Junge Menschen haben in alarmierender Zahl Angst vor der Zukunft, ältere ringen mit Sinnlosigkeit und Einsamkeit. Der britische Autor und klinische Psychologe Frank Tallis bringt in seinem Buch Die Kunst zu leben seine Verwunderung zum Ausdruck, wie wenige dieser Gebeutelten und tief Verunsicherten sich die Erkenntnisse von Psychoanalytikerinnen und Psychotherapeuten zunutze machten. Dabei lieferten die doch große Hilfe in den bedrückenden Daseinsfragen. „Psychotherapie sei, als „kohärente, intellektuelle Tradition betrachtet, eine unterbewertete und unzureichend genutzte Ressource“. Sie behandle nicht nur psychische Krankheiten, sondern biete Antworten auf die großen, existenziellen Fragen: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Wie sollte ich leben? Antworten und Annäherungen ausschließlich bei Philosophinnen und Glaubensvertretern suchen? Falsch.
Kluge Auswahl an psychologischen Vordenkerinnen und Vordenkern
Das Buch präsentiert eine kluge Auswahl an psychologischen Vordenkerinnen und Vordenkern. Die Auslese ist gut, denn sie deckt zeitlich und inhaltlich ein breites Feld ab. Sigmund Freud, Otto Rank, John Bolwby, Heinz Kohut, Otto Gross, Erich Fromm, C.G. Jung, Francis Shapiro gehören dazu. Warum kommen Margarete und Alexander Mitscherlich nicht vor? Warum nur ein Satz zu Irvin Yalom? Wo ist Esther Perel? Dass nicht jeder seine persönlichen Favoriten findet – damit muss man leben.
Leserinnen und Leser können sich herausgreifen, was gerade passt, und dann, anders als bei vielen anderen Ratgebern, tief eintauchen. Wo hatte Freud recht? Warum ist Kommunikation so wichtig? Was bedeutet Psychoanalyse, was Logotherapie, was EMDR? Und wie kann es gelingen, in seinem Leben Sinn zu finden, auch wenn sehr viel Unglück geschieht?
Fast so flüssig wie ein Roman
Tallis konzentriert sich auf die Essenz der verschiedenen Methoden und Denkansätze, sein Werk liest sich fast so flüssig wie ein Roman, er umgeht die mögliche Falle, sich in Streitigkeiten zwischen Therapieschulen, in Definitionsdetails zu verlieren. Darauf kommt es ihm an: Nutzt die Idee, nutzt das Verfahren? Hilft es dem Menschen weiter, bestenfalls aus der Krise? Was sagen jener Psychologe oder jene Psychologin über unsere Bedürfnisse und Sehnsüchte und wie wir mit dem Schicksal, dem Tod leben sollen?
Zum Beispiel Viktor Frankl im Kapitel „Sinn. Daseinssuche“. Blättert man zu ihm, erfährt man etwa: Es geht nicht um Sinn allgemein, war die Erkenntnis des jüdischen Psychiaters, dessen Angehörige ermordet wurden und der selbst vier Vernichtungslager der Nationalsozialisten überstand, sondern um den einen, individuellen Sinn. Den zu finden, und wenn er für andere völlig unbedeutend ist, könne jedes Leben lebenswert machen. Bei der Suche, auch das wird klar, kommt man nicht immer allein weiter. Psychotherapeutische Flankierung kann helfen.
Frank Tallis: Die Kunst zu leben. Was wir von großen Psychologen lernen können. Aus dem Englischen von Henning Dedekind. Btb 2024, 384 S., € 18,–