„Ich dachte schon, Sie lägen irgendwo unter einer Schneewehe begraben!“ Acht Wochen hatte ich nichts mehr von Frau D.* gehört, keine Rückmeldung auf meinen Anruf und meinen späteren kurzen Brief erhalten. Plötzlich, an einem kalten Morgen im Januar stand sie wieder vor mir. Einen neuen Termin hätte sie gern. Neben ihren Panikattacken waren ihre ständigen Beziehungsprobleme Thema unserer Therapie. Die Panik war besonders dann schlimm, wenn ihr Partner nicht zu Hause war. Es ging um Verlässlichkeit. Wir…
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Die Panik war besonders dann schlimm, wenn ihr Partner nicht zu Hause war. Es ging um Verlässlichkeit. Wir hatten den Teufelskreis identifiziert, der ihre Ängste eskalieren ließ, und die auslösenden Bedingungen besprochen: etwa die Unruhe, die am Anfang vieler Panikattacken steht, die in ihrem Fall viel mit Unsicherheit in engen Beziehungen zu tun hatte.
Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen sind, wie man so sagt, „prototypische Gesprächspartner“, was nichts anderes bedeutet, als dass uns unsere Klientinnen und Klienten mit der Zeit oft genauso behandeln, wie jeden anderen auch. Geht jemand zum Beispiel immer fürsorglich mit seinem Umfeld um, dann wird diese Behandlung vermutlich auch mir als Psychotherapeuten zuteil. Reagiert jemand mit Abwertung auf jede Kritik an seiner Person, dann wird dies auch mir so ergehen.
Frau D. kam einige weitere Wochen nach der ersten langen, kalten Pause dann gar nicht mehr zu ihren Sitzungen. Ich weiß bis heute nicht, warum. Vielleicht weil sie dies mit allen Menschen so macht, die ihr nahekommen. Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich kenne nur kleine Ausschnitte aus ihrem Leben und dadurch bleibt fast alles, was ich über sie denke, eine Hypothese, die sich nicht endgültig bestätigen lässt.
Darüber grübeln, was wohl falsch gelaufen ist
Ja, auch wir Psychotherapeutinnen und -therapeuten werden im Regen stehengelassen, bekommen die kalte Schulter gezeigt, blitzen ab, werden verschmäht und erhalten Abfuhren – und zwar nicht nur im Privatleben, sondern auch während der Arbeit. Es gibt Klienten, die erscheinen nur zu einem Erstgespräch und entscheiden sich dann für einen anderen Therapeuten. Es gibt solche, die sich zunächst mit Begeisterung in die gemeinsame Arbeit stürzen und sich dann irgendwann enttäuscht abwenden. Und solche, mit denen man über Jahre immer wieder Kontakt hält, die dann eines Tages nicht mehr zu einem ihrer Nachgespräche kommen und auch nicht mehr erreichbar sind. Auch wir werden also „geghostet“, wie es neuerdings heißt. Und so sitze ich manchmal am Ende mit mir allein in meiner Praxis und grübele darüber nach, was möglicherweise passiert oder falsch gelaufen ist. Unzufrieden, hilflos, zusammen nur mit meinen Gedanken, die mich wie die Geister in einem Gruselfilm verfolgen.
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Sie merken schon: Das hier wird keine typische Therapiegeschichte mit Anfang, Mitte und Ende, in der sich die Klientin zu Beginn hilfesuchend an mich wendet, wir das Problem benennen, eine Weile daran arbeiten und zum Schluss gemeinsam eine Lösung finden. Wenn es so abläuft, gibt es nicht nur einen, sondern gleich zwei Helden. Die Klientin, die sich heroisch und erfolgreich ihrem Leid entgegenstellt. Und mich, der sie dabei unterstützt. Sie, die so wie Frodo im Herrn der Ringe mutig gegen das Übel antritt, und ich ihr Samwise, Frodos treuer Begleiter, der ihn immer dann ermutigt und weiterträgt (einmal buchstäblich auf seinen Schultern), wenn Frodo selbst zu verzweifeln droht. Die Geschichte von Frau D. und mir bricht dagegen einfach ab, bleibt Fragment, wird zu einem Entwurf, den ich allein zu Ende schreiben muss. Und mögliche Enden gäbe es viele.
Das quälende Warum
„Klienten, die nicht zur Therapie kommen, versuchen gerade etwas anderes“ ist einer der Sätze, den ich während meiner Ausbildung gelernt habe. Das vertraut sehr darauf, dass Klientinnen selbst die besten Expertinnen für sich sind und gut entscheiden können, ob die Therapie oder etwas anderes für sie in diesem Moment hilfreicher ist.
Außerdem habe ich die eine oder andere Kollegin im Kopf, die anders arbeitet als ich. Diese würde mir vermutlich raten, generell mehr auf Beziehungsmuster zu achten, so dass ich beim nächsten Mal neben den Panikattacken nicht die eigentliche Problematik, vermutlich eine Bindungsstörung vernachlässige.
Natürlich gibt es noch mindestens eine weitere Möglichkeit: Frau D. ging es einfach wieder gut. Und sie hat schlicht vergessen, mich daran zu beteiligen und kurz anzurufen, um danke zu sagen. Das beschäftigt mich – vielleicht etwas zu sehr. Albert Ellis, einer der Begründer der modernen Verhaltenstherapie, hielt die Annahme von Therapeutinnen, die Klienten hätten dankbar für die empfangene Hilfe zu sein, ihrerseits für therapiewürdig, führt sie doch zu viel Unbehagen und zu überhöhten Ansprüchen. Habe ich also wirklich keinen Abschluss, einen kurzen Anruf oder eine Notiz verdient? Ellis würde mir zurufen: Es geht hier nicht um dich! Aber worum geht es dann, welche Geschichte soll ich mir erzählen? Die Frage steht – anders als die Patientin – weiterhin im Raum.
Vielleicht so: Psychotherapie, wie wir sie kennen, entsteht um die letzte Jahrhundertwende. Die Gesellschaft verändert sich. Wir werden freier, sind nicht mehr so stark durch unsere Herkunft gebunden, gesellschaftlicher Aufstieg wird leichter. Alle werden immer mobiler, entfernen sich oft weit von ihren Herkunftsorten. Zugleich werden die Beziehungen untereinander lockerer, verlässliche Gesprächspartnerinnen und -partner seltener. In diese Lücke stößt die Psychotherapie. Und, so meinen einige Soziologinnen und Soziologen, sie passt nur allzu gut in unsere Zeit. Die therapeutische Beziehung ist zwar für eine Weile zuverlässig. Doch zugleich ist sie zeitlich begrenzt. Außerdem muss sie bezahlt werden, selbst dann, wenn man nicht zusammenkommt (das Ausfallhonorar!). Wir lassen es uns etwas kosten, miteinander Zeit zu verbringen, dann muss es sich aber auch lohnen.
Wo finde ich Wohlbefinden?
Wird Wohlergehen zum Hauptzweck einer Beziehung, sei sie persönlich oder psychotherapeutisch, dann ist jede Unstimmigkeit eine Gefahr für das gesamte Unternehmen. „Wo und mit wem finde ich mehr Wohlbefinden?“ wird zur zentralen Frage. Und ist in einer Beziehung gerade kein weiteres Wohlbefinden zu erwarten oder woanders mehr davon zu holen, dann verabschiedet man sich eben. So vergrößert sich für alle die Unsicherheit; Menschen verschwinden aus dem eigenen Leben, ziehen Grenzen, schaffen sich anderswo Räume, in denen sie sich besser fühlen. Und all das spürt vielleicht auch Frau D. Es macht sie trotz ihres meist liebevollen Partners misstrauisch und verursacht ihr Panik. Wer weiß, wann dieser woanders ein besseres Beziehungsangebot findet? Das ist jederzeit möglich.
Und natürlich lastet all dies auch auf mir. Denn Psychotherapeuten sind nicht nur prototypische Gesprächspartner, sondern auch prototypische Menschen. Wer sitzengelassen wurde, muss versuchen, darin einen Sinn zu finden, was manchmal sehr schwer sein kann. Hätte man besser sein, es dem anderen schöner machen können? Die Folge: Ängste und exzessives Grübeln. Und damit geht es in dieser Geschichte um den Umgang mit sich selbst und anderen in einer Zeit, in der nichts selbstverständlich ist, außer der Unverbindlichkeit.
Zwei Jahre nach dem hier Erzählten klingelt das Telefon. Frau D. Beim letzten Mal hätte ich ihr so wunderbar geholfen. Hätte ich wohl wieder einmal einen Termin für sie? Ich zögere, sage dann aber ja. Darüber reden, warum sie einfach so verschwunden ist, können wir ja vielleicht später noch. Wie wird die Geschichte wohl diesmal ausgehen?
Thorsten Padberg ist Diplompsychologe und arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Berlin.