Panikattacken: mit der Angst vor der Angst umgehen

„Du hast zu viel Angst vor dem Leben“: Nach den Abschiedsworten seiner Freundin begann Daan Heerma van Voss, die Ursachen seiner Angst zu ergründen.

Nachts klappert er mit den Zähnen, morgens schreckt er nassgeschwitzt aus dem Schlaf. Er, das ist der Autor eines neuen Buchs über Angst, Daan Heerma van Voss. Der 37-jährige Niederländer, erfolgreicher Autor, kennt solche periodisch wiederkehrenden Krisen seit seiner Kindheit. Abfragen in der Schule versetzten ihn in Angst und Schrecken, an der Uni flüchtete er auf die Toilette, um Panikattacken zu überstehen. Als seine Freundin das Zusammenleben nicht mehr aushält und davonradelt, während er ihr hinterherschaut, beginnt er zu fragen: Was ist Angst? Wo kommt sie her? Ist es eine Emotion? Ein philosophisches Problem? Eine Krankheit?

Van Voss geht zum Arzt, der feststellt, dass das Stresshormon Kortisol in seinem Blut an manchen Tagen bis zum 74-Fachen im Vergleich zum landesweiten Durchschnitt erhöht ist. Er baut eine eigene „Angstbibliothek“ auf, liest wie besessen und nimmt uns mit auf den kurvigen Weg durch die Medizin- und Philosophiegeschichte der Angst von der Antike bis heute – von Cicero über Freud zu Valium, Hirn­scans, Selbsthilfegruppen für „Angsthasen“ und zur Erkenntnis, dass Gene einen erheblichen Einfluss haben.

Was hilft: Die Angst annehmen

Die Augen öffnend ist das Kapitel, in dem van Voss die stark steigende Zunahme von Angst in diverse gesellschaftliche Zusammenhänge einbettet, wenn er etwa darüber nachdenkt, wie neoliberales Leistungsdenken, Individualismus und Selbstverwirklichung das existenzielle Bedürfnis nach Kontakt und Zusammenhalt torpedieren und zum Nährboden für Angst werden.

Eine Wendeboje sieht van Voss im Jahr 1980, als Angst zur medizinisch anerkannten Diagnose wurde. Denn im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen, seit 1952 das Standardwerk für psychische Erkrankungen, erhielt die Angststörung zum ersten Mal einen eigenen Eintrag. Kein Mensch mit Angst hatte sich also „angestellt“ und hätte „sich zusammenreißen“ können. Diese Entlastung hat aber auch eine Schattenseite: Als Kranker fügt man sich in ein System ein, mit Medikamenten, Therapien und Etiketten im Kopf. Man mutiert zum „Fall“.

Am Ende seiner Reise zu sich selbst weiß van Voss, dass er seine Ängste nie loswerden wird, dass sie in Wellen kommen und gehen, dass sie zu ihm gehören, ja sogar Teil seiner schönen Seiten sind, die er ohne Angst nicht hätte: etwa seine Sensibilität und seine Aufmerksamkeit. Diese Erkenntnis, Angst nicht mehr als bösen Eindringling aufzufassen, ist sein Schlüssel zu mehr Autonomie. Bewusst verlässt er das System Krankheit, obwohl er noch Medikamente nimmt, und hofft nicht mehr auf Heilung, sondern nimmt seine Verletzlichkeit an.

Gestrafft hätten manche Geschichten, vor allem die über seine Familie, mehr Dynamik entwickelt, doch als Ganzes betrachtet, bietet der Autor einen hervorragenden Überblick über dieses wirkmächtige Phänomen.

Daan Heerma van Voss: Die Sache mit der Angst. Und wie ich lernte, damit zu leben. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Diogenes 2023, 384 S., € 24,–

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