Die erste Patientin ist früh dran. Langsam geht sie über den leeren Flur auf den Wasserspender zu. Turnschuhe quietschen auf grauem Linoleum, ansonsten ist es still. Wie in Zeitlupe setzt sie sich mit ihrem Plastikbecher auf einen Stuhl im Gang. Sie holt eine Pillenpackung aus der Handtasche, wirft verstohlen eine Tablette ein. Dann zupft sie ihr Kopftuch zurecht und wartet. Nach einer Weile huschen andere vorbei. Auch sie warten vor verschlossenen Behandlungszimmern, trinken aus Plastikbechern, reden kaum.…
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trinken aus Plastikbechern, reden kaum. Erst als ein Mann mit dichtem schwarzem Bart sich neben die Frau setzt, nickt sie ihm zu. „Hast du noch Schmerzen?“, fragt er in gebrochenem Deutsch. „Manchmal“, sagt sie leise und dreht sich wieder weg.
Das Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer (BZFO) liegt abseits der Straße. Vor den Türen des alten Krankenhausgebäudes klönen türkische Frauen mit Gemüsehändlern, andere schieben lachend die Kinderwagen durch Berlin-Moabit. Wer drinnen wartet, nimmt noch nicht wirklich teil am Leben da draußen. Die Patienten im BZFO flohen aus Krisengebieten oder Diktaturen. Manche leben erst seit kurzem in Deutschland, andere seit Jahren, aber alle sind traumatisiert. Es sind Folteropfer und Kriegsflüchtlinge, die im neuen Land kaum Chancen haben, das Erlebte aufzuarbeiten: Kaum ein Therapeut spricht ihre Sprachen.
Das BZFO ist eine der wenigen Einrichtungen in Deutschland, in denen man sie versteht. Denn hier gibt es Dolmetscher. Es sind integrierte Migranten aus Tschetschenien, dem Iran oder aus arabischen und afrikanischen Ländern, die eng mit Ärzten, Sozialarbeitern und vor allem Therapeuten zusammenarbeiten.
Dolmetscher, die oft mehr mit den Patienten teilen als die Therapeuten
Eine ungewöhnliche Konstellation: Auf der einen Seite Patienten, die in fremder Sprache von elementaren Krisen erzählen, auf der anderen Therapeuten, die zunächst nichts verstehen. Dazwischen sitzen Dolmetscher, die eigentlich nur vermitteln sollen. Und doch oft mehr mit den Patienten teilen als die Therapeuten.
Schwungvoll stößt Selver Mersin die Tür zum BZFO auf. Seit 15 Jahren arbeitet sie hier als Dolmetscherin. Die 43-Jährige lebt seit den 1980er Jahren in Berlin. Weil ihr Vater irgendwann keine Perspektive in der Türkei mehr hatte, ging er als Gastarbeiter nach Deutschland. Die Familie holte er später. Nach ihrer Ankunft lernt Mersin, sich anzupassen an eine fremde Kultur und Sprache. Sie gewöhnt sich daran, Freunden und Verwandten zu helfen, die schlechter Deutsch sprechen als sie selbst. Vielleicht hat Mersin das Vermitteln deshalb irgendwann zum Beruf gemacht. Freunde von ihr haben es auch getan, ebenfalls am BZFO. „Es schien einfach naheliegend.“
Langsam füllt sich der Flur. Mersin läuft an Patienten vorbei, lächelt einige an und bleibt schließlich vor der Frau mit Kopftuch stehen. Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelt auch diese. Mit kurzer Umarmung begrüßen sich die Frauen und verschwinden im Behandlungsraum. Eine Landkarte von Kurdistan hängt an der Wand neben dem Fenster. Bücher zum Thema Asyl- und Ausländerrecht liegen im Raum verstreut. Um den Tisch herum stehen drei Sessel. In einem sitzt Claudia Kruse, Sozialarbeiterin und Therapeutin. Die kurdische Patientin setzt sich auf den Platz ihr gegenüber, dazwischen: Selver Mersin.
Nicht immer geht das Dreiecksverhältnis auf
Sie schenkt Tee ein und lehnt sich entspannt zurück. Zwischen ihr und der Therapeutin stimmt die Chemie, das merkt man gleich. Auch die Patientin spürt es – und das ist wichtig für die Therapie. Denn nicht immer geht so ein Dreiecksverhältnis auf. Oft sind Patienten hin- und hergerissen. Zwischen Psychologen, mit denen sie anfangs kaum etwas verbindet. Und Dolmetschern, mit denen sie Kultur und Erfahrungen teilen, die bei der Aufarbeitung der Traumata jedoch nicht helfen können. Es erleichtert die Sache deshalb sehr, wenn beide als Team auftreten.
Seit über einem Jahr ist die Patientin jetzt in Behandlung. Mittlerweile lächelt sie häufig im Gespräch. Die Hände zittern nicht mehr, wenn sie ihren Tee trinkt. Während sie spricht, blickt sie Claudia Kruse fest in die Augen, Selver Mersin nimmt sie nur noch aus dem Augenwinkel wahr. Offenbar ist sie ganz in der Therapie angekommen. Kopfschmerzen, eine Folgeerscheinung der Folter, hat sie hin und wieder noch. Aber mittlerweile helfen schon leichte Schmerzmittel. Ein großer Erfolg.
Doch Erfolg ist nicht immer garantiert. Erst kürzlich saß eine andere Patientin Claudia Kruse gegenüber. „Eine Syrerin, schwanger, mit vier kleinen Kindern“, erzählt sie. Völlig unvermittelt entgleitet ihr die Frau beim Gespräch in traumatische Erinnerungen. „Plötzlich wirft sie sich auf den Boden, beginnt wild über den Teppich zu reiben, ist nicht mehr zu beruhigen.“ Denn Kruse versteht sie nicht gleich. „Im direkten Gespräch kann man jemanden vielleicht aus einem Flashback holen“, sagt sie. „Aber mit dem Umweg über die Übersetzung geht das in manchen Fällen nicht.“
Skepsis gegenüber der Herkunft der Dolmetscher
In der Erinnerung wischt ihre damalige Patientin Blut vom Boden und sammelt Leichenteile ein. Kruse weiß, dass die Frau ihre Familie bei einem Bombenanschlag verloren hat, doch auf den Rest der Geschichte kann sie nicht schnell genug reagieren. Innerhalb kürzester Zeit ist die Patientin auf dem Weg ins Krankenhaus. An einen Ort ohne Dolmetscher, wo die Standardabfertigung aus einem Medikamentencocktail besteht. Viele der Patienten, die im Zentrum für Folteropfer ankommen, haben Ähnliches bereits hinter sich: Krankenhausaufenthalte, Verständigungsprobleme, Fehldiagnosen und abenteuerliche Medikationen. Wenn sie Glück haben, empfehlen umsichtige Ärzte, Anwälte oder Bekannte aus der Heimat dann das Behandlungszentrum. Und oft gelangen sie hier zum ersten Mal in Deutschland in ein Umfeld, in dem man wenigstens versucht, sie zu verstehen.
Für viele ist es der Anfang eines langwierigen Integrationsprozesses, die komplizierte Vergangenheit stets im Gepäck. „Je nach Herkunft herrscht natürlich auch uns gegenüber Skepsis“, erklärt Selver Mersin nach der Sitzung. Tschetschenen wollen beispielsweise keine Landsleute als Dolmetscher. Aus Angst vor Regierungsspitzeln und dem Gerede in der Community. Kurden wollen dafür keine Türken. Doch Mersin ist türkischsprechende Kurdin, und das wiederum geht in Ordnung.
Berücksichtigt man Befindlichkeiten wie diese, schaffen die Dolmetscher ein wichtiges Gegengewicht zum restlichen Personal, das fast ausschließlich aus Deutschland stammt. Nur die 20 festen Übersetzer am Haus haben Migrationshintergrund und werden deshalb auch in Therapien einbezogen. „Wenn es für den therapeutischen Prozess sinnvoll ist, kommt es tatsächlich vor, dass ich Dolmetscher während der Sitzung bewusst nach ihrer Meinung frage“, sagt Kruse. „Zum Beispiel wenn Männer beim Gespräch über Geschlechterrollen blocken oder Frauen nicht über bestimmte Aspekte ihrer Beziehung sprechen können.“ Trotzdem kommt die Therapie bei manchen Themen schnell an ihre Grenzen. Wenn es um Religion geht beispielsweise oder Sexualität. Denn so etwas braucht Zeit. Und Kruse begegnet den Patienten oft nur einmal in der Woche.
Dolmetscher verbringen dagegen auch außerhalb der Behandlung Zeit mit ihnen.
„Man ist nicht gegen alles immun“
Theoretisch sollen vertragliche Regeln das zwar vermeiden: kein privater Kontakt außerhalb der Sitzungen und kein Austausch von Telefonnummern. Doch die Grenzen sind fließend, weil es eben nicht nur Therapiegespräche sind, die betreut werden. Dolmetscher begleiten auch aufs Amt, ins Krankenhaus oder zum Anwalt. In intimen Situationen, bei denen Patienten ihnen über die Therapie hinaus näherkommen. Nicht selten wollen sie irgendwann mehr: Ein offenes Ohr außerhalb der BZFO-Zeiten vielleicht, Unterstützung, wenn die Polizei vor der Tür steht und mit Ausweisung droht, manchmal sogar Hilfe beim Umzug. „Schlimmstenfalls könnte jemand anrufen, der schon an der Brücke steht“, sagt Kruse.
Zum x-ten Mal läuft Mersin an diesem Tag den Flur herunter. Inzwischen ist es Nachmittag, sie hat mehrere Einzel- und Gruppengespräche hinter sich. „Man ist natürlich nicht gegen alles immun“, sagt sie, und zum ersten Mal merkt man ihr die Erschöpfung an. Immerhin: Nach fünfzehn Jahren hat sie Mechanismen zum eigenen Schutz entwickelt. Eine spezielle Ausbildung für ihre Arbeit gibt es nicht, aber sie hat Lehrgänge zum Umgang mit Traumata und Burnout gemacht. Heute widersteht sie dem Impuls, in Therapien zu sehr mitzugehen. Mittlerweile umarmt sie weinende Patienten nicht mehr, lässt angemessenen Raum für Trauma und Trauer zu. Sie zieht Grenzen zwischen der eigenen Vergangenheit und der des Patienten. Psychische Stabilität ist Grundvoraussetzung, wenn man die schlimmen Erlebnisse anderer in Ich-Form übersetzt. Nur in seltenen Fällen geht es ihr noch immer zu nah. Im vergangenen Jahr zum Beispiel, als sie mit einer Frau arbeitete, deren Kind im Sterben lag. „Danach war ich wirklich fertig“, sagt sie. Und dass sie damals in der Therapie geweint habe. In solchen Momenten werden die vorgeschriebenen Nachgespräche mit den Therapeuten wieder ganz wichtig, der Austausch mit anderen Dolmetschern unerlässlich. Gewisse Dinge lassen sich eben nur gemeinsam verarbeiten.
Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind bis September des vergangenen Jahres rund 85 00 Asylanträge eingegangen, die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien und Aghanistan wächst stetig. Das BZFO hat aber nur 450 Plätze zu vergeben, viele sind langfristig belegt. Die Patienten bleiben so lange, bis eine Grundstabilität wiederhergestellt ist, und teilweise dauert das Jahre. Vergleichbare Institutionen gibt es in Deutschland kaum. Und Betreuung durch selbständige Therapeuten findet nur vereinzelt statt – sie scheitert fast immer am Finanziellen. „Momentan lehnen es die Kassen ab, für Migranten mit gesichertem Aufenthalt zu zahlen“, bedauert Kruse. „Dadurch müssen viele auf Therapien verzichten.“ Paradoxerweise haben Asylbewerber, die vielleicht gar nicht im Land bleiben dürfen, es da leichter. Bei ihnen übernimmt das Landesamt für Gesundheit und Soziales die Kosten.
Wieder im Leben ankommen
Auch wenn Patienten mit Therapien bessere Chancen auf eine Aufenthaltsgenehmigung haben, bekommt nur ein Bruchteil derer, die ums Aufenthaltsrecht kämpfen, die Chance, langfristig zu bleiben. „Neulich habe ich zum ersten Mal erlebt, wie ein Patient nach einjähriger Therapie abgeschoben wurde.“ Mersin sagt es leise, so als würde es dadurch weniger schlimm. Aber das nützt auch nichts. „Es war eine der schlimmsten Erfahrungen, die ich hier im Zentrum gemacht habe“, sagt sie. „Jemand, der fast schon angekommen war und am Ende doch nicht bleiben durfte.“
Gäbe es nicht auch die anderen Fälle, wer weiß wie lange Mersin es mit ihrer Arbeit aushielte. Doch es gibt sie eben– diejenigen, die bleiben dürfen. Patienten, die Traumata überwinden, neue Beziehungen eingehen, sogar beruflichen Erfolg in Deutschland haben. „Die meisten kommen nach Abschluss der Therapie wieder vorbei, trinken Tee mit uns, erzählen, wie es ihnen im neuen Leben geht“, sagt Mersin und lächelt wieder. Oft trifft sie ehemalige Patienten auch außerhalb des Zentrums. Auf einer Demo oder kurdischen Kulturveranstaltung, die Community ist klein. „Manchmal zwinkern Ehemalige und ich uns einfach nur zu, wenn wir uns draußen sehen.“ Wer weiß, ob die Familie des Patienten von der Behandlung wusste. Mersin jedenfalls reicht es zu sehen, dass jemand wieder im Leben angekommen ist.
Kalte Fremde
Migranten leiden häufiger als andere unter psychischen Erkrankungen. Soziale Ausgrenzung und Kulturkonflikte zehren an ihrer Gesundheit
Wer seine Heimat dauerhaft verlässt, beginnt ein völlig neues Leben. Freunde und Familie müssen zurückgelassen, ein Arbeitsplatz aufgegeben werden. Die bisherige Identität und Einbettung in ein soziales und kulturelles Gefüge existieren nicht mehr. „Das löst tiefe Trauer aus“, sagt der Psychotherapeut Wielandt Machleidt. Täglich suchen Ausgewanderte mit psychischen Problemen bei dem Psychotherapeuten in Hannover Hilfe. Der Wechsel des Landes verursache eine „kulturelle Adoleszenz“ – eine zweite Pubertät, die einen enormen Schub der Persönlichkeitsentwicklung auslöse. „Alles muss neu entschieden werden. Das fordert viel Kraft“, erklärt der Psychologe.
Von der Last der Migration zeugen auch epidemiologische Daten. Menschen anderer Herkunft leiden in West- und Zentraleuropa häufiger unter Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. Süchte beispielsweise sind bei zugewanderten Männern weiter verbreitet als bei Einheimischen. „Die seelische Belastung des Landwechsels allein erklärt das nicht adäquat“, sagt Andreas Heinz, Psychiater mit Schwerpunkt Migration an der Berliner Charité.
Wie erdrückend die Datenlage gerade zur „Schizophrenieepidemie der Migranten“ mittlerweile ist, machte 2012 ein Autorenteam um den Psychiater James Kirkbride von der University of Cambridge im Fachblatt PLOS ONE deutlich. Sie hatten 149 Studien zur Häufigkeit psychiatrischer und psychischer Erkrankungen bei Einwanderern ausgewertet. „Durch die Bank fallen die viel höheren Raten für Psychosen in der Gruppe Dunkelhäutiger und ethnischer Minderheiten auf“, so die Autoren. Die Erklärung der Wissenschaftler: Je stärker die soziale Ausgrenzung der Migranten, desto desolater die seelische Verfassung. „Das ist auch plausibel“, so Andreas Heinz. „Wir wissen aus Tierversuchen, dass mangelnder sozialer Kontakt einer der schlimmsten Stressauslöser ist. Er verändert Netzwerke im Gehirn, die für die Entstehung von Psychosen relevant sind.“ Das Eingebundensein in eine Gesellschaft, Anerkennung und menschliche Wärme sind Grundnahrungsmittel für die Seele. Hinzu kommt häufig der soziale Abstieg: „Minderheiten und Migranten verdienen hierzulande weniger Geld, und sie erleiden gesellschaftliche Ausgrenzung am Arbeitsplatz“, berichtet Heinz. Akademiker, die aus Osteuropa einwandern, erleben, dass ihr Studienabschluss nicht anerkannt wird. Abrupt stürzen sie auf der sozialen Leiter etliche Stufen abwärts. „Das führt zu schweren Enttäuschungen mit der Folge von Depression und Verlust der Selbstachtung“, erörtert Wielandt Machleidt.
Die Bürde der neuen Heimat wird allerdings von den Geschlechtern unterschiedlich stark empfunden: Frauen tragen tendenziell schwerer an den Folgen der Migration. Darauf deuten die bisherigen Erkenntnisse hin: Mädchen und junge Frauen mit türkischem Migrationshintergrund unternehmen in Berlin fünfmal so viele Selbstmordversuche, in Basel immer noch dreimal so viele. In London entwickeln Menschen aus dem afrokaribischen Raum 16- bis 18-mal häufiger einen schizophrenen Wahn als gleichaltrige Einheimische. Die Berliner Gesundheitswissenschaftlerin Theda Borde beobachtete, dass Frauen aus der Türkei, China, Korea und Japan, die in Deutschland leben, viel stärker unter den Wechseljahren leiden als ihre deutschstämmigen Altersgenossinnen. Nicht etwa, dass die hormonelle Umstellung bei ihnen anders verliefe. Aber seelische Not verschlimmert bekanntlich das Empfinden von Beschwerden.
Das Team um den Berliner Psychiater Andreas Heinz wertet zurzeit die Daten zur seelischen Verfassung von über 600 Einwanderern in Berlin und Hamburg aus, die meisten davon türkischer Herkunft. Obwohl die Forscher noch arbeiten, lässt sich schon jetzt absehen, dass Angststörungen und Depressionen bei zugewanderten Frauen öfter auftreten. Demgegenüber weiß Heinz für die Männer sogar Positives zu berichten: „Wegen des Alkoholverbotes im Islam haben türkische Männer weniger Alkoholprobleme als deutsche.“ Religiöse Moralvorstellungen– in diesem Fall ein Schutzfaktor.
Doch nicht immer ist das so. Die hohe Zahl der Selbstmordversuche unter jungen Frauen türkischer Herkunft führt Anita Riecher-Rössler, Psychiaterin an den Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel, in erster Linie auf Kulturkonflikte zurück. Die Frauen begründen den Schritt mit Problemen in der Familie oder mit dem Partner. Riecher-Rössler: „Die jungen Mädchen, gerade der zweiten Generation, leben häufig in einem Spagat zwischen traditioneller familiärer Welt und der modernen Lebenswelt außerhalb. Sie dürfen nicht ausgehen mit Jungs, weil sonst die Familienehre beschmutzt wird. Der Ehemann soll ein Muslim sein. Es kommt auch immer noch zu Zwangsverheiratungen und schweren Familienkonflikten, wenn eine Frau nicht als Jungfrau in die Ehe geht.“ Die Psychiaterin Meryam Schouler-Ocak von der Charité schränkt allerdings ein: „Wir sehen diese Probleme vor allem bei Familien, die sehr abgekapselt leben und vor längerer Zeit migriert sind. Sie haben gar nicht mitbekommen, dass sich auch in der Türkei das Werteverständnis weiterentwickelt hat.“
Jene Migranten, die in der neuen Heimat Anschluss an Gleichgesinnte, sprich an Landesgenossen finden, haben es wesentlich besser, weiß Machleidt. Sie erkranken seltener an Psychosen. In Berlin sind türkische Frauen, die in ihrem Bezirk mit vielen anderen Türkinnen zusammen wohnen, in besserer seelischer Verfassung. „Die Türken, die schon da sind, bilden einen heimischen Brückenkopf in das neue Land“, sagt er. „Wir haben zwar große Angst vor der Parallelgesellschaft. Aber Auswanderer brauchen sie, um sich in die neue Gesellschaft hineinzuentwickeln, als Übergangszustand“, sagt Machleidt. Obwohl die Ghettoisierung die Integration hemmt und deshalb oft kritisiert wird, ist der vorübergehende Zusammenschluss in der Diaspora fast eine seelische Notwendigkeit und erleichtert vielen die Ankunft im neuen Land.
Literatur
H. A. Deserno, U. Reinighaus: Urbanicity, social adversity and psychosis. World Psychiatry, 12, 3, 2013
J. B. Kirkbride u. .: Incidence of schizophrenia and other psychoses in England, 1950–2009: a systematic review and meta-analysis. Plos One, 7, 3, 2012
W. Machleidt, A. Heinz (Hg.): Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie. Migration und psychische Gesundheit. Urban & Fischer, München 2011
W. Machleidt: Migration, Kultur und psychische Gesundheit: Dem Fremden begegnen. Kohlhammer, Stuttgart 2013
A. Yilmaz, A. Riecher-Rössler: Suizidversuche in der ersten und zweiten Generation der ImmigrantInnen aus der Türkei. Neuropsychiatrie, 22, 4, 2008