Warum sollte unsere Arbeit „vollständig“ sein?

Psychologe Vincent Mustapha erklärt, was eine „vollständige Tätigkeit“ ist und warum dieses Konstrukt als Ziel guter Arbeitsgestaltung gelten sollte.

Was versteht man unter einer vollständigen Tätigkeit?

Vollständig sind Tätigkeiten, wenn die Beschäftigten die Möglichkeit haben, ihre Arbeit selbst vorzubereiten, zu organisieren sowie Rückmeldung zur eigenen Tätigkeit zu erhalten. Dies setzt voraus, dass die Beschäftigten in gewissem Umfang Verantwortung für ihre Tätigkeiten übernehmen können. Durch eigenständiges Zielsetzen, Planen und Kontrollieren können sie die Tätigkeit selbst regulieren. Die jeweiligen kognitiven Anforderungen müssen allerdings zur Person passen.

Mit vollständigen Tätigkeiten schafft man es, drei wesentliche Ziele der Arbeitsgestaltung zu erreichen: effiziente Leistung, Freiheit von Beeinträchtigungen, Förderung des Lernens und der Persönlichkeit.

Wir haben die Arbeit von rund 800 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus verschiedenen Branchen analysiert, unter anderem aus dem öffentlichen Nahverkehr, dem Gesundheitswesen, psychosozialen und pädagogischen Berufen, bei IT-Dienstleistern und im Baugewerbe. Unsere Studie zeigt: Wenn wir unsere Arbeit als vollständig erleben, lernen wir dabei, können kreativer sein und die Tätigkeit wird intensiver. Das geht mit mehr Engagement, Zufriedenheit und Commitment einher.

Wann wird eine Arbeit als unvollständig empfunden?

Als belastend empfinden Menschen Zeitdruck, Unterbrechungen sowie widersprüchliche Aufträge. Wenn zu wenig Zeit ist, hat man keinen Spielraum, und häufige Unterbrechungen führen dazu, dass das Gehirn unverhältnismäßig viel Zeit braucht, bis es sich wieder auf die vorherige Tätigkeit eingestellt hat.

Schließlich gibt es Anforderungen, die sich wechselseitig ausschließen und deshalb für Stress sorgen, wenn sie gemeinsam auftreten: Wenn gewünscht wird, dass man als Zugführer langsam fährt, um Verschleißteile zu schonen, aber gleichzeitig Pünktlichkeit bei einem engen Zeitplan das Ziel ist, führt dies zu Widersprüchen. Wenn die Tätigkeit von solchen Hindernissen und Widersprüchen geprägt ist, sind Menschen schneller erschöpft.

Um gut arbeiten zu können, brauchen wir also eine vollständige Tätigkeit mit ausreichend Zeit, ohne widersprüchliche Anforderungen und ohne zu viele Unterbrechungen?

Ja. Grundsätzlich kommt es darauf an, dass die Qualifikation und die Vorerfahrungen eines Menschen zur Tätigkeit passen müssen. Als stärksten Mangel erleben es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wenn der Spielraum bei der Arbeit fehlt oder sie unter großem Zeitdruck arbeiten müssen. Dadurch sinkt das Engagement und es kommt zur Erschöpfung bis hin zur Erholungsunfähigkeit.

Wie passt vollständiges Arbeiten mit der Digitalisierung zusammen?

Ein Risiko liegt darin, dass Tätigkeiten in den Systemen in sehr kleine Einheiten zerlegt werden. Menschen füllen dann nur noch die Lücken, die ihnen die Maschinen lassen, und übernehmen die Tätigkeiten, die nicht automatisierbar sind. Hat ein Arbeitsprofil nur noch solche sehr eng definierten unvollständigen Routineaufgaben, führt das schnell zum Erleben von Sättigung und Erschöpfung. Aber noch kann man das mitgestalten, und darin liegt eine Chance: Auch für einfachere Tätigkeiten lassen sich Aufträge dann so schneidern, dass sie den Vollständigkeitskriterien genügen.

Vincent Mustapha ist Psychologe und forscht am Institut für Psychologie der Universität Halle-Wittenberg.

Quelle

Vincent Mustapha, Renate Rau: Das Konstrukt der „vollständigen Tätigkeit“ als Ziel guter Arbeitsgestaltung. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsycho­logie, 2023. DOI: 10.1026/0932-4089/a000420

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