PSYCHOLOGIE HEUTE Frau Pehnt, sind Sie lieber Mutter oder Tochter?
Annette PEHNT Ich bin lieber Mutter. Ich finde es einfacher, Mutter zu sein. Das ist aktiver. Als Tochter muss ich den Ball aufnehmen, der mir zugespielt wird. Tochter sein ist eher so … ein Ringen.
PH Frauen sind heute frei, die Mutterrolle zu wählen. Die Generation der in Ihrem Buch beschriebenen Großmutter, auch der Mutter der Erzählerin hatte diese Möglichkeit noch nicht.
PEHNT Das ist richtig. Wir können uns heute mehr oder weniger ein…
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hatte diese Möglichkeit noch nicht.
PEHNT Das ist richtig. Wir können uns heute mehr oder weniger ein Lebenskonzept aussuchen, in das die Mutterrolle hineinpasst. Ich wollte immer Mutter sein und Töchter haben. Und so kam es dann auch, ich habe drei Töchter. Die Mutter der Erzählerin in meinem Buch, Annie, in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine junge Frau, möchte eigentlich keine Kinder, wird dann aber durch die gesellschaftlichen Erwartungen in die Mutterrolle hineingedrängt.
PH Was hat Sie an dem dynamitgeladenen Mutter-Tochter-Thema gereizt?
PEHNT Ich bin eigentlich keine Autorin, die sehr biografisch arbeitet, aber in diesem Fall setzt das Buch das Gespräch mit meiner Mutter fort, das abgerissen ist, weil sie – nicht sehr alt – gestorben ist. Zu ihren Lebzeiten hat ein solches großes Gespräch zwischen uns nicht stattgefunden. Ich wollte das zwar, dachte aber immer, ich hätte noch ewig Zeit. Und dann war sie plötzlich weg. Da wurde mir klar, das Gespräch muss ich trotzdem führen, es gibt keinen Weg daran vorbei.
PH Damit ist die Frage nach dem autobiografischen Aspekt schon beantwortet.
PEHNT Eigentlich ist diese Frage nicht wichtig, weil das Buch für sich selbst steht. Aber es gibt auch keinen Grund zu verstecken, dass es hier um eine eigene Auseinandersetzung geht. Allzu öffentlich mache ich natürlich intime Aspekte nicht, schon aus Respekt vor meinen Eltern. Diese Auseinandersetzung ist jetzt vielleicht noch nicht ganz abgeschlossen, aber die Dringlichkeit hat sich gelegt.
PH Weil Sie eine Form dafür gefunden haben?
PEHNT Ja. Die Formgebung ist das Wesentliche. Ich habe versucht, eine bestimmte literarische Form zu erreichen, und dabei hatte die Form selbst auch wieder Einfluss auf meinen Blick auf den Stoff. Die intensive formale Arbeit, die den Dingen Gestalt gibt, macht sie begreifbarer. Es stellt sich ein neues Verstehen ein, auch eine Art distanzierteres Verstehen. Ich war sozusagen die Komponistin und habe das eigene Material neu arrangiert. Indem man etwas möglichst genau in Worte fasst, wird es klarer, weniger diffus und dadurch auch weniger bedrohlich und beängstigend.
PH Wie sind Sie darauf gekommen, die Geschichte auf drei Generationen anzulegen? Was sich daraus an Erkenntnis ergibt, ist für mich fast der größte Gewinn bei der Lektüre gewesen.
PEHNT Zum einen war es wieder der biografische Blick. Meine Großmutter war eine sehr präsente Erscheinung, voluminös in jedem Sinne. Zum andern war mir intuitiv immer klar, dass sich solche Beziehungen wie die Mutter-Tochter-Beziehung nicht auf eine Generation begrenzen, sondern sich nach unten und oben weiter fortsetzen. Das ist theoretisch banal, war aber in meinem Leben sehr sichtbar – wie die Frauen in unserer Familie aufeinander reagierten, wie sie aufeinander eingespielt waren. Das konnte ich sogar körperlich spüren. Es geht ja immer auch um diese Übersetzungsprozesse von der einen Generation in die nächste, die sich oft nonverbal abspielen. Für mich ist Geschichtlichkeit ein sehr körperliches Gefühl. Ich spüre regelrecht körperlich, dass ich immer vernetzt bin, im Leben wie im Schreiben, verbunden mit denen, die mir vorausgingen. Es ist gar nicht so sehr ein Blick „nach hinten“ – was vergangen ist, ist immer gegenwärtig, ob das nun Familie ist oder die Kultur.
PH Annie, die Mutter der Ich-Erzählerin, die mittlere Generation, ist der Angelpunkt der Erzählung. Sie zeigen an dieser Figur, dass jede Mutter auch eine Tochter ist und dass man die eigene Mutter nur begreifen kann, wenn man sie auch als Tochter sieht. War Ihnen das von Anfang an klar?
PEHNT Nicht ganz. Angefangen habe ich mit den Monologen der Ich-Erzählerin – sicherlich aus der biografischen Situation heraus –, die an ihre Mutter hinredet, die nicht mehr antwortet. Von dieser Art Text habe ich zuerst ganz viel gehabt und noch gar nichts von der Dimension der anderen Generation. Aber mit der Zeit kam mir diese Erzählerstimme, die ja nah an meiner eigenen ist, so einseitig, verletzt, anklagend und fordernd vor, dass ich plötzlich dachte, das ist ungenügend und ungerecht, das kann ich meiner Mutterfigur nicht antun. Ich habe mich selbst in meiner anklagenden Haltung ertappt. Nach dieser Einsicht wollte ich biografische und poetische Gerechtigkeit walten lassen, Annie sollte noch auf andere Weise in den Blick kommen. Und das hieß, die Großmutter mit hineinzunehmen. Daraufhin habe ich begonnen, die anderen Passagen einzufügen, in denen ich mehr erfinden musste, weil ich nicht so viel darüber wusste.
PH Hat sich Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter im Laufe des Schreibprozesses verändert?
PEHNT Ja. Absolut. Annie ist mir nähergerückt. Und die Erzählerin fand ich zunehmend penetrant, die konnte ich immer schlechter ertragen. Ich habe viel mehr Verständnis für Annies Lebensstrategie, die Distanzierung entwickelt. Im Lauf des Schreibens habe ich angefangen, Annie ein bisschen zu bewundern. Ich dachte, Mensch, das müsste meine Mutter jetzt mal lesen! Aber natürlich hätte ich das Buch wahrscheinlich gar nicht geschrieben, wenn sie noch da wäre.
PH Sie zeichnen in Chronik der Nähe auch ein Stück Gesellschaftsentwicklung nach. Die Großmutter hat viel weniger Möglichkeiten der Selbstentfaltung als Annie und diese wiederum weniger als die Erzählerin. Trotz der linearen Entwicklung hin zu mehr Freiheit scheint es mir, als habe Annie es in der Reihe am schwersten. Die Großmutter hat viele Möglichkeiten, sich von Gewissensbissen zu entschulden. Es war Krieg, dann frühe Nachkriegszeit, sie musste schließlich das nackte Überleben sichern – da kann man sich nicht immerzu mit seinem Kind und dessen Ängsten befassen.
PEHNT Ja, die Anarchie solcher Zeiten gab den Frauen eine gewisse Freiheit. Ich deute das an, wenn ich beschreibe, wie die Großmutter recht angeregt vom „Organisieren“ zurückkommt. Sie kann aber jederzeit zu Annie sagen, das tue ich alles nur für dich. Diese Frauen hatten schon fast einen unantastbaren Bonus, sie haben ja wirklich unglaublich viel geleistet.
PH Die erwachsene Annie lebt in geordneten, friedlichen Verhältnissen. Sie kann sich ganz um ihr Kind kümmern, es gibt keinen Grund, sich zu entfernen, mal weg zu sein. Dafür distanziert sie sich auf andere Weise.
PEHNT Ich wollte, dass Annie so etwas wie die zurückgezogene Mitte ist, auf die von allen Seiten her Wünsche und Forderungen eindringen. Sie muss sich ständig rechtfertigen gegenüber den Forderungen der Mutter und der Tochter, während sie selbst schon physisch nicht richtig greifbar ist. Was soll sie auch machen? Entweder sie wird von den Wünschen der anderen zerrissen, oder sie macht sich ganz dünn, und das ist ja dann auch ihre Strategie.
PH Das scheint mir sinnbildlich für Frauen in einem bestimmten Lebensalter zu sein, wenn nämlich die alten Eltern die Tochter immer mehr brauchen, während die Kinder auch noch auf sie angewiesen sind. Da bleibt etwas auf der Strecke. Frausein und Muttersein decken sich ja nie ganz.
PEHNT Frausein und Muttersein decken sich sicher nicht, und das Buch sortiert ganz bewusst das Frausein aus, indem die Männer nur als Randfiguren auftreten. Sonst wäre ein ganz anderes Buch entstanden.
PH Was ist das Besondere an der Mutter-Tochter-Beziehung im Vergleich zur Mutter-Sohn-Beziehung?
PEHNT Ich kenne die Mutter-Sohn-Beziehung nur aus der Lektüre. Aber wenn Töchter schauen wollen, wie man leben kann, dann schauen sie wohl auf die Mutter, auf die Frauen in der Familie. Die Blicke der Töchter sind auf die Mutter geheftet, die der Söhne, wenn es um Vorbilder der eigenen Lebensgestaltung geht, vielleicht weniger. Und Mutter und Tochter sind sich natürlich auch körperlich nah, als das gleiche Geschlecht. Gerade im Heranwachsen schauen die Töchter ja hin: Was ist die Mutter für eine Frau, wie geht sie mit ihrem Körper um, wie stellt sie sich nach außen dar … und wie mache ich das?
PH Die Mutter ihrerseits sieht in der Tochter sich selbst noch einmal als junge Frau. Die Spiegelung ist stärker.
PEHNT Da mischen sich durchaus auch leichte Neidgefühle hinein. Die eigene Tochter ist so blutjung, so wunderhübsch und hat alle Möglichkeiten vor sich. Die Wünsche für die Tochter verstricken sich leicht mit eigenen nicht verwirklichten Erwartungen. Der Neid geht bis in die Äußerlichkeiten. Wenn Mutter und Tochter nebeneinander hergehen, werden die Blicke hin- und herfliegen, und es ist ja klar, wer besser abschneidet. Natürlich gönnt man der Tochter das Beste, aber man nimmt sich für einen Moment gespiegelt im Schatten der strahlenden Tochter wahr und denkt, Mensch, ja, das ist jetzt bei mir auch nicht mehr so doll. Das war schon mal anders.
Ambivalenz ist sicher der absolute Überbegriff für alles, was wir hier besprechen. Jede Mutter wünscht sich ja eine hübsche Tochter, die glücklich und erfolgreich ist. Gleichzeitig wird man selbst aufgewertet durch die hübsche Tochter. Aber daneben gibt es eben auch die Neidgefühle.
PH Sind Mutter-Tochter-Beziehungen immer und von beiden Seiten her ambivalent?
PEHNT Leserinnen haben mir von Mutter-Beziehungen erzählt, die ganz von Güte und Zuneigung geprägt waren, einem selbstverständlichen Geben und Nehmen. Ich selbst, muss ich sagen, kenne nichts Nichtambivalentes. Ich wüsste gern, wie sich das anfühlt, aber ich kenne es nicht. Und bei Menschen, die sich so nah sind, wo so viele Bedürfnisse im Spiel sind, ist es doch gar nicht möglich, dass diese Bedürfnisse immer ein Gegenüber finden. Defizite, Mangelerfahrungen kommen doch schon dadurch ins Spiel, dass man ständig aufeinander gerichtet ist, es aber keine ständige Synchronizität geben kann.
Das Ungleichgewicht geht aber in beide Richtungen, nicht nur in eine. Die Töchter sind ja nicht nur Opfer. Sie wissen genau, wie sie ihre Waffen einsetzen können. Die Ich-Erzählerin hat sich ganz speziell schlimme Waffen zurechtgelegt, zum Beispiel die intellektuelle Arroganz der Mutter gegenüber. Da gibt es ein wissentliches und gewolltes Einsetzen der schärfsten Geschütze!
PH Ja, schlussendlich kämpfen Mütter und Töchter – zumindest, wenn sie erwachsen sind – mit gleich langen Spießen. Weil beide den gleichen Tanz zwischen Sehnsucht nach verschmelzender Nähe und Notwendigkeit zur Abgrenzung vollführen müssen. Auch die Mutter sehnt sich nach Verschmelzung mit der Tochter zurück und gleichzeitig nach Abgrenzung.
PEHNT Die Bedürfnisse sind letztlich gleich, aber die Sprachen sind vielleicht unterschiedlich. Was für die eine Nähe bedeutet, muss für die andere nicht unbedingt das Gleiche ausdrücken. Die Nähewünsche können sehr unterschiedlich codiert sein. Die Bedürfnisse treffen erstens nicht zeitgleich und zweitens nicht in derselben Sprache aufeinander. Annie hat in meinem Buch am wenigsten Macht, finde ich.
PH Sie fühlt sich ja auch ohnmächtig ihrem neugeborenen Kind gegenüber, das sie durch sein ewiges Schreien in der Nacht „foltert“.
PEHNT Andererseits hat Annie doch auch wieder Macht in den Szenen, wo sie die Mutter durch den Satz „Aber ich hab ich doch lieb“ vor dem Sterben retten muss (das die Mutter inszeniert), denn nur sie kann die „Rettung“ bewerkstelligen. Wenn sie sich verweigern würde – aber darauf kommt sie natürlich nicht, weil sie als Kind vom vermeintlichen Sterben der Mutter unendlich bedroht ist –, wäre sie der mächtigste Mensch auf der Welt. Und man sieht hier die verkapselte Bedürftigkeit der Oma.
PH Die Töchter in Ihrem Buch werben sehr um die Mütter.
PEHNT Das ist vielleicht eine spezifische Geschichte. Es gibt ja auch Töchter, die sich trotzig und rebellisch von ihren Müttern abwenden. Aber diese Töchter hier bleiben am Ball. Das macht auch ihre Penetranz aus. Die brauchen und wollen so unbedingt Nähe, dass sie nicht lockerlassen und nicht warten, bis sie ihnen geschenkt wird, denn das können sie nicht. Es ist fast wie eine Partnerwerbung, bis hin zum körperlichen Umgarnen.
Ich habe das beim Schreiben selbst als immer unerträglicher empfunden, und als Muster kenne ich das durchaus: nicht ertragen zu können, dass ich jetzt einen Blick nicht kriege. Das ist unerträglich, und man muss es noch mal und noch mal versuchen und im Werben immer besser werden. Als ob man die Mutter zur Geliebten machen wollte. Das ist unglaublich, aber ich denke, das sind Mechanismen, die zu den Machtspielen gehören.
PH Und das Ganze wird angefeuert dadurch, dass die Mutter das Umworbenwerden genauso braucht wie die Tochter das Gesehenwerden.
PEHNT Die Tochter kann den bewussten Satz auch mal eine Weile lang nicht sagen. Sie weiß zwar, es ist unentrinnbar, irgendwann wird sie ihn sagen müssen, aber sie kann es herauszögern, die Mutter quälen. Eigentlich ein Wahnsinn, dass nicht gesagte Wörter zu so etwas imstande sind. Das ist wieder dieser magische Wortglaube. Etwas muss genauso gesagt werden, immer auf die gleiche Weise, von allen Töchtern. Und wenn man den Satz nicht genauso über die Lippen bringt, wird man bestraft. Da ist immer die Höchststrafe ausgesetzt.
PH Die Mutter spielt aber nicht nur ihre Macht der Tochter gegenüber aus. Sie braucht die Bestätigung, von der Tochter geliebt zu werden, tatsächlich, weil sie sonst Schuldgefühle haben muss, dass sie nicht alles für ihr Kind tut, dass sie es als Mutter nicht richtig macht, nämlich so, dass das Kind sie lieben kann.
PEHNT Auch darüber, dass sie beide das Gleiche brauchen, sind Mutter und Tochter sich nahe. Die Mutter will es ja richtig machen und die Tochter auch. Es gibt Momente gelingender gegenseitiger Nähe, aber oft gerade dann, wenn sie mal den Mund halten. Aber immer kommt diese Wortbesessenheit dazwischen.
PH Vielleicht wollen wir Töchter grundsätzlich zu viel von unseren Müttern?
PEHNT Ich bin im Laufe des Schreibens dazu gekommen, das zu glauben: Ich wollte zu viel von meiner Mutter. Vielleicht geht das vielen anderen Frauen auch so, dass sie über ihrem Wollen den Blick auf die Mutter vergessen und die Bedürfnisse der Mutter nicht respektvoll genug einschätzen. Aber die Töchter meiner Generation wollen von den Müttern ja irgendwie alles: Freiraum, Nähe, bloß nicht zu viel Kontrolle, aber die Mutter soll immer für sie da sein, Freundin und trotzdem noch Mutter sein, fürsorglich, aber auch emanzipiert. Und dann werden sie noch Gegenstand in der Therapie und müssen sich von den Töchtern be- und hinterfragen lassen. Manche Menschen und Mütter wollen oder können sich aber nicht so preisgeben und brauchen einfach eine gewisse Distanz. Vielleicht kann man auch mal was einfach so stehenlassen, wie es ist, und sich beruhigen. Ich selbst bin ein Mensch, der immer viel will, ob das nun die Mutter ist oder die Männer oder sonst Menschen, das ist nun mal meine Machart. Wer bei mir Mutter ist, hat es auch erst recht noch mal schwer.
PH Glauben Sie, dass Mütter und Töchter Freundinnen sein können oder sollten?
PEHNT Nein. Ich mag das Modell nicht. Ich kenne und verstehe zwar den Wunsch danach, ich möchte aber mein Lebensalter und meine Stellung in der Familie nicht verleugnen. Es gibt Momente, wo ich etwas anderes wollen muss als meine Töchter, und darauf muss ich beharren können. Das könnte ich als Freundin nicht, das gäbe ein Rollengemenge. Ich bin eben die Mutter. Die Freundinnen sucht man sich selbst aus, die Mutter nicht. Ich kann meinen Töchtern ja nicht eine Freundschaft verordnen, in die sie hineingeboren sind. Das widerspricht dem Prinzip der Freundschaft. Von einer Freundschaft muss man sich auch abwenden können.
PH Ich möchte noch einmal darauf kommen, was sich – meist nonverbal – von einer Generation auf die andere überträgt. Annie durchleidet als Kind im Krieg heftige Ängste, die sie nicht zeigen darf, weil die Großmutter genug damit zu tun hat, das Überleben zu sichern. Ihre Tochter, die Ich-Erzählerin, wächst behütet auf, ist aber so ängstlich, dass sie zum Kindertherapeuten muss – wo sie die beruhigende Kraft des Erzählens entdeckt. Sie kann die fantasierten Gefahren meistern, weil sie als Autorin die Handlung bestimmt.
PEHNT Ich bin dem Phänomen solcher transgenerationellen Prozesse wirklich am eigenen Leib nachgegangen. Ich hatte als Kind massive körperliche Angstsymptome, für die es keine Erklärungen gab. Plötzlich erschien es mir einleuchtend: Das ist gar nicht meine eigene Angst, und trotzdem ist sie mir körperlich eingeschrieben. Ich habe dann an meiner Mutter beobachtet, wie sie zum Beispiel bei Filmdokumentationen über den Zweiten Weltkrieg erstarrte. Die Bilder waren ganz schwer für sie auszuhalten. Es wurde aber nie darüber gesprochen. Das ist wie ein unterirdisches Tunnelsystem, wo ab und zu mal eine Fontäne rauskommt. Bei der Mutter durfte es nicht rauskommen, aber bei der Tochter kam es raus, allerdings als breit gestreute diffuse Angst. Irgendwo im Buch heißt es: Seit ich sprechen kann, spreche ich von Angst.
PH Gibt es bei Töchtern so etwas wie ein versetztes Verstehen? Dass man beim schrittweisen Älterwerden jeweils besser versteht, wie es damals im gleichen Alter der eigenen Mutter ging?
PEHNT Ja, und das ist dann fast schon tragisch. Wenn sich das Verstehen auf einer Lebensstufe einstellt, ist diese Stufe bei der Mutter ja schon wieder vorbei. Immerhin könnten die Töchter ihren Müttern sagen: Jetzt verstehe ich dich besser, was dies und jenes angeht. Das wäre immerhin schon ein großes Gelingen. Das sollte man viel öfter und spontaner tun. Ist doch eigentlich gar nicht so schwer.
PH Frauen berichten oft davon, dass die letzte Lebensphase ihrer Mutter – im Altersheim und selbst bei Demenz – zu einer Zeit der Versöhnung mit der Mutter wird, wobei das nicht verbal geschieht, sondern durch das schlichte Beisammensein. Etwas davon vollzieht sich auch in Ihrem Buch.
PEHNT Ja, das Buch vollzieht diesen Prozess, indem es geschrieben worden ist. Und es will die Geschichte auch so erzählen, es hat den Willen zur Versöhnlichkeit, zur Abrundung. Wir alle haben das Bedürfnis, Geschichten gut zu Ende zu bringen. Wir wollen nicht im Unfrieden für immer auseinandergehen, das Buch will das nicht, und ich will es auch nicht. Dieses Bedürfnis ist ja legitim.
PH Sie haben im Buch ein sehr schönes Ende gefunden mit der Tochter, die den blauen Mantel der verstorbenen Mutter weitertragen wird.
PEHNT Ein Ende, das eigentlich eine Fortsetzung ist.
PH Trotzdem findet die Tochter am Ende aber einen gewissen abschließenden Frieden. Weil die Mutter, die das ganze Buch hindurch schweigt, am Ende doch noch einmal spricht und ihr damit sozusagen den Segen gibt.
PEHNT Nein. Sie sagt nichts.
PH Sie sagt: „Wir gehen dann in die Stadt und kaufen dir einen neuen Mantel, einen schönen.“
PEHNT (schaut im Buch nach): Tatsächlich. Das habe ich ganz vergessen. Sie sagt diesen Satz! Ich hab vergessen, dass ich sie noch einmal sprechen lasse!
Wobei der Mantel, den sie tragen wird, der geerbte ist. Bei diesem Bild stand mir zweierlei vor Augen. Einerseits liegt darin eine schöne Fortsetzung, andererseits ist die Erzählerin aber doch wieder und immer noch umklammert von diesem Muttermantel. Man könnte ja auch mal den alten Mantel wegschmeißen.
PH Eigentlich erlaubt die Mutter das. Sie entlässt mit ihrem Satz die Tochter ja in ihr eigenes Leben. Sie sagt nicht, „du kriegst dann meinen Mantel“, sondern „wir kaufen dir einen neuen Mantel …“, einen neuen eigenen, der der Tochter gefällt und zu ihr passt.
PEHNT Ja, sie lässt sie eigentlich frei. Na so was! Ich habe sozusagen die Erlösung meines eigenen Buches wieder vergessen! Das kommt wohl daher, dass ich persönlich sprachskeptisch bin. Ich glaube, dass die Sprache schlussendlich überschätzt wird. Obwohl es mein Metier ist, glaube ich nicht so recht an die erlösende Kraft des Wortes. Das andere Ende wäre für mich typischer gewesen, aber geschrieben habe ich es so, wie es da steht. Dass ich den beiden das geschenkt habe, freut mich jetzt aber …
PH Zum Abschluss: Ahnen Sie schon, was Ihre Töchter Ihnen einmal vorhalten könnten?
Pehnt Ich habe so viele Töchter, da wird bestimmt was kommen. Aber ich gebe mir Mühe, nicht in all diese Fallen zu tappen … vielleicht ist es dann mal gerade das. Ich bin so gern Mutter, dass ich das Gefühl habe, deshalb läuft es auch gut. Und da haben die sich auch gefälligst nicht zu beschweren. Aber das wird sich dann herausstellen. Bisher fühlt es sich richtig an. Bisher. Aber wer weiß.
Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, studierte Anglistik, Keltologie und Germanistik an den Universitäten in Köln, Galway, Berkeley und Freiburg im Breisgau. Ihr Studium schloss sie 1994 mit dem Magistergrad und dem ersten Staatsexamen ab; 1997 folgte die Promotion an der Universität Freiburg mit einer Arbeit zur irischen Literatur. Seit 1992 lebt Annette Pehnt, die verheiratet und Mutter von drei Kindern ist, als Schriftstellerin in Freiburg im Breisgau; sie lehrt seit 2007 auch an der dortigen Pädagogischen Hochschule. Annette Pehnt wurde für ihr schriftstellerisches Werk vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Thaddäus-Troll-Preis und dem Italo-Svevo-Preis.