Wenn das Leben sich aufzulösen scheint, kann die Beschäftigung mit dem Garten uns wieder auf die Beine bringen. Vor ein paar Jahren, als ich mich nach einer mit beruflichem Stress verbundenen längeren Krankheit wieder erholte, durfte ich dies selbst erfahren.
Als der Herbst voranschritt, hoffte ich, meine Lebenskräfte wiederzuerlangen, doch vergeblich. Den ganzen Winter über konnte ich diese Lethargie nicht abschütteln, und so ging es immer weiter bis Anfang März. Gewöhnlich hält mich nichts im Haus, wenn…
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März. Gewöhnlich hält mich nichts im Haus, wenn das Frühjahr vor der Tür steht, und ich eile ins Gewächshaus. Aber dieses Jahr war es anders. Obwohl ich schon vor langer Zeit verschiedene Samen bestellt hatte, blieben sie in ihrer Verpackung.
An einem Wochenende schlug Tom morgens vor, dass wir gemeinsam das Gewächshaus in Ordnung bringen. Es bedurfte dringend einer Reinigung. Wir machten uns an die Arbeit, fegten dürres Laub zusammen und räumten zerbrochene Töpfe und all die Überreste des vergangenen Jahres weg. Dann ordneten wir die Pflanzen auf den Stellagen neu und füllten die Blumentöpfe mit frischer Erde auf. Als wir damit fertig waren, begann ich damit, meine Samenpackungen durchzusehen, und zum ersten Mal überlegte ich, was ich säen wollte.
Von der Außenwelt abgeschnitten
Am nächsten Tag ging ich direkt nach dem Frühstück hinaus zum Gewächshaus, mit dem Plan, ein paar Saatkästen anzulegen. Plötzlich verspürte ich das dringende Bedürfnis, die Samen in die Erde zu bringen. Trotz meiner Müdigkeit arbeitete ich, als ob es nichts Wichtigeres zu tun gäbe. Am Ende jenes Tages hatte ich Folgendes gesät: Salat, Rucola, Gelbe Rüben, Spinat, Rote Bete, Grünkohl, Koriander, Petersilie, Basilikum und noch mehr – alle in Saatkisten oder draußen in Gemüsebeeten. Ich säte auch Blumensamen – Ringelblumen, Rittersporn, Gartenwicken und Schmuckblumen. All diese Blumensamen waren nun nicht mehr in meinem Kopf, sondern im Boden und würden schon bald keimen.
In den vergangenen Monaten war ich von der Außenwelt abgeschnitten gewesen – wie ein glückloser Surfer, der beobachtet, wie die Wellen an ihm vorbeirollen. Aber an jenem Tag surfte ich auf der Woge der Zeit, was der Gartenzeit entspricht, die uns mit ihrem jahreszeitlichen Antrieb und der entsprechenden Energie für neues Wachstum mitreißen kann.
Die Samen bergen bereits das Morgen in sich. Sie lösen das Vergnügen des Planens aus und eröffnen uns neue Möglichkeiten. Sie schaffen eine Brücke in die Zukunft – eine Zukunft, die man sich leicht vorstellen kann. Fortwährend bauen wir auf eine unbekannte Zukunft, aber wenn sich die Dinge gegen uns verschwören und das Leben außer Kontrolle zu geraten scheint, fällt es schwer, Träume umzusetzen. Der Garten ist ein sicherer Ort, um damit wieder zu beginnen. Er gibt uns Struktur und regt zur Disziplin an, denn es geht nicht um grenzenlose Möglichkeiten. Mit dem Ablauf der Jahreszeiten sowie der natürlichen Wachstumskraft lässt sich nicht verhandeln. Wir können sie weder verlangsamen noch beschleunigen. Wir müssen uns dem Rhythmus der Gartenzeit unterwerfen und innerhalb dieses Rahmens arbeiten.
Der Rhythmus der Pflanzen
Im Frühjahr und Frühsommer ist dieser Rhythmus besonders vital. Auch wenn mich dies noch so sehr motiviert, gibt es doch Phasen, in denen der kontinuierliche Ablauf der Aufgaben mir zu viel wird, und selbst ein Blick auf den Garten kann mich dann ermüden. Am liebsten würde ich sagen: „Könnt ihr nicht etwas langsamer wachsen? Könnten wir bitte pro Monat eine zusätzliche Woche bekommen?“ Aber dann wird mir klar, dass ich es bin, die ihr Tempo verlangsamen muss.
Der Garten ist ein Ort, der uns wieder mit den grundlegenden biologischen Lebensrhythmen in Verbindung bringt. Der Rhythmus des Lebens entspricht dem Rhythmus der Pflanzen; wir müssen unser Tempo verlangsamen, und das Gefühl einer sicheren Einfriedung und die Vertrautheit trägt dazu bei, uns auf einen besinnlicheren Bewusstseinszustand einzustimmen. Der Garten vermittelt uns auch einen zyklischen Überblick. Die Jahreszeiten kommen immer wieder. Einiges verändert sich, anderes bleibt gleich. Die Struktur der Jahreszeit bietet uns Trost. Wenn wir auf unsere psychische Verfassung achten, löst dies einen Lernprozess aus: Der Garten lehrt uns, dass wir eine zweite Chance erhalten. Wenn dieses Jahr etwas nicht gelingt, wissen wir, dass wir es im Jahr darauf zur selben Zeit nochmals versuchen können.
Die Zeit kann als eine Reihe wiederkehrender Zyklen verstanden werden oder, wie es heutzutage meistens der Fall ist, in ihrer linearen Form gesehen werden. Die lineare Zeit ist kompromissloser, und es fällt uns schwer, mit ihrer Starrheit zu leben – wie ein Pfeil auf einer festgelegten Flugbahn, der das Bedürfnis des Körpers nach Ruhe und Erholung nicht erkennt und auch nicht bemerkt, dass Grund und Boden dies genauso benötigen. Wenn alles darauf abgestellt ist, die Zeit für ein Maximum an Output zu nutzen, konzentrieren wir uns vorwiegend darauf, keine Zeit zu vergeuden, und haben trotzdem das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben. Schließlich versuchen wir, unseren Lebensrhythmus auf eine Uhr auszurichten, der wir immer etwas abtrotzen wollen.
Die Norm, Burnout zu riskieren
Das Leben als eine Reihe von Adrenalinstößen zu erleben kann schnell süchtig machen. Paradoxerweise erschwert uns dann eine unterschwellige Erschöpfung, die erforderliche Ruhepause einzulegen. Dies kann dazu führen, dass man Problemen aus dem Weg geht, statt sie aus der Welt zu schaffen. So fällt es uns leichter, unser Tempo zu halten, statt es zu drosseln und Bilanz zu ziehen.
In den letzten Jahrzehnten haben zunehmend unsichere Arbeitsverhältnisse und eine auf verschärfter Konkurrenz beruhende Arbeitsüberlastung zu einer dramatischen Steigerung von berufsbedingtem Stress geführt. In den Städten gibt es immer mehr Büros, in denen die Menschen den ganzen Tag bis in die Abendstunden arbeiten – und in zahlreichen Unternehmen gilt es als Ehrensache, nicht den gesamten bezahlten Urlaub in Anspruch zu nehmen. Viele Lehrer, Ärztinnen und Krankenpfleger kämpfen trotz Unterbesetzung darum, steigenden Anforderungen gerecht zu werden. In fast allen Berufszweigen ist es immer mehr zur Norm geworden, früher oder später ein Burnoutrisiko einzugehen. Stress ist mittlerweile die häufigste Ursache für Krankmeldungen.
Burnout tritt auf, wenn die Erholungszeit zu knapp ist und man die Fähigkeit verloren hat, mit Stress umzugehen. Dies verstärkt die Gefahr, eine Depression zu entwickeln. Auch das Risiko für eine Reihe körperlicher Erkrankungen ist dann erhöht, insbesondere für Herzkrankheiten und Diabetes.
Eine Raum-Zeit-Medizin
Schon in den 1960er Jahren schrieb der amerikanische Psychiater und Psychoanalytiker Harold Searles: „In den letzten Jahrzehnten haben wir unseren Lebensraum von einer Welt, in der die lebendigen Werke der Natur entweder vorherrschten oder in greifbarer Nähe waren, in eine andere Welt verlagert, die von einer erstaunlich leistungsstarken, aber toten Technologie beherrscht wird.“ Searles glaubte, unsere Fähigkeit, mittels der Natur zu einer umfassenden Sinngebung zu gelangen, werde häufig erst dann offenkundig, wenn wir in einer Krise stecken. Für jemanden, der die Verbindung zum Leben verloren hat, bietet eine Beziehung zu einer viel einfacheren Lebensform eine grundlegende Möglichkeit des Neubeginns.
Die Gartenarbeit kann als eine Art Raum-Zeit-Medizin gesehen werden. Wenn wir im Freien arbeiten, erweitert sich unser Sinn für den mentalen Raum, und die Wachstumszyklen der Pflanzen können unser Verständnis der Zeit verändern. Eine „alte Leier“, die Susan Sontag einst zitierte, lautet: „Die Zeit ist so eingeteilt, dass nicht alles gleichzeitig geschieht … und der Raum existiert, damit nicht alles Ihnen passiert.“
Wenn wir krank sind, trifft das Gegenteil von beidem zu. Depressionen, Traumata und Ängste lassen unseren Zeithorizont zusammenschrumpfen und engen unseren mentalen Raum ein. Hoffnungslosigkeit und Ängste verkürzen die Zukunft perspektivisch. Die Vergangenheit und die Gegenwart gehen dann mehr oder weniger ineinander über, da wir an alten Verletzungen festhalten. Und das In-sich-gekehrt-Sein des Geistes bestärkt einen in dem Gefühl, „alles“ stoße einem selbst zu.
Ein lebendiger Bezug zur Gegenwart
Wenn wir dem entgegenwirken wollen, müssen wir ein Verständnis für einen langsamen Zeitverlauf entwickeln. Langsame Zeit bedeutet nicht, dass man Dinge langsamer erledigt. Menschen, die einen Burnout oder eine Depression erlitten hatten, haben in der Folge ihren Lebensrhythmus beträchtlich verlangsamt und sich trotzdem nicht erholt. Langsame Zeit stellt sich ein, wenn wir einen lebendigen Bezug zur Gegenwart herstellen. C.G. Jung kultivierte diese Erfahrung, indem er sich in seinen Turm am Seeufer von Bollingen zurückzog. Es gab dort keine Elektrizität, und so überließ er sich dem natürlichen Lebensrhythmus. Er schrieb am Morgen, und nach einer Siesta bearbeitete er den Kartoffelacker sowie das Maisfeld und hackte Holz.
Jules Pretty, Professor für Umwelt und Gesellschaft an der University of Essex, sagt, dass langsames Sehen und langsames Hören uns neue Kräfte zuführen. Prettys Team hat in Studien nachgewiesen, dass der Aufenthalt in der Natur nicht nur dazu beiträgt, sich von Stressbelastungen zu erholen, sondern uns auch darin unterstützt, bevorstehende Stressfaktoren besser zu bewältigen: Die Belastbarkeit wird erhöht. In einer weiteren Untersuchung stellte das Forschungsteam bei Menschen, die einen Schrebergarten pflegten, einen deutlich höheren Pegel an Wohlbefinden fest als bei Personen, die nicht gärtnerten. Bei der Pflege ihrer Beete bauten die Schrebergärtnerinnen und -gärtner erkennbar Anspannung, Ärger und Unbehagen ab. Bereits eine halbstündige Verweilzeit pro Woche im Garten führte zu besserer Stimmung und bewirkte eine Steigerung des Selbstwertgefühls.
Die Neurowissenschaftlerin Kelly Lambert vertritt die Meinung, dass das Vertrauen in die Fähigkeit, unser eigenes Leben zu formen, dadurch entsteht, dass wir unsere reale Umwelt gestalten. Wenn unsere Handlungen zu einem Ergebnis führen, das wir sehen und berühren können, fühlen wir uns mit unserer Umwelt viel mehr verbunden, und wir bemerken, dass wir die Dinge unter Kontrolle haben. „In unserem Drang, weniger körperliche Arbeit zu verrichten, um das zu erreichen, was wir wollen und benötigen, haben wir etwas sehr Entscheidendes von unserem mentalen Wohlbefinden eingebüßt“, schreibt sie.
Phänomen der „erlernten Persistenz
Lamberts Experimente mit Ratten haben gezeigt, dass diese, wenn sie sich anstrengen müssen, um ihr Futter zu erlangen, und nicht einfach nur gefüttert werden, eine größere Entschlossenheit zeigen, sobald sie mit Hindernissen konfrontiert sind. Sie nennt dieses Phänomen „erlernte Persistenz“ und glaubt, dass eine ähnliche Wirkung beim Menschen den Optimismus stärkt, die eigene Lebenssituation beeinflussen zu können. Dies steht im Gegensatz zur „erlernten Hilflosigkeit“, also dem Gefühl, den äußeren Ereignissen ausgeliefert zu sein.
Kelly Lambert ist zu der Erkenntnis gelangt, dass die Arbeit mit den Händen für unsere Gesundheit lebenswichtig ist, und sie weist darauf hin, dass ein großer Teil des menschlichen Gehirns speziell auf die Bewegung der Hände ausgerichtet ist. Nun gibt es ganz unterschiedliche Möglichkeiten, mit unseren Händen zu arbeiten. Beim Gärtnern besteht der Vorteil darin, dass man nichts aufschieben kann.
Der Fähigkeit, im gegenwärtigen Moment zu leben, wird heutzutage bei der Behandlung von Stress große Bedeutung beigemessen; darüber hinaus müssen wir uns aber auch zielgerichtet auf die Zukunft einstellen. Im Laufe der Prähistorie begannen die Menschen zunächst bei der Kultivierung des Bodens, Pläne für die Zukunft zu entwerfen und den Ergebnissen ihrer Bemühungen zu vertrauen. Im Garten gibt es immer etwas zu planen oder etwas, worauf man sich freuen kann. Wenn im Garten die eine Saison endet, beginnt schon die Arbeit für die nächste. Diese Art von positiver Erwartungshaltung vermittelt uns ein stabilisierendes Gefühl für die Kontinuität des Lebens.
Sue Stuart-Smith ist Psychiaterin und Psychotherapeutin und lebt in England. Dieser Text ist ein Vorabdruck aus ihrem Buch Vom Wachsen und Werden. Wie wir beim Gärtnern zu uns finden, das dieser Tage bei Piper erscheint.