Freundschaft ist so wichtig wie die Liebe

In der romantischen Liebe sind Liebeserklärungen und Rituale normal, in Freundschaften aber nicht. Warum ist das eigentlich so, fragt Robert Brian.

Drei Freundinnen beim Wandern in der Natur
Freundschaft oder Liebe - was ist wichtiger? Beide sind gleich wichtig, sagt Robert Brian. © Dougal Waters/Getty Images

Der Artikel „Freundschaft ist so wichtig wie die Liebe" von Robert Brian ist zuerst erschienen in Psychologie Heute 04/1978.

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In unserer nüchternen Komfortgesellschaft bleiben gefühlsbetonte Äußerungen gegenseitiger Liebe, zumal zwischen Angehörigen desselben Geschlechts, im allgemeinen auf einen gelegentlichen Händedruck, einen verstohlenen Valentinsgruß oder das alljährliche Weihnachtsgeschenk beschränkt. Selbst der formelle Kuß auf die Wange, mit dem der Italiener einen Freund begrüßt, gilt dem Angelsachsen als Verrat an der Männlichkeit.

Doch als Jonathan David „liebgewann wie sein eigen Herz", bestand eine seiner ersten Handlungen darin, daß er Rock und Mantel auszog, Schwert, Bogen und Gürtel ablegte und alles seinem Freund gab - und auf diese Weise nach orientalischer Auffassung durch die Hingabe seiner persönlichen Habe die Hingabe seiner Persönlichkeit symbolisierte. Und in seinem Klagelied über Jonathan und dessen Vater Saul bekannte David ohne Scheu, die Liebe seines Freundes sei ihm „sonderlicher gewesen, denn Frauenliebe ist“. Achilles nahm nach Patrokolos' Tod rußigen Staub vom Boden auf, schüttete ihn sich über das Haupt und „entstellte sein liebliches Antlitz“.

Selbst in Europa brachten in der Vergangenheit zwei Männer, die einander liebten, ihre Gefühle ungehemmter zum Ausdruck als heute. Sie gelobten sich ewige Freundschaft und tauschten sogar ihr Blut im geheiligten Bezirk einer Kirche und unter Mitwirkung eines Priesters. Warum haben wir uns angewöhnt, Ritual, leidenschaftliche Erklärung und unverhohlene Trauer auf die eheliche Verbindung zweier Menschen und die romantische Liebe zu beschränken? Warum sind der Freundschaft in unserer Kultur emotionaler Ausdruck und zeremonielle Form abhanden gekommen?

Warum haben wir diesen Artikel ausgewählt?

Online-Redakteurin Anna-Sophie Reier über den Artikel „Freundschaft ist so wichtig wie die Liebe":

Das Thema Freundschaft hat in meiner Generation (Jahrgang 1989) einen viel größeren Stellenwert als Robert Brian es 1978 beschreibt. Trotzdem hat eine neue Beziehung auch heute oft Einfluss auf unsere Freunde.

Verliebt zu sein löst ein regelrechtes Hormon-Wirrwarr in unserem Gehirn aus. Dopamin ist unter anderem verantwortlich für die anfänglich häufige Schlaf- oder Appetitlosigkeit. Wenn frisch Verliebte sich nicht voneinander trennen können und nur zwischen Himmel-hoch-jauchzend und zu-Tode-betrübt pendeln, dann ist das auf einen schwankenden Serotoninhaushalt zurückzuführen. Plötzlich sind die Verliebten ausschließlich auf eine einzige Person fixiert, alle Gedanken kreisen nur noch um sie. Für das soziale Umfeld ist das oft ein verwunderliches und schmerzliches Erlebnis.

Den Artikel habe ich ausgewählt, weil mein Appell lautet: Vergessen Sie Ihre Freunde nicht - sie waren schon „vorher" da und sind auch noch dann da, wenn die erste Verliebtheit abgeklungen ist oder die Beziehung nicht halten sollte.

Und wenn wir Hochzeiten heutzutage immer großer und prächtiger feiern, wäre es da nicht auch an der Zeit unseren Freunden öfter mal zu zeigen, was wir für sie empfinden? Eine längjährige Freundin sagt seit Jahren zum Abschied „Ich hab dich lieb“. Das kam mir manches Mal komisch vor, bis ich sie mal gefragt habe, warum sie diese Floskel so regelmäßig nutzt. Ihre Antwort: „Ich habe in meinem Leben schmerzhaft gelernt, dass man nie weiß, wann man jemanden das letzte Mal sieht. Und ich will, dass die Menschen, die ich liebe, wissen, dass sie mir wichtig sind!“

In Mali bewerfen sich gute Freunde gegenseitig mit Kot und tauschen lauthals Bemerkungen über die Geschlechtsorgane ihrer Eltern aus. Dieses für unsere Begriffe unnatürliche und obszöne Verhalten gilt dort als Beweis der Freundesliebe. In vielen anderen Teilen Afrikas sind Zwillinge die besten Freunde und gute Freunde werden Zwillinge. Wenn sich in Tansania ein Mann mit einer Frau trifft, die seine Freundin ist, dann beschimpft er sie vielleicht, wirft sie zu Boden und schlägt auf sie ein wie auf einen Punchingball. Wenn auf Neuguinea ein Mann einen neuen Geschäftspartner gewinnt, gehört es zum Handel, daß er „sich in ihn verliebt".

Ebenfalls auf Neuguinea heiraten die Männer eines bestimmten Stammes, nicht um eine Frau zu haben, sondern um deren Brüder als „beste Freunde" zu bekommen. Im südlichen Ghana gibt es Heiraten zwischen Freunden, die sich lieben, wobei der „Ehemann" den Eltern seines Freundes wie beim Brautkauf einen bestimmten Preis bezahlt. In Lateinamerika kann ein Freundschaftsbund zwischen zwei Männern dadurch bekräftigt werden, daß der Ritus der christlichen Taufe an einem Baum vollzogen wird, wodurch beide Männer zu Paten des getauften Baumes werden. Auf den Andamanen ist es üblich, daß einer bestimmten Leuten sein Leben lang geflissentlich aus dem Weg geht, „weil sie seine Freunde sind".

Was jedoch auf den ersten Blick als bloßer Katalog kurioser Sitten und Gebräuche erscheint, dient in Wahrheit zur Illustration einer Reihe von Erscheinungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die miteinander die universelle Institution der Freundschaft ausmachen. Wenn wir diese Sitten, die uns zunächst sonderbar oder makaber erscheinen, in ihren Zusammenhang stellen und erklären, hören sie auf, sonderbar zu sein, und geben uns vielleicht sogar Anlaß, unsere eigenen zu überdenken.

Die erste Aufgabe - Erklärung der Funktion eines merkwürdigen Brauches - bietet keine Schwierigkeiten. In der Gleichsetzung von Zwillingen und Freunden in Afrika kommt beispielsweise die Einheit, ja Androgynie von Zwillingen zum Ausdruck - Augustinus nannte seinen Freund „du Hälfte meiner Seele". Thomas von Aquin sagte, ein Freund sei der alter ego - „Freundschaft erwächst aus der Erkenntnis der Einheit des Geliebten mit dem Liebenden".

Wenn man seinen Freund „heiratet", wie es manche Ghanaer tun, sakralisiert man damit eine tiefempfundene Verbindung; die Trauungszeremonie vereinigt die beiden Partner, „bis daß der Tod sie scheide". Dadurch, daß Geschäftspartner sich ineinander „verlieben", wird die gegenseitige Beziehung zweier Männer, die miteinander Geschäfte machen, gestärkt und das wichtige Element der Gegenseitigkeit in der Freundschaft betont.

Indem der Melanesier die Schwester seines besten Freundes heiratet, unterstreicht er die Bedeutung der Frau als einer Form kultureller Kommunikation zwischen Männern. Rüpelhafte Späße oder absolutes gegenseitiges Aus-dem-Weg-Gehen zwischen „Freunden" sind zwei Arten, ein und dasselbe zum Ausdruck zu bringen - das Element der Belastung und Brüchigkeit in jeglicher Freundschaft; beide Arten des Umgangs miteinander lassen die Möglichkeit offen, daß Liebe ohne Scham bestehenbleiben kann, und weisen außerdem auf ein latentes Aggressionsgefühl hin, wie es häufig auch in den Beziehungen zwischen Liebenden vorhanden ist.

Ich werde nicht nur danach fragen, warum Angehörige exotischer Kulturen exotische Dinge tun, sondern vor allem immer wieder danach, warum es bei uns diese Verhaltensweisen nicht gibt. Wir halten keine kindischen Taufzeremonien für Bäume ab und trinken nicht das Blut unseres Partners, um unsere gegenseitige Verpflichtung und Treue feierlich zu bekräftigen.

Wir „heiraten" unsere Freunde nicht. Aber wenn wir nicht die Schwester unseres Freundes heiraten, um unseren Schwager stets um uns zu haben, ihn nicht „Zwillingsbruder" rufen, uns nicht in eine Seitengasse verdrücken, wenn wir ihn auf uns zukommen sehen, und auf seiner Totenfeier nicht das ganze Bier umschütten - woran liegt es, daß wir es nicht tun? Wir bewerfen unsere Freunde nicht mit Kot, wenn wir uns mit ihnen im Theater treffen, und zelebrieren auch kein ruppiges Box-Ritual. Man denke aber immerhin an das keineswegs zimperliche Schulterklopfen, die gutmütigen Beschimpfungen und das Erzählen dreckiger Witze, die für manche engen Freundschaften typisch sind.

Der „heiligste" Bund

Freundschaft erhält die Welt, überall - nicht etwa Liebe im romantischen sexuellen Sinn. „Der heiligste Bund der menschlichen Gesellschaft ist die Freundschaft, schrieb Mary Wollstonecraft, englische Schriftstellerin und „Ahnherrin" der feministischen Bewegung, im vergangenen Jahrhundert. Sie verglich dabei die vergängliche Natur sexueller Leidenschaft mit den dauerhafteren Freuden, die Sympathie und Zuneigung unter Menschen schaffen.

Ähnliche Gedanken sind seit der Antike immer wieder ausgesprochen worden. Doch die Sozialwissenschaften unseres Jahrhunderts haben wenig Interesse daran gezeigt, die Strukturen von Freundschaft genauer zu untersuchen.

Daß eine solche Untersuchung nottut, ist unter Anthropologen seit langem unumstritten, aber überwiegend haben sich Liebe und Freundschaft doch als zu schwer faßbares Thema für vergleichende Untersuchungen erwiesen.

In Lehrbüchern wird das Fehlen einer eingehenden Behandlung von „Bindung" und „Freundschaft" als Elementen der sozialen Organisation beklagt, aber die meisten Anthropologen begnügen sich mit einem rituellen Bekenntnis über die Bedeutung emotionaler Bindungen außerhalb strukturierter Verwandtschaftsgruppen und verzichten darauf, sie im einzelnen zu behandeln - höchstwahrscheinlich wegen der heiklen und schwer definierbaren Natur solcher Beziehungen. Totemismus, Zauberei und Heirat zwischen Kreuzvettern sind nun einmal viel handfestere Themen.

„Gefühl" das wichtigste Element in freundschaftlichen Beziehungen (das Jargon-Wort der Soziologen dafür lautet „Affekt"), ist deshalb in anthropologischen Monographien ein mehr oder weniger tabuisiertes Thema. In jüngster Zeit ist eine Umorientierung auf eine stärkere Betonung psychologischer Variablen zu verzeichnen, und ich habe in meinem Buch Freunde und Liebende - Zwischenmenschliche Beziehungen im Kulturvergleich versucht, persönliche Beziehungen, die sich auf Liebe und Freundschaft gründen, gleichzeitig vom psychologischen, strukturellen und funktionalen Standpunkt aus zu untersuchen.

Obwohl Freundschaft per definitionem Gefühl einschließt, ist damit nicht gesagt, daß die Beziehung nicht institutionalisiert und sogar obligatorisch sein könnte. Freundschaft ist nicht nur eine auf liebevoller Zuneigung beruhende Beziehung zwischen zwei Männern, zwei Frauen oder einem Mann und einer Frau, in der jeder seinen Partner aufgrund einer Kombination von moralischen Merkmalen, körperlicher Anziehungskraft und Eigennutz wählt.

Sie kann auch eine formale Bindung zwischen zwei Menschen sein, die bestimmte Nischen in einer sozialen Struktur einnehmen und zu deren Pflichten gegeneinander auch gegenseitige Verpflichtungen gehören, die auf gesetzlichen und übernatürlichen Sanktionen beruhen. Die nach unserer Auffassung grundlegenden Merkmale einer auf liebevoller Zuneigung beruhenden Freundschaft - Loyalität, Vertrauen, emotionale Befriedigung, psychologische Anerkennung und Wertschätzung der Identität des anderen, Gleichberechtigung, Ergänzung, Gegenseitigkeit - sind nicht von der Rolle zu trennen, die formale Bindungen in der breiteren Gesellschaft spielen.

Christentum als „Bremse"

Unsere auf christlichen und demokratischen Prinzipien basierende Form der Gesellschaft bremst fast von ihrem Selbstverständnis her den Aufbau enger freundschaftlicher Beziehungen zwischen zwei Menschen. Alle Menschen sind Brüder (Freunde). Die christliche Lehre mit ihrer Betonung der weltweiten Brüderlichkeit der Menschen achtet geradezu eifersüchtig darauf, daß eine intensive Beziehung zu einem anderen Menschen den Christen nicht davon abhält, Gott all seine Liebe zu schenken. Hinzukommt: Von einem guten Demokraten wird erwartet, daß er auf sich selbst gestellt agiert. So kommt man besser voran, glauben die Individualisten.

Der Kult, den wir mit dem „freien Individuum" treiben, legt Menschen, die sich von ihren Mitmenschen, ja sogar von Freunden und Familienmitgliedern, zurückziehen wollen, nichts in den Weg.

Freundschaft bedeutet bei uns häufig aber auch, Angst vor persönlicher Isolation abzuwehren in einer Gesellschaft, die von Wettbewerb und Eigennutz bestimmt ist. Doch obwohl viele unserer Probleme aus der Einsamkeit in dieser Gesellschaft stammen, ziehen wir es in schwierigen Lebenssituationen vor, uns in den Beichtstuhl oder auf die Couch des Psychiaters zu begeben statt uns einem guten Freund anzuvertrauen. Wir haben uns eingeredet, daß Alleinsein „gut für uns" ist und daß jeder Mensch für seinen Seelenfrieden die Privatsphäre braucht.

In verschiedenen Völkern im Mittelmeerraum und in Afrika, wo ich zeitweise gelebt habe, ist es schwierig, überhaupt allein zu sein. Hier wird das Alleinsein mit Verlassenheit und Einsamkeit im negativen Sinne gleichgesetzt.

Erwartungen und Verpflichtungen der Freundschaft

Während es zu unseren festen Überzeugungen gehört, daß Freundschaft keiner Gesetze, keiner Zeremonie und keiner materiellen Erwartung bedarf, wird es in den meisten übrigen Gesellschaften nicht geduldet, daß sich die Liebe unter Freunden einzig und allein auf vage Gefühlsbindungen gründet. Hier weiß man, daß erhabene Gefühle allein wenig geeignet sind, zwei Menschen auf Dauer zu verbinden. Freundschaft ist in diesen Völkern sowohl mit Erwartungen als auch mit Verpflichtungen verknüpft - mit romantischen wie mit ganz prosaischen - ähnlich wie bei uns in der Ehe. Freundschaft hat dort immer eine Doppelfunktion: Sie hat einen gesellschaftlichen Bezug, zielt häufig auch auf materiellen Gewinn, und sie ist zur gleichen Zeit selbstlos, dient dem seelischen Wohlbefinden der Freunde.

Wieso verlangen wir, daß bei uns die Liebe zwischen Freunden auf eigenen Beinen stehen soll, wo doch romantisch Verliebte, die sich ebenfalls von ganzem Herzen lieben, bis daß der Tod sie scheide, ihre Leidenschaft mit einer Trauungszeremonie, Schwüren und juristischen Verträgen umhegen? In der Tatsache, daß unsere Gesellschaft der Freundschaft formale Bindungen versagt, muß man wohl eher eine Unterbewertung als eine Überbewertung der Liebe sehen.

Selbst David und Jonathan schlossen einen Pakt. Im Mittelalter schlossen Freunde Blutsbrüderschaft oder gingen eine formelle, auf cortesia gegründete Freundschaft ein wie Roland und Olivier. Die „Gevatterschaft", die Beziehung zwischen den Eltern eines getauften Kindes und den Paten, war ebensosehr eine rituelle Bestätigung der Freundschaft der Erwachsenen wie eine spirituelle Beziehung zwischen den Taufpaten und dem Kind.

In allen Gesellschaften außer unserer eigenen trägt zeremonielles Beiwerk zur Vertiefung der Freundschaft bei, wird also nicht als Hinweis auf deren Schwäche verstanden; die Freundschaft gilt als ein zu kostbares Gut, als daß man ihr den Schutz durch Zeremonie oder Vertrag versagen dürfte. Freundschaft in unserer Gesellschaft, nachdem sie vom Christentum zu einer Art brüderlichem „Agapismus" verwässert wurde, gibt uns nicht das Recht, uns über andere Menschen lustig zu machen, weil diese ihre Schwager oder Geschäftspartner lieben und diese Liebe kundtun, indem sie einer des anderen Blut trinken oder eine Art Trauungszeremonie abhalten.

Festlichkeiten, Zeremonien im Leben des einzelnen drücken Statusänderungen aus. In einigen Kulturen sind die Rituale um die Geburt eines Menschen aufwendig, in anderen jene bei der Pubertät, in wieder anderen jene beim Tod eines Menschen. Wir halten es irgendwie für wichtig, daß eine Eheschließung auch äußerlich Ausdruck findet: durch die Trauungszeremonie, das Hochzeitsfest, die Zusammenkunft von Freunden. In anderen Kulturen aber, in denen der Eheschließung und der Kern-Familie dieselbe Bedeutung beigemessen wird wie bei uns, gibt es überhaupt keine feierliche Ausgestaltung dieses Ereignisses.

Freundschaft als Ausgleich

In vielen ländlichen Gemeinschaften Lateinamerikas oder Südeuropas haben Freundschaften (camaraderia) die Funktion, die in den USA der Ehe oder der Familie zufällt: den Männern emotionale Befriedigung und einen Ausgleich für die Last des Tages zu geben. Im spanisch sprechenden Amerika teilen die Männer ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte mit ihren besten Freunden.

„Camaradería" ist eine ernste Sache und sie wird mit eifersüchtiger Leidenschaft betrieben. Es ist eine Beziehung, die sowohl institutionalisiert wie ritualisiert ist. Wenn in Guatemala eine intensive Freundschaft zwischen zwei Männern im Streit zu Ende geht, dann trennen sich die zwei ganz offiziell und machen es öffentlich bekannt, als ob sie Partner eines rechtswirksamen Kontrakts wie Ehe oder Verlobung waren. Die Institution der Co-Patenschaft (compadrazgo) hat in vielen Gegenden Zentral- und Südamerikas, in Griechenland, auf dem Balkan, im südlichen Italien und in Spanien überlebt.

„Compadrazgo" bezeichnet die besondere Beziehung, die Eltern und Paten eines christlich getauften Kindes - römisch-katholisch oder griechisch-orthodox - haben. Durch die gemeinsame Teilnahme an der Zeremonie der Taufe des Kindes nehmen Eltern und Paten eine ritualisierte Beziehung zueinander auf. In Spanien legt dies den Betreffenden stärkere Verpflichtungen füreinander auf als Blutsverwandtschaft oder normale Freundschaft. Das rituelle Moment der gemeinsamen Teilnahme am Akt der Taufe bewirkt dies.

Totale Gegenseitigkeit

Ich habe eine Weile bei den Bangwas, einem Stamm hoch in den Bergen von Kamerun in Westafrika, gelebt. Die Freundschaft zwischen zwei Menschen, die weder blutsverwandt noch sexuell miteinander verbunden sind, gilt bei den Bangwas sehr viel. Einen guten Freund zu haben ist dort so wichtig wie ein Ehepartner oder ein Geschwister, vielleicht sogar noch bedeutender. Zuerst war ich etwas unangenehm berührt davon, mit welcher Intensität und Deutlichkeit freundschaftliche Gefühle dort gezeigt werden. Mein angelsächsisches Erbe (Distanz, Herunterspielen von Gefühlen) dominierte. Aber ich hatte keine andere Wahl, als mich anzupassen. Schritt für Schritt lernte auch ich es, „Freund zu sein", indem ich meine Gefühle für einen anderen Menschen verbalisierte, Geschenke gab und meine Freunde auf ihren Unternehmungen begleitete.

Gute Freunde werden auch bei den Bangwas „Zwillinge" genannt. Dadurch soll die Einigkeit der beiden in der Verbindung herausgestrichen werden. Alle Bangwa-Kinder haben einen „guten Freund“. Wenn die Eltern einem Jungen oder Mädchen keinen solchen Freund zuteilen oder er nicht von den Eltern eines anderen Jungen oder Mädchen ausgewählt wird, dann sucht sich das Kind einen Freund unter den gleichaltrigen Kindern.

Enge Freunde tauschen ihre Geheimnisse aus, diskutieren ihre geheimen Pläne, gehen gemeinsam auf die Jagd und planen ihre amourösen Abenteuer zusammen. Die ideale Freundschaft besteht in den Augen der Bangwas aus totaler Gegenseitigkeit, und es sind weniger übernatürliche oder rechtliche, sondern sittliche Kategorien, die ihre Freundschaft sanktionieren. Er ist mein Freund, „weil er so schön ist" oder „weil er so von Herzen gut ist".

Zwischen Freunden gibt es viele zeremonielle Artigkeiten - im Wesen aber wird Freundschaft als uneigennützige Zuneigung angesehen. Freunde verbringen viel Zeit miteinander, sie halten Händchen, gehen gemeinsam auf den Markt. Besonders den älteren Männern bedeutet eine Freundschaft sehr viel. Die bitterste Klage, die ich einmal von einem Bangwa-Mann hörte, war, daß er alle seine Altersgenossen überlebt und er nun „keinen Freund" mehr habe, mit dem er plaudern könne.

Loyalität und Liebe bis in den Tod

Wenn in unserer Gesellschaft ein Freund von uns stirbt, sollten wir zu seiner Beerdigung gehen, aber wir sind nicht dazu verpflichtet. Wenn in Westafrika ein Mann stirbt, muß sein bester Freund sich in alte Lumpen kleiden, sich unverzüglich in die gesetzte Atmosphäre der Totenfeier begeben, die weinenden Trauernden verspotten und die Krüge mit rituellem Bier umstürzen, die für die Gäste bereitgestellt wurden.

Freundschaften gelten als so wichtig für den einzelnen und die Gesellschaft, daß alles zu ihrer Erhaltung getan wird. Sie brauchen - wie erwähnt – nicht auf persönlicher Wahl und anfänglicher Sympathie zu beruhen, sondern können wie eine Hindu-Ehe von den Eltern arrangiert werden. Aber sind diese so verschiedenartigen Beziehungen wirklich vergleichbar?

Ist die Liebe von David und Jonathan mit der von zwei Männern zu vergleichen, die lebenslang Freunde sind, weil sie am selben Tag auf die Welt kamen und von ihren Eltern in Freundschaft verbunden wurden?

Hervorzuheben ist, daß ungeachtet des Ursprungs der jeweiligen Freundschaft und zeremonieller Äußerlichkeiten jede Kultur die Loyalität und Liebe zwischen Freunden als grundlegendes Merkmal betont. Die Tatsache, daß wir Wert auf Zuneigung und Vertrauen legen (jedoch auf einen formellen Austausch und andere rituelle Besonderheiten verzichten), bedeutet keineswegs, daß Blutsbrüder und Verbündete dies nicht täten. Zuneigung und Loyalität sind in allen Gesellschaften Bestandteile einer Freundschaft.

Frühe Beobachter primitiver Gesellschaften waren gegenteiliger Meinung und wollten ihren Freunden und Verwandten zu Hause einreden, daß den Eingeborenen die Gnade der altruistischen Liebe noch nicht zuteil geworden sei. Nach der im vorigen Jahrhundert herrschenden Auffassung sah der Primitive Liebe als Sex und Freundschaft als Gier; er reagierte nur auf Tabus und Angst vor Zauberei, er achtete seine Blutsverwandten und schändete seine Frau. Diese Auffassung hat sich in unserem Jahrhundert gewandelt, und Forschung hat zu der Erkenntnis geführt, daß in jeder Kultur die unbedingte Loyalität und die selbstlose Liebe von Freunden hochgeschätzt werden.

Doch - wie gesagt - Loyalität und Liebe stehen nicht allein für sich. Sie werden durch Zeremonie und Ritual bekräftigt. Bei den Bangwa beispielsweise lehnte sich niemand gegen die elterliche Vorsorge, einen Freund für das Kind zu bestimmen, auf. Erst die Kolonisten und Missionare setzten den Eingeborenen die Ideen von der freien Partnerwahl und dem Marktwert der Arbeitskraft in den Kopf und rühmten die zweifelhaften Segnungen der romantischen Liebe in unserem Sinn.

Freie Partnerwahl

Ich glaube, daß bei uns die Bedeutung der freien Wahl im Zustandekommen vieler unserer Beziehungen überschätzt wird. Von Dritten abgesprochene Ehen sind uns ein Greuel: Liebe, die uns erwischt wie ein Blitz aus heiterem Himmel - daran glauben wir. Man hat uns gelehrt, daß Individualismus und freie Wahl die Perlen unserer Zivilisation sind. Wäre es nicht an der Zeit, das einmal ernsthaft zu hinterfragen?

Viele Menschen haben enorme Schwierigkeiten, den richtigen Partner oder Freund in der glorreichen Isolation des modernen Lebens zu finden. Einigen gelingt es nie. Doch auch bei uns scheint der Gedanke etwas Tröstliches zu haben, daß es so etwas wie eine vorstrukturierte Existenz von Freundschaft gibt, in die eine unbekannte Hand zwei Menschen stellt. Warum existieren denn heute so viele Heirats- und Partnerschafts-Institute?

Warum verlassen sich Menschen auf Zeitungsanzeigen oder auf die Astrologie? Sind diese Dinge nicht Indikatoren für obigen Wunsch? Freundschaften, die von Dritten gestiftet werden, unterstreichen zumindest, daß das bedeutende Element einer Freundschaft nicht das Objekt der Zuneigung, sondern die Zuneigung selber ist.

Erich Fromm hat vor mehr als 20 Jahren schon gesagt, daß es möglich ist, Liebe und Zuneigung ausschließlich als Willensakte, Prozesse willentlicher Bindung an einen anderen Menschen zu sehen und daß es im Grunde ohne großen Belang ist, wer die Partner dabei sind. In Fällen ,,arrangierter Freundschaft" - das haben Beobachtungen gezeigt - wachsen wie bei „arrangierten Ehen" Loyalität und Zuneigung in dem Maß wie die Beziehung sich entwickelt.

Mir scheint es, daß es nicht genügt, daß wir Freundschaft mit anderen Menschen in der gemeinsamen Verehrung des christlichen Gottes, in der politischen Genossenschaft des demokratischen Sozialismus oder auf der Basis eines gemeinsamen Hobby schließen. Es liegt zu wenig darin, Freund eines Anglers zu sein, weil man selbst gern fischen geht, Freundin einer Feministin zu sein, weil man selbst engagierte Frauenrechtlerin ist, Freund eines Mannes mit nur einem Bein zu sein, weil man selbst ein Bein verloren hat. Wirkliche Freundschaft ist eine intensive Beziehung zwischen zwei Individuen, die sich ergänzen und sich auf eine andere Weise gegenseitig seelisch stützen als es eine Gruppe mit ihren sicheren Gefühlsabläufen kann.

Gefährliche Zweierbindung

Die Verwässerung, die der Vorgang der Freundschaft bei uns heute erfahren hat, geschieht auch in anderem Zusammenhang. Menschen ist es genug, ihre besten Freunde in Mitgliedern ihrer Familie zu finden. In den USA und weiten Teilen Europas unterscheiden sich - anders als in Afrika - die Gefühle, die einigen Verwandten entgegengebracht werden, häufig nur wenig von der Art der Gefühle gegenüber Freunden. In den USA kann die Mutter die beste Freundin sein, oder der Ehe-mann/die Ehefrau, oder gar der Hund. Afrikaner würden keinen Sinn darin sehen, den Ehepartner oder einen Verwandten zum besten Freund zu wählen, da diesen eine völlig andere Rolle zukommt.

Schauen wir uns einmal die Ehe westlicher Prägung an und die Erwartungen, die wir in sie setzen. Die Form unserer Ehe, bauend auf romantische Zuneigung der Partner füreinander, ist als die größte Errungenschaft der westlichen Zivilisation gepriesen worden, da sie romantische Leidenschaft, liebende Freundschaft, Sexualität und zeremonielle Bindung von Mann und Frau miteinander verbindet. Die Liebe zwischen zwei Ehepartnern in unserer Gesellschaft ist in der Tat eine bemerkenswerte Fusion von Sexualität, Häuslichkeit Kameradschaft. Sie ist auch sich selbst genug: Zumindest in der Theorie benötigt keiner der Partner irgendwelche emotionale Befriedigung außerhalb des warmen Nestes der Familie.

Eine solche Konzeption ist aber auch gefährlich. In keiner anderen Kultur wird, so weit mir bekannt ist, der Versuch gemacht, die emotionalen Bedürfnisse zweier Menschen innerhalb eines so eng abgesteckten Rahmens zu befriedigen. In Afrika suchen die Menschen ausdrucksvolle, empfindsame Beziehungen zu allen möglichen Menschen: Liebhabern, Freunden, Ehe-Großeltern. Der Bangwa-Mann, der jede Woche einmal mit seinem Freund zum Tanz geht, liebt diesen Menschen wie seine Frau, nur auf eine andere Art. Die Bangwa-Frau, die sich einmal pro Woche mit ihrer Freundin zum Töpfern trifft, liebt diese wie ihren Mann, nur ebenfalls auf eine andere Art.

Dasselbe gilt für Liebesbeziehungen zu Vertretern des anderen Geschlechts. Wieviel Ehepartner in unserer Gesellschaft gestatten einander starke persönliche Freundschaften außerhalb der Ehe? Diese extreme Form von Zusammensein, die unsere Gesellschaft in der Institution unserer Ehe absegnet, kann nur dazu führen, daß die Persönlichkeiten beider Partner leiden und sie schließlich im Alleinsein stranden.

Sex als Hindernis

Ein wichtiger Grund dafür, daß die Beziehung der Eheleute zueinander nicht mit Freundschaft verwechselt werden sollte, liegt, so glaube ich, darin, daß sexuelle Gefühle nie die wichtigsten Bande einer Freundschaft sind und sogar ein Hindernis für eine tiefe Freundschaft sein können. Trotz aller Errungenschaften unserer freien und freizügigen Gesellschaft kann das Ausleben von Sexualität alleine Einsamkeit nicht verhindern und auch nicht jene emotionalen Bindungen schaffen, die wahre Freundschaft bringt. Sex ist ein rasch abklingendes Betäubungsmittel gegen Einsamkeit.

Freundschaften zwischen Männern oder zwischen Frauen können homoerotische Unterströmungen haben, es wäre aber falsch, anzunehmen, daß alle freundschaftlichen Gefühle von unbewußten sexuellen Trieben herrühren. Unsere Zeit hat Freundschaften aus unserer geschichtlichen oder mythischen Vergangenheit mit Homosexualität in Verbindung gebracht. Im alten Israel waren Freundschaften zwischen Kriegern und Jünglingen, die häufig in der blumenreichsten Sprache beschrieben wurden, die Regel. Und auch wenn Freundschaft zwischen zwei Männern ein gewisses Maß an körperlichem Ausdruck erfährt oder erfuhr, so nimmt dies doch nichts von der normalen Ergebenheit, die zwei Freunde füreinander empfinden. Hrothgar umarmt Beowulf, Achill weint in seinem Zelt um seinen Freund, Dr. Johnson küßt Boswell, die römischen Soldaten im „Tacitus" fallen sich um den Hals, arabische Männer halten sich an den Händen.

Daß wir in diesen üblichen sichtbaren Demonstrationen von Freundschaft Homosexualität sehen, kann nur auf dem Hintergrund unserer heutigen Reserviertheit gegen körperlichen Kontakt verstanden werden. Es ist noch nicht lange her, daß den Frauen in unserer Gesellschaft überhaupt Mut macht wurde, Weiblichkeit und der Weiblichkeit anderer Frauen zu erfreuen und sie nicht nur auf den Mann bezogen zu betrachten.

Die Ethnographie hat den Frauen kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Es gibt keine vergleichbaren Schilderungen von tiefen Freundschaften zwischen Frauen wie sie uns von Achill und Patroclus, Roland und Olivier berichtet werden. Sappho und ihre Freundinnen wurden zurückgestuft in den dunklen Bereich lesbischer Liebe - und das alles aufgrund einiger weniger Verse.

Und was die Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau angeht, so stirbt glücklicherweise langsam das Märchen aus, daß platonische Liebe nur zwischen einem homosexuellen Mann und einer liebenden Frau oder einer Frau und einem impotenten Mann möglich ist.

Sogar als Fremder beim Bangwa-Stamm konnte ich Freundschaft zu einer Reihe von Frauen aufbauen. Eine meiner besten Freundin war die Schwester des Häuptlings, die großes Interesse meiner Person und meiner Arbeit hatte. Sie erklärte, sie mein Freund, schickte mir Geschenke und half mir zwei Sprachen zu lernen: Bangwa und Pidgin-Englisch. Wir haben viele Stunden trinkend und diskutierend miteinander verbracht. Auch andere Frauen betrachteten mich als ihren Freund. Sie brachten mir Geschenke, bereiteten mir einfache Medizinen zu und zeigten mir, wie man ihre Handarbeiten macht. Sex spielte keine Rolle in diesen Beziehungen, und das erwies sich auch nicht als Hindernis für das Wachsen von Kameradschaftsgefühlen.

Die Bangwas haben auch ihre Liebesbeziehungen; sie geschehen heimlich, sind leidenschaftlich und von kurzer Dauer. Freundschaft zwischen Mann und Frau aber dauert bei den Bangwas ein Leben lang und unterscheidet sich kaum von der Freundschaft zwischen zwei Männern. Sex wird, in der Tat, bei den Bangwas als abträglich für eine bleibende Freundschaft angesehen. Eine sexuelle Beziehung zwischen zwei Freunden ist für sie ebenso unmöglich wie sexueller Kontakt zwischen Geschwistern.

Es scheint, als treibe man die Sache auf die Spitze, wenn man echte Freundschaft in einer Ehe und Sexualität in einer echten Freundschaft für unmöglich hält. Ich vertrete diesen Standpunkt, denn ich meine, Freundschaft muß als ein soziales Bedürfnis des Menschen mit einem völlig eigenen Wert verstanden werden.

Zur Liebe programmiert?

Nach Meinung einiger Wissenschaftler kommen wir sogar zur Freundschaft und Liebe programmiert auf die Welt. Wir sind gewiß nicht darauf vorprogrammiert, Ehemann, Ehefrau oder Mitglied einer Familie zu werden. Der Wunsch nach Liebe, Intimität und Zusammensein ist beim Menschen möglicherweise instinkthaft angelegt: Denn die erste impulsive Reaktion des Babys ist nicht die geballte Faust, sondern ein Lächeln.

Kleine Kinder trachten nach persönlichen Bindungen zu bestimmten anderen Menschen, und ihr Bedürfnis nach Liebe, das in den meisten Fällen mit der starken Mutter-Kind-Bindung beginnt, verlagert sich im Laufe des Lebens auf andere Individuen. In unserer Gesellschaft löst die künstliche Unterdrückung dieser starken persönlichen Bindungen bei Kindern wie Erwachsenen Deprivationserlebnisse aus. Wir sollten unser ganzes Einsamkeitsproblem von dieser Warte aus betrachten. Kinder schließen schnell Freundschaft - und ihr Bedürfnis nach emotionaler Befriedigung äußert sich auf dieselbe Weise, wie Babys sich mit den Menschen ihrer Umgebung anfreunden, nämlich durch Lächeln, Gesten und das Anbieten von eßbaren Dingen.

Unglücklicherweise wird der Drang eines Kindes, Freundschaft zu schließen, oft schon erstickt, bevor es zum Jugendlichen herangewachsen ist. Wir bringen unseren Kindern so nachdrücklich bei, sich diese zutraulichen Freundschaftsgesten abzugewöhnen, daß für die meisten Kinder über acht Jahren jeder Fremde verdächtig ist wie ein potentieller Kidnapper oder Sexualverbrecher.

Dieser offenbar angeborene Drang, Bindungen einzugehen, findet noch auf dem Schulhof und in Kinderspielen seinen Ausdruck. Die meisten von uns kennen sicherlich noch die entsprechenden Spiele und erinnern sich an die liebevollen Kinderverse: Immer will dein Freund ich sein, nie laß ich mich mit andern ein.

Und die meisten von uns haben auch einen besten Freund gehabt, von dem sie zumindest zeitweise unzertrennlich waren. Als Kinder nehmen wir Freundschaft sehr ernst, spielen intensive Spiele, tauschen Briefmarken und Murmeln, begleiten einander auf dem Heimweg. Mädchen machen sich Geschenke, schreiben sich Geburtstagskarten, borgen sich gegenseitig Sachen aus und teilen ihre Süßigkeiten. Sie machen keinen Hehl daraus, daß sie sich mögen, weil das Aussehen, der Charakter oder die Kleidung der anderen gefällt.

Aber genauso schnell, wie sie geschlossen werden, zerbrechen Kinderfreundschaften oft auch wieder. Zwei Mädchen schworen sich ewige Treue, zwei Jungen ritzen sich den Arm und kosten jeder des anderen Blut; dann plötzlich haben sie Streit, sind verkracht und reden nicht mehr miteinander. Die Mädchen haben sich vielleicht wegen eines Armbands zerstritten, von den Jungen hat vielleicht einer einen anderen „besten Freund" gefunden. Kinder ritualisieren wie die Erwachsenen in Afrika ihre Freundschaften.

Von der späten Kindheit an werden die freimütigen Freundschaften des Spielplatzes nicht mehr gefördert, ja an ihre Stelle tritt sogar ein Gefühl der Scham und des Schuldbewußtseins im Zusammenhang mit sehr engen Freundschaften, das offenbar auf unsere puritanische Einstellung zur Homosexualität zurückgeht. Wir haben unser Leben lang Hemmungen, uns zu einer tiefempfundenen Liebe zu einer Person gleichen Geschlechts zu bekennen, auch wenn diese Liebe unbestreitbar besteht und stärker ist als die Gefühle für den Ehepartner.

Nur wenige von uns wären freimütig genug, um von ihrer Liebe zu einem Freund mit ähnlichen Worten zu sprechen wie Montaigne, als er zwanzig Jahre nach dem Tod von Etienne de la Boëtie über dessen Charakter schrieb: Seelen, seine und meine, waren so eng miteinander verbunden, hegten füreinander so glühende Zuneigung... die den innersten Kern unseres Wesens so bloßlegte, daß ich nicht nur seine Seele kannte wie meine eigene, sondern mich gewiß sogar bereitwilliger in seine Hände begeben hätte als in meine eigenen.

Umdenken

Ich habe mir, als Anthropologe, bescheidene Ziele gesetzt. Ich habe mir nicht vorgenommen, irgendeinen universellen Code des Denkens zu enträtseln oder gar meinen Kollegen eine neue oder besonders ausgeklügelte Theorie der zwischenmenschlichen Beziehungen vorzulegen. Ich möchte über das Studium exotischer Gesellschaften zu Einsichten über unsere eigene Lage gelangen. Die Tahitier gaben Diderot die Möglichkeit, die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts und ihre heuchlerische Moral zu verspotten. Rousseau nahm die Kariben als Beispiel, als er seinen Zeitgenossen eine Lektion über die Übel der Ungleichheit im Europa des 18. Jahrhunderts erteilen wollte.

Durkheim und Mauss studierten die australischen Ureinwohner, um ein klareres Bild von den Wechselbeziehungen zwischen Religion und Gesellschaft in Europa zu gewinnen. Der heutige Anthropologe ist in einer glücklichen Lage - indem er unserem modernen Selbst den Spiegel vorhält, kann er versuchen, uns dazu zu bewegen, unsere Einstellungen zu überprüfen.

Wenn wir beispielsweise feststellen, daß Liebe und Freundschaft den alten Griechen, den afrikanischen Nomaden und den spanischen Bauern jeweils etwas anderes bedeuteten, ergibt sich für uns daraus die Gelegenheit, diese Einstellungen neu einzuschätzen und vielleicht sogar zu versuchen, sie zu ändern.

Ich glaube, wir sollten das Phänomen Freundschaft mit völlig neuen Augen sehen. Es gibt ein tiefes und ganz reales Bedürfnis in uns, Gefühle permanent auszuleben und Zuneigung zu geben und zu empfangen, die nicht auf Sexualität oder auf der Konvention der Ehe basiert. Wir sollten dem Beispiel primitiver Kulturen folgen und Freundschaft zu einem kategorischen Imperativ erheben. Durch Gegenseitigkeit und Vertrauen, durch institutionalisierte und ritualisierte Verpflichtungen für andere Menschen können wir vielleicht die Isolation und Einsamkeit des heutigen Menschen überwinden und an ihre Stelle das „Gegenseitig-Ergänzen", die bleibenden und sicheren Bande von Freundschaft zwischen Menschen setzen.

Robert Brain wurde in Tasmanien geboren und in England erzogen. Er hat am University College, London, studiert und dort mehrere Jahre gearbeitet. Er hat beachtliche Feldarbeit, vor allem bei den Bangwas in Kamerun, geleistet und mehrere Arbeiten über Kunst, Ökologie und soziale Beziehungen in sogenannten primitiven Gesellschaften veröffentlicht. Sein Buch „Freunde und Liebende", das 1976 unter dem Titel „Friends and Lovers" in England herauskam, erscheint dieses Jahr (Anm.: im Jahr 1978) im Fischer Verlag, Frankfurt. In diesem Buch bekennt er: „Ich gehöre keiner Partei, keiner Kirche, keiner Universität an. Ich war nie verheiratet, hatte und habe jedoch viele Freunde und Geliebte beiderlei Geschlechts. Ihnen widme ich dieses Buch mit soviel Feierlichkeit, Gefühl und Selbstinteresse, wie es solchen Beziehungen zukommt."

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Quellen:

Brain, Robert: Bangwa Kinship and Marriage, Cambridge University, 1972

Eibl-Eibesfeld, Irenäus: Liebe und Haß, Pieper 1975

Pitt-Rivers, Julian: People of the Sierra, University of Chicago 1971

Tiger, Lionel: Men in Groups, Random House 1970

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Psychologie Heute Compact 79: Das Leben aufräumen