Dass ich zum inzwischen fast ganz alten Eisen gehöre, kann man am Begriff „Friseur“ festmachen. Fast unvorstellbar, wie das früher beim Friseur zuging, vor 45, 50 Jahren. Es war eine Herrenstube. Es roch nach Herren. Nach diesem Geruch, den Anzüge ausströmten, als man noch Anzüge trug, Tag für Tag, ohne viele davon zu haben. Ein fast serieller Geruch. Der Geruch der Anzüge meines Vaters ordnete sich dem der anderen unter. Alle rochen gleich. Vermischt mit dem Odeur von Rasier- und Haarwasser.
Beim Friseur,…
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rochen gleich. Vermischt mit dem Odeur von Rasier- und Haarwasser.
Beim Friseur, wie ich ihn kannte, saßen also die Herren. Frauen gab es da nicht, die saßen in anderen Salons unter dicken Hauben und lasen Zeitschriften. Die Herren dagegen rauchten und tranken Kaffee und Bier. Mein Vater nicht. Er ging nicht allzu gern dorthin, sondern aus Notwendigkeit. Er meinte, sich von der üblichen Kleinstadtgesellschaft, in die er durch die Heirat mit meiner Mutter gekommen war, doch ein wenig zu unterscheiden. Er trank kein Bier, rauchte keine Zigarren oder Zigaretten und mochte keinen Tratsch, was stets das Hauptgesprächsthema beim Friseur war. Aber hin musste er ebenso wie ich.
Ich empfand es stets als brutal, zum Friseur geschleppt zu werden. Gegen meine Haare hatte ich nichts, auch wenn sie länger wurden. Von mir selbst aus meldete ich nie den Wunsch an, die Haare geschnitten zu bekommen.
Jener erste Friseur meines Lebens hieß Latka. Er trug eine dicke Hornbrille und natürlich einen Anzug unter dem Kittel. Die Schere lag in seiner Hand wie ein medizinisches Instrument. Und blitzte ebenso mitleidslos. Mein Vater gab die Anweisung, wie ich zu schneiden wäre. Es war immer samstags vormittags. Dann kam Herr Latka über mich. Er meinte es sicherlich nicht böse, ich war für ihn reine Routine und bloßes Kundenmaterial.
Schon allein mit meinem Vater dorthin gehen zu müssen (in Wahrheit fuhren wir natürlich mit seinem Dienstwagen), war seltsam, denn sonst hatten wir den Monat über nie etwas allein miteinander zu tun.
Vorfreude
Nach Latka und den frühen Topfschnitten kam die Zeit der Freiwilligkeit. Keiner konnte mich nunmehr zwingen, zum Friseur zu gehen. Ich ließ meistens wuchern. Manchmal musste es aber doch sein, mein neuer Friseur hieß Tschenscher. Allerdings ging ich nicht zum Chef, sondern zu einer Angestellten, stets derselben.
Sie war wenig älter als ich und entsprach nicht dem sehr schlanken Mädchentypus meiner Freundin. Dennoch, sie wusch mir die Haare, schnitt, legte Hand an mich, und es war aus Gründen, die möglicherweise tatsächlich etwas mit ihrem Busen zu tun hatten, der nun über mich kam (ich hätte mir das damals niemals zugegeben), ziemlich angenehm. Ich konnte mich, im Gegensatz zu den Aufenthalten bei Herrn Latka, geradezu darauf freuen.
Das wurde mir aber auch irgendwann zu blöd, und ich begann zum Friseur Juncker zu gehen. Wieso eigentlich gerade zu Juncker? Weil er stadtbekannt war? Weil da alle hingingen? Man sah und wurde gesehen bei Juncker. Ich fühlte mich stets ironisch dabei, und statt eines schönen Busens frisierte mich jetzt der Minipli-Chef mit Raucherstimme, eine wahre Anfang-achtziger-Jahre-Gestalt, eine Art Wetterauer Ion Tiriac. Ich war nun siebzehn oder achtzehn. Bier wurde inzwischen nicht mehr getrunken, und statt Anzügen trug der Chef Hawaiihemden.
Vom Chef zum Sohn
Studium, Frankfurt: Ich will vorwegnehmen, es kommt nun schon meine letzte Friseurstation: Herrensalon Grassl in Bockenheim. Der Salon lag in Uninähe. Vor 32 Jahren ging ich zum ersten Mal zu meinem bislang letzten Friseur. Zu dem ich bis heute gehe. Aber der Reihe nach!
Die ersten Jahre schnitt mich der Salongründer Josef, ein schlanker, nicht allzu großer, blonder Mann, stets aufrecht, verbindlich, aber doch mit einem kleinen Hang zum Salopp-Anarchischen. Optisch irgendwo zwischen dem Frankfurter Fußball-Idol Jürgen Grabowski und Don Quijote. Der Laden brummte, es gab drei Friseurstühle, links arbeitete ein Herr Nemetz, dann kam der Chef, rechts war der Sohn des Chefs zugange. Man wartete manchmal eine halbe Stunde. Herr Grassl und ich unterhielten uns moderat. Der Altersunterschied war groß. Nach ein paar Jahren und mit ziemlichen Rückenschmerzen setzte sich der Seniorchef zur Ruhe, ich rückte nach links zu Herrn Nemetz.
Nemetz freute sich stets, wenn er mich sah, mir ging das umgekehrt auch so. Wir waren vielleicht zehn Jahre auseinander. Er hatte einen gewaltigen Schnauz, schwarze Haare und eine absolute Föhnfrisur. Dass ich Student war, fand er interessant. Ein Motorradunfall richtete ihn dann einigermaßen zugrunde. Sein Stuhl blieb leer, und ich rückte nun unter die Schere des Sohns, der seit einigen Jahren Chef und optisch eine etwas größere Ausgabe seines Vaters war.
Aus purer Gewohnheit
Der Laden leerte sich. Früher hatten manchmal bis zu zehn Leute herumgesessen. Neue Zeiten waren über uns gekommen. Überall sprossen Friseurläden hervor. Selbst meine Freunde liefen inzwischen ins Bahnhofsviertel zu den Billigläden und lieferten sich dort ans Messer beziehungsweise an die Schere. Wann hatte ich den letzten Anzug gerochen? Wann war das erste Mobiltelefon unter den Wartenden erschienen? Bei Latka war es noch zugegangen wie in einer Spelunke, eng auf eng, sozusagen alles in Spucknähe. Wenn ich mal eine Folge Derrick aus den frühen Siebzigern sah, kamen mir fast schon wehmütige Erinnerungen.
Robert, der Sohn, hat seinen Laden längst dichtgemacht, mit 59 privatisiert, aufs Land gezogen. Und ich? Ich fahre nun jedes Mal 35 Kilometer mit der Bahn zu ihm hin. Und dann noch drei Kilometer mit dem Fahrrad übers Feld. Wegen der Qualität? Nein, aus purer Gewohnheit und Nicht-aufgeben-Wollen. Meine Frisur war nie etwas Besonderes, seit ewigen Zeiten, bei Latka wie bei Robert. „Das kannst du in Frankfurt aber einfacher haben“, hieß es bei meiner letzten Rückkehr aus der Pampa (es hatte auch noch in Strömen geregnet).
Die Latka-Spelunken-Samstage hat das Kind gehasst, der alt gewordene Kunde reist seinem Friseur sogar hinterher. Wir sitzen dann allein unten im Keller in einer halbdunklen Ecke, reduziert auf uns beide, abgeschieden von der Welt, hinter uns Bierstiegen und Gartenmaschinen. Fast wie ein letztes Bild.
Dazu leichter Geruch von gemähtem Gras.
Andreas Maier ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Auf elf Bände hat er seinen Zyklus „Ortsumgehung“ angelegt, 2021 ist der achte Band mit dem Titel Die Städte erschienen (Suhrkamp). In Psychologie Heute erdichtet er an dieser Stelle jeden Monat das Blaue vom Himmel