus geschieht, sondern eine, die Gefühle erkennt und aufnimmt, sie anspricht, inszeniert, erzeugt und in den Dienst nimmt.

PH Eine Form der Manipulation …

FREVERT Auch. Kann sein. Aber zunächst einmal, historisch betrachtet, eine spätestens seit dem 18. Jahrhundert, seit dem aufgeklärten Absolutismus eines Friedrich II. von Preußen bekannte und verbreitete Strategie, die über diplomatischen Erfolg, politische Bündnisse, Wahlen oder Weltkriege entscheidet. Das kann Ihnen noch heute jeder Staatssekretär, Wahlkampfmanager oder spin doctor bestätigen. Und Sie müssen nicht einmal bis zu Leni Riefenstahl zurückgehen, bis in die Propaganda-Maschinerie der Nazis oder den Personenkult um den Diktator Stalin. Denken Sie an die Umarmung, mit der Wladimir Putin nach dem Flugzeugunglück von Smolensk im April 2010 jeden Zweifel der Polen an der solidarischen Verbundenheit Russlands erstickte. Drei Tage zuvor hatte es noch deutliche Verstimmung gegeben, weil die Russen sich weigerten, Verantwortung für das Massaker der sowjetischen Armee an polnischen Offizieren 1940 in Katyn zu übernehmen. Das nenne ich Gefühlsmanagement! Und was stand auf den Plakaten, mit denen Angela Merkel zur Bundestagswahl 2013 um Stimmen warb? Es war ein Programm, das sich in einem Wort zusammenfassen ließ …

PH Da stand „Vertrauen“. Aber das ist kein Programm.

FREVERT Natürlich nicht. Es war allenfalls die Suggestion eines Programms, tatsächlich aber nur ein Appell. Vielleicht steckte auch ein vage formuliertes Versprechen darin. Ich bin da in jedem Fall skeptisch. Und frage mich: Ist es wirklich Vertrauen, was die Politiker von uns wollen? Oder worauf sonst erheben sie Anspruch?

PH Vertrauensfragen sind das Thema Ihres jüngsten Buches. Sie erörtern die eindrucksvolle Karriere des Begriffs – von Lohengrins Forderung „Nie sollst du mich befragen“ bis zu seiner Inflation in Politik und Wirtschaft, bis zur „Bank Ihres Vertrauens“ oder dem vermeintlichen Wahlprogramm einer Kanzlerin, die ihrem Wahlvolk offenbar nicht allzu viel Differenzierungsvermögen zutraut. Wem können wir überhaupt noch trauen?

FREVERT Vertrauen Sie Ihrem Sprachgefühl! Fragen Sie sich, ob Sie einem Shampoo vertrauen können. Einem Gütesiegel im Supermarkt. Einer Schweizer Bank. Oder zehn Millionen Klicks auf YouTube oder Google. Ich bin vorsichtig, von Vertrauen zu reden, wenn damit etwas angesprochen wird, das über die unmittelbare Beziehung zwischen Menschen hinausgeht. Mit dem Vertrauen, von dem ich geneigt bin, es als solches zu akzeptieren, hat das alles nichts zu tun – also dem Vertrauen in einen mir bekannten Menschen, mit dem ich Dinge teile, einen selektiven, voraussetzungsvollen, vielleicht folgenreichen Umgang pflege. Und schon gar nichts mit dem basic trust im Sinne von Erik Erikson, dem Urvertrauen, das entsteht, wenn ein Kind erlebt, wie sich ihm primäre Bezugspersonen auf verlässliche Weise zuwenden. Laut Erikson wächst in solcher Beziehung nicht nur ein Grundvertrauen in diese Person oder Personen, sondern auch so etwas wie Selbstvertrauen. Kommerzielle oder ideologische Werbung um Vertrauen dagegen halte ich schlicht für Irreführung und Missbrauch.

PH Um beim Thema Gefühlsmanagement zu bleiben: Die Frage nach dem Risiko Ihrer Berufung haben Sie sehr diplomatisch ins Positive gewendet – nämlich in die Frage: Welche Chancen ergaben sich daraus? Aber gibt es nicht vielleicht wirklich auch eine andere Seite? Waren Sie ein Risiko für Ihr Institut? Oder für die Psychologie als Ganzes?

FREVERT Da müssen Sie meine Kollegen fragen. Tatsächlich arbeiten wir ja schon ein paar Jahre erfolgreich zusammen. Ich habe längst damit begonnen, Konzepte etwa aus der neurowissenschaftlichen Forschung sehr ernst zu nehmen, und ich glaube auch, dass die Kollegen aus der Psychologie die Idee einer historischen Dimension ihrer Konzepte als Gewinn erkannt haben. Aber natürlich ist es immer riskant, wenn etwas Neues anfängt. Man hat eine Menge Leidenschaft im Bauch und Pläne im Kopf. Da kann es im Alltag eines Forschungsinstituts auch mal haken und schrammen. Das beginnt bei dem Team, das man für die gemeinsame Arbeit zusammenstellt. Im Unterschied zu dem, was ich in der psychologischen Forschung wahrnehme, arbeiten Historiker extrem individualistisch, überhaupt nicht arbeitsteilig. Ich könnte keine Mitarbeiter für ein fest definiertes Projekt finden und ihnen auftragen, diesen oder jenen Teil davon zu übernehmen. Da würde keiner kommen. Die würden sich alle in ihrer Ehre getroffen fühlen, denn sie halten große Stücke auf Freiheit der Themenwahl und Selbstverantwortung in der Durchführung.

PH Aber es geht doch darum, in einem Projekt mitzuarbeiten und Ergebnisse zusammenzutragen: klassisches Teamwork.

FREVERT Ja, aber anders. Ich kann eine große Thematik vorgeben wie eben die Geschichte der Gefühle, kann ein sehr breites Dach konstruieren, unter dem viele, gern auch wilde Köpfe Platz finden. Ich kann Hypothesen entwickeln, Fragen aufwerfen, deren Antworten wir gemeinsam finden – aber jeder tut das auf seine Weise und an einem selbst gewählten Thema. Im Moment baue ich eine kleinere Forschungsgruppe zu law and emotions auf, zu Recht und Gefühlen aus historischer Perspektive. Ich habe Kollegen in der ganzen Welt angesprochen und es im Internet breit gestreut: Bewerbt euch! Und es melden sich viele, die schon als Doktoranden oder Postdoktoranden in der Rechtsgeschichte unterwegs waren, ihre eigenen Spuren gelegt haben und nun versuchen, das unter mein Dach zu kriegen. Manchmal passt es – das sind wundervolle, glückliche Momente! Und manchmal ragt zu viel in den Regen hinaus. Dann passt es eben nicht. Diese Situation, dass Leute mit einem Projekt oder einer Idee kommen, zwar bereit sind, das vielleicht noch mal neu zu perspektivieren, andere Akzente zu setzen, aber letztendlich doch an ihrem Strang, festhalten – das unterscheidet junge Historiker im Institut von jungen Psychologen.

PH Aber auch in Ihren Projekten, auch in der historischen Forschung wird kooperiert.

FREVERT Schon, aber wir haben andere Formate: Jede Person in diesem Forschungsbereich schreibt zunächst einmal ihr eigenes Buch. Das ist die grundlegende Währungseinheit für einen Historiker, und es gilt schon für die Doktorarbeit oder für die Habilitation: Das müssen Bücher sein.

PH Wie definiert sich ein Buch?

FREVERT Es sind nicht drei Papers, die zusammengebunden werden und einen Obertitel bekommen, sondern es ist eine richtig durchgeschriebene, aus einem konsistenten Argumentationsbogen entwickelte Monografie. Dahinter steckt ein eigenes Thema, eine spezifische Fragestellung, eine neue These, mit denen man entweder ein ganz neues Fass aufmacht oder die bisherige Forschung grundlegend kritisiert und revidiert. Jede Mitarbeiterin schreibt bei uns ihr Buch, und alle diese Bücher, alle Projekte stehen unter dem Dach „Geschichte der Gefühle in der Moderne“. Daneben gibt es aber auch etwas, das wir „kollaborative Projekte“ nennen. Wir haben gerade eines abgeschlossen, in dem wir Kinderbücher des 19. und 20. Jahrhunderts darauf untersucht haben, wie sehr sie geeignet sind, daraus Gefühle zu lernen.

PH Ein Beitrag der Geschichte zur Bildungsforschung …

FREVERT Wenn Sie so wollen: genau das, was von diesem Institut erwartet wird. Wir haben Bücher ausgesucht, die sehr weit verbreitet sind oder waren, möglichst auch viele Übersetzungen erfahren haben, Robinson Crusoe etwa oder Pippi Langstrumpf, weil solche Bücher für die Gruppe der Adressaten – also Kinder zwischen fünf und 16 Jahren – einen ganz wichtigen Bildungs- und Menschwerdungsfaktor darstellen. Im englischen Namen unseres Instituts heißt das human development. Wir fragten uns also, inwieweit Kinderbücher angelegt und genutzt wurden als Medien, die ihren Leserinnen und Lesern Information darüber liefern, wie mit Gefühlen – den eigenen und denen von anderen – umzugehen ist. Geben diese Bücher Modelle vor, latent oder offensiv, positiv oder negativ? Liefern sie auch eine Moral von der Geschicht’? Reg dich nicht immer so auf, sei nicht so wütend, hör doch den anderen erst mal zu. Dämpfe deine negativen Emotionen – so in dem Stil.

PH Wobei der historische Bezug im Zeitpunkt der Veröffentlichung liegt.

FREVERT Und im Ort, im Hintergrund, in den Zusammenhängen. Wir sind ja sehr international zusammengesetzt in unserem Forschungsbereich; hier arbeiten Wissenschaftler aus Großbritannien, Kanada, Indien, Italien, der Türkei … – da konnten wir zugleich auch erkunden, ob Muster übereinstimmen, wie weit sie durch Übersetzung und Adaption einer fremden Kultur angepasst wurden und woher neue Impulse kommen – wenn es beispielsweise heißt: Nein, Schamgefühle sind nichts, was in Kindern aufgebaut und gefördert werden sollte. Es ist wohl kein Zufall, dass Astrid Lindgren mit ihrer Figur der Pippi Langstrumpf 1945 gerade aus Schweden kam. Von dort aus gelang es ihr, einen unglaublichen Befreiungsschlag gegenüber all diesen Verklemmtheiten und Verzagtheiten im restlichen Europa zu führen.

PH Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 2012 berichtete der damalige DGPs-Präsident Peter Frensch, dass es erstmals gelungen sei, mehr als 10 000 Beiträge aus der Forschung zu veröffentlichen …

FREVERT Das schaffen wir Historiker nicht!

PH Wollten Sie es denn?

FREVERT Wir pflegen nun mal eine andere Auffassung von wissenschaftlicher Produktivität und auch von Zusammenarbeit. Vielleicht machen wir es uns da ein bisschen schwerer – dafür stellen die Produkte unserer Arbeit eher abgeschlossene, kompakt vermittelbare Einheiten dar. Nur schreibt ein Buch sich nicht in einem Jahr.

PH Slow science, um der Hektik des Wissenschaftsbetriebes so etwas wie Nachhaltigkeit entgegenzusetzen?

FREVERT Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von berühmt gewordenen Historikern nennen, deren erstes Buch, also die Dissertation, immer noch Gültigkeit besitzt. Meine psychologischen Kollegen haben da vielleicht einen anderen Ansatz: Alles, was älter ist als 15 Jahre, das kennt man nicht mehr.

PH Kritisieren Sie da die Haltung der Psychologen? Oder das Fach selbst?

FREVERT Wie käme ich dazu? Wir haben heute beim Mittagessen darüber gesprochen; solcher Austausch auf kurzem Weg gehört ja zu den Vorzügen eines Max-Planck-Instituts. Ich kann also hier meine Direktorenkollegen zitieren, die sagen: Psychologie ist eine geschichtsvergessene Disziplin. Psychologen kennen ihre eigene Geschichte nicht. Sie müssen es auch nicht, denn sie zählt nicht. Es zählt immer nur das Allerneueste, und das ist morgen schon passé.

PH Mal dahingestellt, ob die Psychologie die Quellen aus Literatur und Geschichte leichtfertig oder gar mit Absicht ignoriert, wie sehen Sie denn Ihre Position hier im Hause oder in der Bildungsforschung allgemein: Sind Sie das Korrektiv? Oder eine Herausforderung? Sind Sie der kulturhistorische Schnörkel für eine ansonsten eher fade Naturwissenschaft? Oder so etwas wie der weibliche Hecht im Karpfenteich?

FREVERT Nein, aber ich bin auch nicht der Karpfen im Hechtteich. Es ist wichtig, die wissenschaftliche Auseinandersetzung auf Augenhöhe zu führen. Das gelingt uns hier. Bevor ich ans Max-Planck-Institut kam, kannte ich keine Psychologen, tatsächlich nicht. Dafür habe ich mein eigenes Fach, die Geschichtswissenschaft, immer schon als eine historische Sozialwissenschaft aufgefasst. Ich habe Soziologie und Politik studiert; die Fragestellungen von dort sind auch meine in der Geschichte. Und noch ein paar andere dazu. Manches in den Sozialwissenschaften allerdings ist mir zu gegenwartsverhaftet, zu geschichtsfern und zu präsentistisch. Das gilt erst recht für die empirisch und jetzt auch sehr stark neurowissenschaftlich orientierte Psychologie – das ist schon eine eigene Welt. Da müssen Gräben überwunden werden.

PH Immerhin arbeitet die wissenschaftliche Psychologie doch konzentriert und sehr produktiv.

FREVERT Aber um welchen Preis? Den bezahlt jeder, der sich nur in einem einzigen Fach auskennt. Getreu nach Lichtenberg: Wer nur Chemie versteht, versteht auch diese nicht. Das Resultat ist eine Monokultur; von der Schule an wird man in eine Richtung gelenkt und verliert den Blick für Zusammenhänge. Oder historisch gesehen: für Wurzeln, Vorläufer, Ursachen. Ich rede hier nur von meiner eigenen Disziplin, ob Sie es auf andere übertragen wollen, stelle ich anheim. Aber man kann einfach nicht nur Geschichte studieren; ein zweites Fach ist notwendig, sei es Germanistik, eine Sprache, manche Leute studieren sogar Physik. Sich selbst interdisziplinär aufzustellen, in seinem eigenen Kopf – das finde ich für human development absolut zentral. Und man merkt es den Leuten an, ob sie das können oder nicht.

PH Was fehlt denen?

FREVERT Die Fähigkeit, sich auszutauschen. Die eigene Position zu reflektieren und zu relativieren. Sich selbst infrage zu stellen. Aber wenn Sie ein System haben, das auf möglichst raschen Output auf einer vorgegebenen Strecke abzielt, dann bleibt eben keine Zeit, mal vom Wege abzuschweifen und sich dort zu bilden.

PH Das klingt beinahe verbittert. Was folgt daraus für Sie?

FREVERT Eine durchaus spürbare Schwierigkeit, die Konzepte meiner Disziplin zu vermitteln, sie auch nur zur Diskussion zu stellen. Wir haben hier am Institut einen Beirat, und als ich herkam, war dieser Beirat hundertprozentig mit Psychologen besetzt. War ja auch ein psychologisches Institut. Als ich dann mein Forschungsprogramm vorstellte, merkte ich schon so etwas wie Skepsis auf vielen Gesichtern. Irgendjemand hat es dann auch in Worte gefasst: Das sei doch vollkommen abstrus, zu denken, dass Gefühle eine Geschichte hätten. Klar, der Ausdruck von Gefühlen könne sich vielleicht verändern, die Umstände, in denen man Gefühle äußert, der Anlass für Gefühlsäußerungen. Das Fühlen aber, das sei immer stabil. Und ich habe nur gefragt: Wie können Sie das denn wissen? Verraten Ihnen das die Blitze im MRT?

PH Vielleicht steckt ja auch eine Bedrohung in Ihren Konzepten. Was bleibt denn von einer empirischen Psychologie, die Sie „präsentistisch“ genannt haben, die ihre Befunde also weitgehend im Labor ermittelt, losgelöst von möglichst jedem auch historischen Kontext?

FREVERT Der Dialog darüber hat inzwischen begonnen. Wir stellen einander kritische Gegenfragen.

PH Die Psychologen den Historikern?

FREVERT Und umgekehrt. Vielleicht sogar häufiger in dieser Richtung.

PH Worum geht es?

FREVERT Eigentlich immer um Kontext, Kontext, Kontext. Ich glaube, wir sind schon verschrien deshalb. Menschen sind ja in erster Linie soziale Wesen und damit abhängig von anderen in ihrer Umgebung. Eine Kollegin zum Beispiel erforscht die emotionale Regulation im Verlauf des Lebens. Sie vergleicht Probanden unterschiedlichen Alters und stellt fest, dass ältere Menschen mit ihren negativen Affekten offenbar besser umgehen können als jüngere. Da kommen eine Menge Nachfragen über die Rolle der Kultur, der sozialen Schicht, der jeweiligen Institutionen und Räume, der Peergroups und des Zeitgeists. Solche Variablen sind maßgebend für die Regulation von Gefühlen. Sie können die Rolle des Alters ganz anders definieren. Eigentlich lassen unsere Einwände sich ganz einfach zusammenfassen: Macht euer Bild komplexer! Die Welt ist nicht so, wie ihr sie euch im Labor oder im Experiment hinbastelt. Aber komplex heißt natürlich auch unscharf, schmutzig, spekulativ. Man kann manche Beobachtungen nicht mehr sauber zuordnen. Nur: Was nützt mir alle Klarheit, wenn sie nicht der Lebenswirklichkeit und ihren Bedingtheiten entspricht?

PH Wie ist es dazu gekommen? Es gab mal eine Psychologie, die ein grundsätzlich anderes, facettenreicheres, humanistisches Menschenbild hatte und sehr viel mehr Rücksicht nahm auf die Komplexität der Welt.

FREVERT In meinen Augen ist es die Szientifizierung der Psychologie, die Selbstdefinition als empirische Naturwissenschaft. Das nimmt ihr viel von ihren Möglichkeiten.

PH Als Gewinn winken größere Klarheit, größere Tiefe, vielleicht größere Festigkeit der Resultate …

FREVERT Ich bin nicht aufgerufen, die Verluste gegen mögliche Gewinne aufzurechnen. Das müssten die Fachvertreter selbst tun. Was ich aber als Historikerin unter lauter Psychologen tun kann, ist die Kontextabhängigkeit menschlicher Regungen und Erregungen zu betonen und mit der Wandelbarkeit des Kontexts auch die Veränderung dessen ins Bewusstsein zu rufen, was wir mit human development meinen. Ob und für wen das ein Risiko ist, wird man sehen. Wahrscheinlich ist es ein Gewinn.

Ute Frevert studierte Geschichte, Sozial- und Politikwissenschaften in Münster, Bielefeld und London, sie war Professorin an der FU Berlin, in Konstanz und Bielefeld und hatte Gastprofessuren in Jerusalem, am Dartmouth College in New Hampshire, in Wien und Paris. Sie ist Mitglied der British Academy, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Für ihre wissenschaftliche Arbeit wurde sie 1998 mit dem Leibnizpreis ausgezeichnet.

Ihr wichtigstes Forschungsfeld ist die Geschichte der Emotionen in der Moderne. Sie schrieb Bücher und Aufsätze über Ehre und Scham, Mannesstolz und Empathie, das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, die Sprache des Politischen und die Entwicklung von Geschlechterdifferenzen. In Gefühlspolitik (Wallstein, 2012) analysiert sie die Instrumentalisierung von Emotion seit Friedrich dem Großen, in Vertrauensfragen (C. H. Beck 2013) den inflationären Gebrauch einer zutiefst zwischenmenschlichen Gefühlshaltung in Werbung und politischer Kommunikation.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2014: Die Sprache des Körpers