Ich bebe mich durchs Leben

Wie ein Freund unserer Kolumnistin Mariana Leky es schaffte, nicht darüber nachzudenken, was andere über ihn denken.

Die Illustration zeigt einen Kopf, auf dem Bäume und eine Person sowie viele Augenpaare sind.
Es lohnt sich nicht, darüber nachzudenken, was andere von uns halten. © Elke Ehninger

Mein Freund Vadim sitzt vor mir, und seine Hände zittern. Wir sitzen in Vadims Haus am Kamin, es ist warm und Vadims Hände haben, soweit man sehen kann, keinen Grund zum Zittern. Trotzdem tun sie das, und zwar so, als sei Vadim eben erst dem Leibhaftigen oder einer kolossalen Liebe begegnet. Es sind aber nur wir beide hier, und wir waren einander früher mal eine mittlere Liebe, das war während unseres Studiums und ist also zwanzig Jahre her.

Den ganzen Tag lang haben wir viel geredet, weil wir uns nur selten…

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Jahre her.

Den ganzen Tag lang haben wir viel geredet, weil wir uns nur selten sehen. Jetzt reden wir nicht mehr, weil Vadim an einem Vortrag schreiben muss. Ich sitze ihm gegenüber, schaue in ein Buch und denke aber eigentlich über Vadim nach.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Vadims Hände zittern. Sie zittern am Kamin, sie zittern, wenn er Tee kocht, wenn er Kartoffeln schält, nachdenkt, schreibt, wenn er im Supermarkt ist, im Wald, in der Straßenbahn, sie zittern immer. Vadim ist ein paar Mal gründlich untersucht worden, aber man hat in seinem ganzen Körper nie einen Grund zum Zittern gefunden. Als wir uns kennenlernten, litt Vadim unter seinem anlasslosen Zittern, weil er sich viele Gedanken darüber machte, was die Leute denken. Die Leute denken, dachte Vadim, dass er sehr nervös ist oder sehr ängstlich oder ein Trinker, und er bestellte nie Suppe, wenn wir essen waren, und nie Getränke, die in Gläsern mit Stiel serviert wurden.

Ist es wichtig, was die Leute denken?

„Es muss irgendwie aufhören“, sagte er damals zu mir, „ich halte nicht aus, was die Leute denken.“ Ich weiß noch, wie ich naseweis sagte: „Du weißt doch gar nicht, was die Leute denken, es sind nur deine Gedanken über das, was die Leute denken könnten“, und ich glaube, ich schob noch hinterher: „Es ist doch auch ganz egal, was sie denken.“

Das war leider reine Großspurigkeit. Ich weiß noch, wie ich mit Kommilitoninnen in der Mensa einen dieser Psychotests aus einer Zeitschrift machte. Eine Frage lautete: „Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie wichtig ist Ihnen, was andere über Sie denken?“ – „Zehn“, wollte ich sagen, aber stattdessen log ich: „Höchstens eins“, weil mir sehr wichtig war, dass die Kommilitoninnen über mich dachten, dass ich mir keine Gedanken darüber mache, was andere über mich denken.

Weil es keine organische Ursache für Vadims Zittern gab, kam er schließlich aufs Psychische und beschloss, eine Verhaltenstherapie zu machen. In meiner Familie gibt es einige Psychoanalytiker, und sie hielten damals alle nicht viel von Verhaltenstherapie. Sie rümpften die Nase, als Vadim von seinen Verhaltenstherapieplänen erzählte, sie schauten Vadim an, als habe er gerade mitten in einer Wagneroper gesagt, dass er den Soundtrack von Dirty Dancing gehaltvoller findet.

In seiner Verhaltenstherapie musste Vadim das Zittern auf die Spitze treiben, er musste die angeblichen Gedanken der Leute befeuern. Er musste aus therapeutischen Gründen am Vormittag Dosenbier kaufen und an der Kasse das Portemonnaie in der Hand so zittern lassen, dass es auf den Boden fiel. Er musste in der Mensa Kartoffelsuppe über den ganzen Tisch verteilen. Mir wurde allein schon bei der Vorstellung übel, und ich überlegte, den Therapeuten wegen seelischer Grausamkeit anzuzeigen, doch Vadim machte das alles zwar unter Qualen, aber mit Feuereifer und lernte, dass die Leute meistens nicht nur nichts Schlimmes, sondern überhaupt nichts über einen denken.

Heute plagen Vadim seine zitternden Hände nicht mehr, „ich bebe mich so durchs Leben“, hat er heute früh gesagt.

Bloß nicht hinschauen

Während ich hier am Kamin auf Vadims Hände schaue, fällt mir sehr plötzlich etwas ein, an das ich zwanzig Jahre lang nicht gedacht habe. Ich erinnere mich, dass sich einmal, kurz nach Vadims Therapie, ein junger Mann, ein Student wahrscheinlich, den wir noch nie gesehen hatten, zu Vadim und mir an den Mensatisch setzte. Der Mann sah ganz unauffällig aus, aber die Hände, mit denen er sein Tablett auf den Tisch stellte, waren riesig und verformt. Sie waren groß wie Kürbisse, die Finger viel zu breit, sie wirkten gelenklos, wie aufgepustete Papiertüten. Winzige Fingernägel waren wie ins Fleisch gedrückt. Der junge Mann aß mit etwas, das aussah wie kurzstieliges Salatbesteck, weil er eine Gabel nicht hätte halten können.

Er hatte sich neben mich gesetzt, ich saß also zwischen ihm und Vadim. Ich fragte mich auf einer Skala von eins bis zehn, wie der Mann aushielt, was die Leute dachten, ob sich auf seinen unverformten Schultern alle Versuche aller Umsitzenden stapelten, bloß nicht auf seine Hände zu starren, und all das jähe Mitleid, auch meines, all das rasch überspielte Erschrecken, auch meines. Ich schaute auf Vadims Hände, die wie immer flatterten, und dachte: Ich bin umzingelt von verrückt gewordenen Händen und umzingelt von meinen Gedanken über anderer Leute Gedanken.

Menschen mit Gedanken ausstatten

„Schmeckt ja heute ausnahmsweise ganz gut“, sagte Vadim. „Stimmt“, sagte der Mann. Ich nickte zustimmend, nach rechts zu Vadim und nach links zu dem Mann, dabei hatte ich, obwohl ich meinen Teller schon halb leer gegessen hatte, keine Ahnung, wie es schmeckte, denn es war sehr einnehmend, permanent Menschen mit Gedanken auszustatten. Ich war die einzige von uns dreien, die ihr Essen umstandslos zum Mund transportieren konnte, und gleichzeitig die einzige, die nicht wusste, wie es schmeckte, weil ich vollauf damit beschäftigt war, mögliche Gedanken in Leute hineinzustopfen.

Jetzt, an Vadims Kamin, weiß ich wieder genau, wie anstrengend das war, ständig mit diesen Mutmaßungen beschäftigt zu sein, anstatt den Leuten, wie es sich gehört, die Inneneinrichtung ihrer Köpfe gefälligst selbst zu überlassen.

„Vadim“, sage ich, und er schaut von seinem Block auf. „Kannst du dich an den Studenten erinnern, der so riesige Hände hatte?“ Vadim schaut mich an, ein bisschen erstaunt, ein bisschen belustigt. „Deine Hände zittern ja“, sagt er.

Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit vielen Wochen in den Bestseller­listen. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen ­Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2019: Die Kunst des Aufgebens