Körper außer Kontrolle

Psychologie nach Zahlen: Störende, eingebildete oder eigenmächtige Glieder? Wie seltsam! Fünf erstaunliche Verzerrungen unseres Körpererlebens

Die Illustration zeig einen Mann, der vor seiner eigenen sehr großen Hand Angst hat, die nach ihm bedrohlich greift
Meine Hand erschlägt mich gleich! Ich muss zum Alien geworden sein oder mein restlicher Körper ist geschrumpft. © Till Hafenbrak für Psychologie Heute

„Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.“ Man muss diesen Satz aus Nietzsches Zarathustra nicht unterschreiben, um sich einzugestehen: Wir sind in einem existenziellen Sinn körperliche Wesen. Wie wichtig „der Leib“ für unsere Identität ist, zeigt sich vor allem dann, wenn unser Körperbild in bizarrer Weise von der Norm abweicht. Einige dieser verzerrten Körperwahrnehmungen – und was die Forschung aus ihnen lernen kann – schildert der britische Neurowissenschaftler Moheb Costandi in seinem Buch Body Am I.

1 Attribute des Abscheus

Das vermeintlich harmloseste Zerrbild der Körperwahrnehmung kennen wir im Ansatz alle. Wer ist schon rundum zufrieden mit seinem physischen Erscheinungsbild? Oft ist es irgendein Detail, das wir als Schwachstelle ausgemacht haben, mit der Folge, dass wir ihm ein Übermaß an Aufmerksamkeit zukommen lassen. Das Haar? Zu licht! Die Brüste, der Penis? Zu klein! Der Hintern? Zu fett und wabbelig! Diese wulstige Nase über dem fliehenden Kinn! Und waren die Lippen früher nicht mal voller?

Diese Beschäftigung mit vorgeblichen körperlichen Makeln wird bei einem bis zwei Prozent der Bevölkerung zum Zwang. Sie laborieren an einer Störung, die der italienische Psychiater Enrico Morselli Ende des 19. Jahrhunderts dismorfofobia („Furcht vor Hässlichkeit“) taufte. Charakteristisch sei, wie sehr bei diesen Menschen die Beschäftigung mit dem eingebildeten Schandfleck das gesamte Leben absorbiere. „Mitten in den Alltagsverrichtungen, Gesprächen, beim Lesen, während der Mahlzeiten, buchstäblich überall und jederzeit begleitet sie die Furcht vor Deformation.“

Seit dem Jahr 1987 trägt das Leiden die Bezeichnung „körperdysmorphe Störung“. Um jeden Preis wollten die Betroffenen den Fleck des Anstoßes verstecken. Manche trauen sich nicht mehr aus dem Haus.

2 Störende Glieder

Die einen wollen bestimmte Teile ihres Körpers am liebsten austauschen, andere hingegen möchten Teile loswerden – und sie meinen das ganz wörtlich. Menschen mit einer body integrity identity disorder haben den drängenden und anhaltenden Wunsch, sich einen Arm oder ein Bein amputieren zu lassen. Sie empfinden diesen Körperteil – obwohl gesund und unauffällig – als Fremdkörper: Das gehört einfach nicht zu mir! In ihrer mentalen Repräsentation des eigenen Körpers ist diese Extremität irgendwie nicht vorgesehen – sie ist kein Bestandteil des Selbst. Erst in amputiertem Zustand wird der Körper als „intakt“ imaginiert.

Tatsächlich scheinen manche Betroffene, deren Amputationswunsch schließlich nachgekommen wurde, mit dem Ergebnis zufrieden zu sein: Ihr Körper entspreche nun endlich ihrem wahren Selbst.

3 Imaginierte Glieder

Manchmal fehlen im mentalen Abbild des Körpers Gliedmaßen, manchmal umfasst es Glieder, die gar nicht (mehr) vorhanden sind. Der Militärarzt und Neurologe Silas Weir Mitchell hat während des Amerikanischen Bürgerkriegs beobachtet, dass viele der verwundeten Soldaten, denen er einen Arm oder ein Bein amputieren musste, danach noch immer lebhafte Empfindungen und Schmerzen in dem verlorenen Körperteil empfanden: „Fast jeder Mann, der ein Bein verliert, führt weiterhin ein ständiges oder gelegentliches Phantom des verlorenen Gefährten mit sich, einen sensorischen Geist.“

Inzwischen wurde bestätigt, dass solche „Phantomglieder“ nach einer Amputation eher die Regel als die Ausnahme sind. Oft bleibe der imaginierte Körperteil über Jahre oder Jahrzehnte bestehen, so Moheb Costandi, und bisweilen scheine er dann mit der Zeit zu schrumpfen, so dass die Hand näher zur Schulter und der Fuß gen Becken wandert. Körperphantome sind nicht auf Arme und Beine beschränkt. Seit 1955 sind Fälle von fortbestehenden Empfindungen in einer amputierten Brust dokumentiert. Seltener sind Fallberichte, in denen nach einer Operation ein „Phantompenis“ zurückblieb, inklusive Phantomerektionen bei sexueller Erregung.

4 Eigenwillige Glieder

Sie erinnern sich an Dr. Seltsam aus der bitteren Filmsatire von Stanley Kubrick? Zu seinen vielen Seltsamkeiten zählt eine metallene Handprothese, die in Momenten höchster Erregtheit ein peinliches Eigenleben entwickelt. Mal gleitet sie in den Schritt, mal reckt sie sich zum Führergruß.

Medizinisch betrachtet laboriert Dr. Seltsam an einer mysteriösen neurologischen Störung, dem alien hand syndrome. Sie resultiert aus einer Hirnschädigung, etwa nach einem Schlaganfall. Kennzeichnend sind zielgerichtete Bewegungen einer Hand, die unwillentlich und unkontrollierbar geschehen. Oft sind diese Handlungen – wie bei Dr. Seltsam – „selbstoppositionell“: Als hätte sie ihren eigenen Willen, tut die Alienhand just das Gegenteil von dem, was die Person, der sie gehört, gerade intendiert. Im Fallbericht einer Patientin namens „Mrs. G.P.“ aus dem Jahr 1994 wird ein Vorkommnis beim Restaurantbesuch mit der Familie geschildert: „Aus heiterem Himmel und sehr zu ihrer Bestürzung ergriff ihre linke Hand einige der übriggebliebenen Fischgräten und führte sie zum Mund. Wenig später, als sie inständig hoffte, von weiteren Peinlichkeiten verschont zu bleiben, grapschte ihre tückische Hand das Waffeleis, an dem ihr Bruder gerade leckte. Ihre rechte Hand griff sofort ein, und der Kampf endete damit, dass das Eis zu Boden fiel.“

5 Alice im Wunderland

In Lewis Carrolls Erzählung macht Alice auf ihrem Ausflug ins Wunderland groteske Körperveränderungen durch. Mal zieht sich ihr Leib unendlich in die Länge, dann wieder schrumpft er, bis ihr Kinn die Füße berührt.

Ähnliches berichten mitunter Menschen, die an Migräne leiden. Eine 38-jährige Frau etwa machte die Erfahrung, dass ihr Hals sich vor und während mancher Attacken um ein Mehrfaches in die Länge zu ziehen schien. Ein andermal schien sie auf Gartenzwerggröße zu schrumpfen, während sie im Spiegel ihre gewohnte Gestalt erblickte. Die amerikanische Neurologin Caro Lippman, die im Jahr 1952 diesen und weitere Fallberichte zusammentrug, gab der Störung den Namen Alice-im-Wunderland-Syndrom. Seither sind in der medizinischen Literatur etwa 200 Fälle beschrieben worden.

Quelle

Moheb Costandi: Body Am I. The New Science of Self-Consciousness. MIT Press 2022

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