„Vertrau mir!“ Das sagt sich so leicht daher. Aber machen wir uns wirklich klar, was wir einem anderen Menschen mit dieser Aufforderung abverlangen? Es ist weder leicht noch angebracht, einer Person, die man nicht in- und auswendig kennt, blindes Vertrauen entgegenzubringen. Bevor wir jemandem vertrauen, sollten wir seine oder ihre Vertrauenswürdigkeit beurteilen. Doch wie macht man das? Und vielleicht noch wichtiger: Wie gewinnt und verdient man sich Vertrauen? Der Psychologe Henry Cloud nennt in seinem Buch Trust fünf Kriterien.
1 Verständnis
Vertrauen aufzubauen heißt nicht, jemanden von etwas zu überzeugen, was man selbst für richtig hält. Wenig vertrauenswürdig ist etwa ein Arzt, der einen geistesabwesend nach den Beschwerden fragt, dabei aber die ganze Zeit die Messwerte auf dem Monitor anstarrt und sich seine Diagnose längst zurechtgelegt hat. „Wer Antwort gibt, bevor er richtig gehört, dem wird dies als Narrheit und Schande angerechnet“, heißt es im Mischlej, dem Buch der Sprüche der hebräischen Bibel.
„Der Prozess des Vertrauens beginnt, indem man anderen zuhört und sie zu verstehen versucht – was sie wollen, was sie fühlen, was ihnen etwas bedeutet“, schreibt Cloud. Aufmerksam zuhören und der Patientin zeigen, dass man sie verstanden hat, indem man ihr das, was sie gesagt und ausgedrückt hat, in eigenen Worten spiegelt: Das ist das Prinzip, auf dem die von Carl Rogers begründete Gesprächspsychotherapie beruht. Dieses Spiegeln sollte aber etwas ganz anderes sein als bloße Mimikry. Es geht nicht darum, das Gesagte nachzuplappern wie ein Roboter, sondern darum, zu erkennen und zu erspüren, was die andere Person bewegt. Vertrauenswürdig sind Menschen, die eine Verbindung herstellen. Einem solchen Menschen öffnet man sich.
2 Uneigennützigkeit
Manchmal verstehen wir unser Gegenüber nur allzu gut – und missachten dessen Wünsche und Bedürfnisse dennoch zugunsten unserer eigenen Agenda. Zum Beispiel in der Partnerschaft: Nach den Erfahrungen des Paarforschers John Gottman ist eine Beziehung in der roten Gefahrenzone wechselseitigen Misstrauens, wenn die beiden „nicht mehr die Interessen des Partners und die eigenen Interessen im Auge haben, sondern die eigenen Interessen statt der Interessen des Partners“.
Die Folge sei ein emotionaler Treuebruch: „Der verbündete Mensch von einst hat sich in einen Widersacher verwandelt.“ Vertrauenswürdigkeit in der Partnerschaft, im Arbeitsleben, im Alltag bedeutet, nicht nur aus Pflichtgefühl, sondern aus Empathie die Belange der anderen Person ebenso zu berücksichtigen wie die eigenen. „Sie können jemandem vertrauen“, so Cloud, „wenn Sie spüren, dass dieser Person an Ihnen gelegen ist statt nur an ihr selbst.“ Vertrauenswürdige Menschen sind für mich da, manchmal sogar auf ihre eigenen Kosten.
3 Befähigung
In der Sozialpsychologie kennt man den „Halo-Effekt“: Einem Menschen, dem man eine günstige Eigenschaft zuschreibt – etwa Aufrichtigkeit oder ein sympathisches Wesen –, dem billigt man automatisch auch andere günstige Attribute zu, zum Beispiel Kompetenz. Und das kann sich dann leider als Kurzschluss erweisen, auch in Vertrauensangelegenheiten. Um jemandem vertrauen zu können, sollte dieser Mensch Verständnis und uneigennützigen Motive mitbringen – aber eben auch das, was man ihm anvertraut, beherrschen.
Die gute Absicht ist wichtig, aber sie führt nicht weiter, wenn es an den Fähigkeiten fehlt, sie umzusetzen. Gerade im engen Freundeskreis sollte man den Halo-Effekt einkalkulieren. Auch wenn sich eine alte Weggefährtin als kluge Ratgeberin in emotionalen Krisen erwiesen hat, könnte es wenig ratsam sein, sie mit einem geschäftlichen Auftrag zu betrauen, bei dem ganz andere Fertigkeiten gefragt sind. „Und“, so versichert Cloud, „es ist in Ordnung, dann nein zu sagen“.
4 Charakter
Können ist wichtig, um Vertrauen zu rechtfertigen. Doch ebenso bedeutsam sind die sogenannten soft skills. Darunter fallen altvertraute Charaktertugenden wie Ehrlichkeit, Integrität, Treue, Fleiß oder Gewissenhaftigkeit. Es wäre keine allzu gute Idee, vor dem Termin auf dem Standesamt einen lieben Menschen mit dem Bereitstellen und Chauffieren des Hochzeitswagens zu beauftragen, der die Angewohnheit hat, chronisch zu spät zu kommen. Besonders Persönlichkeitszüge, die man in der Psychologie unter dem etwas schillernden Oberbegriff „emotionale Intelligenz“ zusammengetragen hat, sind nach Clouds Erfahrung immens wichtig in allen Lebensbereichen, von Partnerschaft bis Beruf.
Zu diesen Fertigkeiten zählen das Gefühlsmanagement und die emotionale Belastbarkeit. Möchte man sich sorglos einem Chirurgen in die Hände begeben, der glänzend mit dem Skalpell umzugehen weiß, jedoch beim kleinsten Fehler seines OP-Teams einem Jähzornsausbruch anheimfällt? Bei der Frage, welche soft skills gefragt sind, kommt es wiederum auf die Aufgabe an, die man vertrauensvoll in fremde Hände legen will: Mal ist Enthusiasmus gefragt, mal eher Beharrlichkeit. Niemand ist rundum perfekt.
5 Nachweise
Der beste Prädiktor der Zukunft ist die Vergangenheit. Je häufiger jemand gezeigt hat, dass wir uns in dieser oder jener Hinsicht auf sie, auf ihn verlassen können, desto gerechtfertigter ist unser Vertrauen. Henry Cloud hat sich dafür eine Metapher ausgedacht: Wir alle führen bei den Menschen, mit denen wir zu tun haben, im Kopf beständig track records, Protokolle ihrer Vertrauenswürdigkeit. Auch mit meinem eigenen Verhalten und Auftreten generiere ich bei meinen Mitmenschen stetig Einträge in deren Vertrauensprotokoll von mir: Habe ich ihnen zugehört und aufrichtig zu helfen versucht oder sie abgewimmelt? War auf mich Verlass?
Sich zu vergegenwärtigen, dass die eigene Reputation auf diese Weise pausenlos auf dem Prüfstand steht, ist vielleicht ein gutes Mittel gegen mancherlei Anfälle von Narzissmus. Protokolle der Vertrauenswürdigkeit einer Person sind, so Clouds Erfahrung, allemal zuverlässiger als jedes noch so ehrlich vorgetragene und gemeinte Versprechen, es diesmal garantiert besser zu machen. Schlechte Lebensentscheidungen resultierten oft daraus, „dass Menschen glauben, jemandes Vertrauensprotokoll entschuldigen oder übersehen zu können“.
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Quelle
Henry Cloud: Trust. Knowing when to give it, when to withhold it, how to earn it, and how to fix it when it gets broken. Worthy 2023