Einzelgericht: Von den Mahlzeiten als Single

Nur für mich kochen, den Tisch decken – lohnt der Aufwand? Mahlzeiten zu zelebrieren, ist gerade für Singles ein Akt der Selbstfürsorge.

Die Illustration zeigt einen Mann, der allein an einem Esstisch sitzt und allein sein Essen und Getränk genießt.
Gesellschaft oder eine Beschäftigung beim Essen? Das muss nicht unbedingt sein. Ein Gericht nur für sich allein hat auch was. © Ralf Nietmann für Psychologie Heute

Die in warmes Licht getauchte Großfamilie beim Weihnachtsessen, die fröhliche Freundesschar an der langen Tafel auf sonnenbeschienener Wiese – Klischees aus Werbung und Filmen prägen unsere Vorstellungen von einer gelungenen Mahlzeit, obwohl solche großen oder kleinen Tischrunden in Wirklichkeit selten geworden sind.

Die gesellschaftlichen Strukturen, zu denen ein fester Familientagesablauf mit regelmäßigen Mehrgenerationenmahlzeiten gehörte, lösen sich auf oder sind bereits Vergangenheit. Das Leben im…

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auf oder sind bereits Vergangenheit. Das Leben im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts folgt anderen Gesetzen, erlegt uns andere Beschränkungen auf, weckt andere Bedürfnisse und eröffnet neue Freiheiten. War es früher verpönt, zwischen den drei Hauptmahlzeiten zu essen (eine akzeptierte Ausnahme war das Kuchenstück zum Nachmittagskaffee), orientiert sich die Nahrungsaufnahme nun am Tagesablauf und den anstehenden Aufgaben. Mit den Worten der Trendforscherin Hanni Rützler: „Das Essverhalten passt sich dem Rhythmus unseres Arbeitsalltags an. Schneller, flexibler, mobiler.“

Selbst Familien essen oft getrennt

Auch Familienmitglieder essen, oft in Eile, zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten: der Kaffee to go im Auto oder der U-Bahn, das Mittagessen in der Schulmensa, mit Kolleginnen in der Kantine, im Restaurant, an der Imbissbude. Andere essen allein am Arbeitsplatz ein belegtes Brötchen vom Metzger, Wraps, Sushi, fertige Salatmischungen und Joghurts aus dem Supermarkt, übergießen Fertiggerichte in Plastikbechern mit heißem Wasser. Oder sie essen zwischendurch und über den Tag verteilt kleinere Portionen – dieser Trend heißt snackification.

Familien treffen sich am ehesten abends zum Essen, was allerdings an schwierig zu koordinierenden Tagesabläufen oder Ernährungspräferenzen scheitern kann. Denn es ist nicht nur die Snackification unserer Mahlzeiten im Gange, sondern unseres Lebens: Etwa ein Drittel der Deutschen verzichtet völlig auf regelmäßige Mahlzeiten, nicht einmal die Hälfte isst noch täglich warm.

Parallel dazu ist Alleinessen in rasendem Tempo zu einem wichtigen Aspekt des modernen Lebens geworden, vielleicht kann man sogar sagen: Es ist bereits die neue Norm. Im Jahr 2019 nahm nur jede und jeder zweite Deutsche werktags das Mittagessen in Gesellschaft ein, fast jede dritte Person aß immer allein. Über 40 Prozent aller deutschen Haushalte sind Einpersonenhaushalte, in Großstädten übersteigt die Zahl 50 Prozent.

17 Millionen Menschen leben allein, das ist fast ein Fünftel der Bevölkerung, die größte Gruppe bilden Männer zwischen 25 und 45. Seit 1996 ist die Zahl der allein lebenden Frauen um 15,6, die der Männer um 63,5 (!) Prozent gestiegen. Zu den traditionellen Gründen für das Alleinleben – ledig, verwitwet, geschieden oder getrennt lebend – sind neue hinzugekommen: Der Wohlstand, die Lebenserwartung und das Alter bei Heirat und Familiengründung sind gestiegen, Unverheiratetsein und Alleinleben als gewählte Lebensform haben eine größere gesellschaftliche Akzeptanz.

Trend geht zum Solo-Dinner

Auch Menschen, die nicht allein leben, essen häufiger allein, und wer allein lebt, isst selbstverständlich nicht zwingend allein. Aber es gehört zur Lebensrealität der meisten, das zumindest gelegentlich zu tun. Auch zum Singlehaushalt gibt es mediale Klischeebilder: der Kühlschrank mit nichts als einer alten Tüte Milch, die einsame Pyjamagestalt im blau flackernden TV-Licht, auf dem Schoß einen Pizzakarton. Ob und wie oft solche Stereotype die Wahrheit abbilden, ist schwer zu sagen. Für manche Alleinlebende ist es ein Akt der Selbstfürsorge, regelmäßig oder wenigstens hin und wieder für sich zu kochen und an einem gedeckten Tisch zu essen. Doch wer das tut, hört oft die verblüffte Frage: „So viel Aufwand nur für dich allein?“

Ein Aufwand, den viele scheuen. Vermutlich wird darüber, was man wo und wie allein und hinter verschlossenen Türen isst, oft geschwindelt. Die Behauptung, man habe am Vorabend schnell „einen kleinen Salat“, „ein bisschen Lachs mit Reis“ oder „Risotto mit grünem Spargel“ zubereitet, klingt glaubhaft und erheblich würdevoller als kalte Ravioli aus der Dose oder eine beim Seriengucken ausgelöffelte Familienpackung Eiscreme.

Man is(s)t unbeobachtet, stehend in der Küche, am Schreibtisch, auf dem Sofa oder im Bett. Das geht am besten mit Gerichten, für die man wenig Geschirr braucht und die man aus der Hand oder nur mit Gabel oder Löffel essen kann, denn sobald etwas mit dem Messer zerkleinert werden muss, sitzt man besser am Tisch. Dabei muss man niemanden beeindrucken, das Essen in den eigenen vier Wänden ist keine Veranstaltung zum Imagemanagement.

Es geht vor allem um Sättigung, manchmal merkt man kaum, was man zu sich nimmt. Genussvolles und entschleunigtes Essen bleibt (wie auch Tischmanieren und Gesprächsbemühungen) den Mahlzeiten mit anderen vorbehalten.

Privat allein, öffentlich allein

Convenience-Food – verzehrfertige Produkte, die höchstens noch aufgetaut oder erwärmt werden müssen – ist ein boomender, ja explodierender Markt. Wer oft dazu greift, weiß zwar, dass sie oder er sich falsch ernährt, sagt aber, „es sei eine Ausnahmesituation und dass es eigentlich nicht zählt. Man isst immer in Ausnahmesituationen – die Normalität sei eine andere. Aber in der Hektik des Alltags funktioniert das nicht“, so der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder. Eine (Horror-)Vision früherer Jahrzehnte, wie wir uns künftig ernähren werden, erfüllt sich übrigens nicht: Selbst die Kochunwilligsten liebäugeln nicht damit, sich nur mit Pillen und Pülverchen zu ernähren.

Es ist eine verbreitete Meinung, dass Jugendliche und jüngere Erwachsene beim Alleinessen auch (oder vor allem) anderes tun: E-Mails beantworten, Games spielen, Filme und Serien gucken, mit ihrem Smartphone rumdaddeln. Doch es ist selten die Rede davon, dass die meisten Soloesser ältere Menschen über 65 Jahre sind, von denen viele täglich eine oder mehrere Mahlzeiten vor dem laufenden Fernseher einnehmen.

Studien belegen zwar, dass Versuchspersonen, die sich beim Essen durch Fernseher, Handy, Computer, eine Zeitung oder das vielgepriesene Buch medial ablenken, mehr Kalorien zu sich nehmen und dadurch eher an Gewicht zulegen – viele ältere Alleinessende aber nehmen ab. Sie sitzen lustlos vor ihrem Teller, weil sie sich einsam fühlen und lieber mit anderen essen würden.

Es ist also ein folgenreicher Unterschied, ob man allein essen muss oder will. Jüngere, vor allem die um die Jahrtausendwende geborenen Millennials, essen nicht nur häufig allein, sie tun es – ob zu Hause oder im Restaurant – auch gern. Es ist ihre Wahl und somit die Umkehrung der alten Vorstellung, wonach jemand, der nicht in Gesellschaft isst, einsam und bedauernswert sei. Man erspare sich Verzögerungen durch rituelle Menüabläufe und Rücksichten auf andere, sagen sie, man könne die Zeit der Mahlzeit nutzen, sinnvoll nutzen, um sich ungestört den Mails, sozialen Medien, Nachrichten oder einer anderen Lektüre zu widmen.

Macht es also Spaß, allein zu essen? „Was heißt schon allein?“, fragt Trendforscherin Hanni Rützler. „Jetzt teilt man das Essen durch die Fotos und kommuniziert mit seinem Netzwerk, während man isst. Man sieht, was die anderen machen und was sie essen. Man kaut nicht lustlos beim Essen, sondern teilt das Thema.“

Kein Gedeck für die Harmonie am Esstisch

Eine solche Mahlzeit kann also die völlige Aufhebung jeder Arbeitspause sein, wenn in einem Leben Privates und Berufliches immer stärker ineinanderfließen – oder aber eine kostbare, störungsfreie Zeit des Durchatmens. Es gibt keine Erwartungen eines Gegenübers an Zuwendung und Tischgespräche, man kann selbst entscheiden, was man essen will (und was nicht), und sich besser auf das Gericht konzentrieren. Frauen sind oft froh, sich nicht um die Essenszubereitung und die Wünsche ihrer Angehörigen kümmern zu müssen. Denn entgegen dem Klischee tut Essen in Gesellschaft der Seele keineswegs immer gut.

Das vielbeschworene Ideal der um den Esstisch versammelten Familie unterschlägt, dass es ein Zwang sein kann, nicht allein essen zu dürfen oder zu können, dass am Familientisch auch enorm viel Druck und Kontrolle ausgeübt wird. Es ist kein Zufall, dass zahllose Spiel- und Fernsehfilme ihre Geschichten sehr gruppendynamisch an den Esstisch verlegen, um den sich langjährig Befreundete in Erwartung eines vertrauten Abends versammeln und den sie Stunden später als erbittert Zerstrittene verlassen.

Alleinessen als Phobie?

Es spielt eine große Rolle, ob jemand zu Hause oder in der Öffentlichkeit allein isst. Letzteres fällt vielen schwer, aber interessanterweise ist das Unbehagen des idealtypischen Sologastes je nach Ort und Tageszeit mal stärker, mal schwächer ausgeprägt. In Kaffeehausketten sind Einzelgäste ein selbstverständlicher Anblick. Sie wirken völlig im Lot, lesen ein Buch oder eine Zeitung, sind mit Smartphones oder Laptops zugange. Von außen ist nicht zu erkennen, ob sie ihre Zeit nur verbummeln oder ob sie Sinnvolles tun, was in unserer Gesellschaft bedeutet, dass sie an etwas arbeiten oder digital mit anderen kommunizieren und daher nicht wirklich allein sind.

„Wir fühlen uns wohler“, heißt es im Journal of Consumer Research, „wenn wir in der Öffentlichkeit bei zweckdienlicheren Dingen beobachtet werden als beim reinen Genuss.“ Die beschäftigten Gäste genießen also nicht das müßige Leben oder eine fremde Szenerie, indem sie beispielsweise Straßenszenen oder andere Menschen betrachten. Im Gegenteil: Sie grenzen sich für alle erkennbar, ja demonstrativ von dieser Umwelt ab. Sie entziehen sich der Kommunikation mit denen, die sich mit ihnen im gleichen Raum aufhalten. Sie bleiben privat.

Auch die Schwelle, mittags allein ein Schnellrestaurant, eine Burgerkette oder eine einfache Pizzeria zu betreten, ist niedrig. Es geht erkennbar um Ernährung, man setzt sich, hat alles, was man zu essen gedenkt, vor sich stehen, isst und geht wieder. In einem besseren Restaurant stellen sich Probleme: Was tun, bis das Essen kommt? Was tun in den Wartezeiten zwischen den Gängen? Wohin mit den Händen, wohin mit dem Blick? Was tun gegen die Langeweile?

Es ist so vielen Menschen unbehaglich, ja peinlich, in der Öffentlichkeit allein zu essen, dass dafür sogar ein Wort erfunden wurde: solomangarephobia – eine eigenartige Zusammenfügung aus dem italienischen mangiare di soli (allein essen) und Phobie. Die davon Geplagten fürchten, dass die anderen Gäste und das Personal sie anstarren, als bedauernswert, unliebenswürdig, freund- und familienlos wahrnehmen und sich über sie lustig machen.

Wie in einer Zeitmaschine

Dennoch sind die Einzelreservierungen in Deutschland von 2014 bis 2018 um 321 Prozent gestiegen. Solo-Dining, so der jetzt gängige Begriff, ist vor allem ein urbaner Trend. Eine Befragung im Auftrag des Reservierungsportals OpenTable ergab, dass die Hälfte der Befragten allein zum Mittagessen, aber nur knapp 30 Prozent allein zum Abendessen gingen. Frühstück und Mittagessen sind (meist) funktionale Mahlzeiten, die relativ gleichmütig allein eingenommen werden und auch am stärksten „versnackt“ sind.

Das Abendessen in einem Restaurant hingegen ist so stark mit Geselligkeit, Gemeinschaft und romantischen Begegnungen assoziiert, dass Einzelgäste auffallen, vielleicht sogar deplatziert wirken. Zum Brunch geht übrigens praktisch niemand allein, Brunchen ist – obwohl mitten am Tag – zum Inbegriff der sonntäglichen Schlemmerrunde im Freundes- und Familienkreis geworden.

Männer scheuen das Alleinsein an öffentlichen Orten offenbar weniger als Frauen: 72 Prozent der Männer, aber nur 57 Prozent der Frauen gaben in einer Befragung an, ab und zu allein in eine Gaststätte zu gehen. Unbegleiteten Frauen war der Besuch eines Restaurants, einer Wirtschaft oder einer Bar sehr lange sogar ausdrücklich verboten. Man unterstellte ihnen unsittliche Motive, denn was sollte eine Frau abends um halb zehn dort anderes wollen, als Männerbekanntschaften zu machen?

Die Journalistin Claudia Fromme findet, dass Soloessen für Frauen immer noch härter sei als für Männer. Die Restaurantverbote früherer Jahrzehnte seien lange Vergangenheit, aber „wer als Frau schon mal versucht hat, um 23 Uhr zu Messezeiten an einer Hotelbar einen Snack zu bestellen, fühlt sich schnell wie in der Zeitmaschine“.

Quellen:

Hanni Rützler: Foodreport 2020, https://gastrofoodblog.de/food-trend-teil-i-snackification

Bundeszentrale für politische Bildung: Alleinlebende nach Geschlecht und Familienstand. 23.3.2021. https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61572/alleinlebende

Gunther Hirschfelder: Deutschlandfunk, Musik und Fragen zur Person. 17.11.2021. https://www.deutschlandfunk.de/musik-und-fragen-zur-person-der-kulturwissenschaftler.1782.de.html?dram:article_id=459602

Süddeutsche Zeitung: „Trendforscherin: Snacks lösen traditionelle Mahlzeiten ab“, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ernaehrung-trendforscherin-snacks-loesen-traditionelle-mahlzeiten-ab-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-190603-99-491681

Peter Richter: Allein essen zu gehen ist keine Schande. Süddeutsche Zeitung Magazin, 38/2015. https://sz-magazin.sueddeutsche.de/essen-and-trinken/einzelgangmenue-81670

Opentable: Solo-Restaurantbesuche werden beliebter. 18. September 2019. https://www.food-service.de/maerkte/news/opentable-solo-restaurantbesuche-werden-beliebter-43651

Martina Scheffler: „Restaurant: Immer mehr Menschen gehen allein essen – das sind die Gründe“, https://www.stern.de/genuss/essen/restaurant--immer-mehr-menschen-gehen-allein-essen---das-sind-die-gruende-8894092.html

Claudia Fromme: „Gastronomie: Drei Gänge und ich“, in: Süddeutsche Zeitung, 13. Januar 2020, https://www.sueddeutsche.de/stil/essen-trinken-alleine-1.4747412?reduced=true

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2022: Lieber unperfekt