Früher oder später gelangen sie zu den Erwachsenen: die Fragen von Kindern und Jugendlichen rund um Sexualität. „Wieso küsst ihr euch?“ „Woran merke ich, dass ich komme?“ „Woher weiß ich, dass er mich wirklich liebt?“ Solcher Wissensdrang stellt selbst die moderne Sexualforschung in den Schatten, denn „Kinderfragen“ rufen eine Wahrheit auf: Sexualität ist rätselhaft, ein Leben lang. Deshalb können Erwachsene derlei Fragen auch zwangsläufig nur unzureichend beantworten, berühren diese doch letzten Endes die eigenen intimsten und zugleich fremdartigen Wünsche.
Dass sexualitätsbezogene Fragen von den Erziehenden auf eine zugewandte Art und Weise beantwortet werden sollten, dem würden heutzutage nur wenige widersprechen. Im Zeitalter einer umfassenden sexuellen Liberalisierung hat sich ein tiefgreifender Wandel vollzogen: vom Verbot gegenüber Sexualität hin zum Gebot, sie zu zeigen und zu besprechen.
Zwanghafte Vielfalt?
Die „alte Sexualaufklärung“ gilt der Sexualpädagogik mittlerweile als zu sachlich, zu normativ einengend. Als neues Paradigma erhebt das Konzept der sexuellen Bildung den Anspruch einer inklusiven, sexpositiven und alle Altersklassen betreffenden „Selbstformung“. So wichtig eine ermutigende Begleitung von Kindern und Jugendlichen im Hinblick auf die sexuelle Entwicklung sein mag, sie wird dann konterkariert, wenn eher unaufdringliche Gesprächsangebote rund um Sexualität einem aufgeregten und zwanghaften Näherbringen von Vielfalt weichen.
Das mag übertrieben klingen, in den aktuellen Jugendaufklärungsbüchern lässt es sich aber genau so finden: Tipps zu Techniken und Konstellationen beim Geschlechtsverkehr; Übungen, angelehnt an Sexualtherapien für Erwachsene zur Optimierung von Sex; Informationen zu einer unabschließbaren und in Einzelteilen wählbaren Reihe an sexuellen Identitäten; Regeln zur richtigen Anwendung von Konsens oder zum korrekten Umgang mit Transpersonen.
Bitte sexpositiv und wandelbar
Eine unbequeme Frage muss dabei erlaubt sein: Was hat das eigentlich mit der sozialen Wirklichkeit von Jugendlichen zu tun, wenn solche Teilaspekte wie Transition, BDSM, Dreierbeziehungen, sexuelle Funktionsstörungen oder Techniken zur Steigerung des Lusterlebens einen so großen Raum einnehmen?
Dem vormaligen störrisch-autoritären Drängen auf eine an die Heteronorm angepasste Sexualität ist das aufgeregte Werben für die Vielfalt gar nicht so unähnlich. Auch hier scheint die Antwort auf die sexuelle Frage schon gegeben: bitte vielfältig und sexpositiv und wandelbar. Für die Wirksamkeit solcher Imperative braucht es gar kein strenges Nein, sie funktionieren über das freundliche Ja. Beide Dynamiken verfehlen eklatant die Rätselhaftigkeit der Sexualität.
Marco Kammholz ist Erziehungswissenschaftler und Jugend- und Heimerzieher. Er arbeitet als freiberuflicher Sexualberater und Sexualpädagoge.