Erbrechen, Schlaflosigkeit, Druck auf der Brust, Tränen – so beschreibt Martina Voss-Tecklenburg ihre Reaktionen auf das Ende ihrer Zeit als Fußballbundestrainerin im November 2023. Kurz vorher war ihr Team schon in der Vorrunde der Frauenweltmeisterschaft in Australien ausgeschieden. Ihr Hausarzt diagnostizierte schließlich eine Erschöpfung. Nach dem Zusammenbruch nahm Voss-Tecklenburg Medikamente und war in psychotherapeutischer Behandlung. Trotzdem habe sie vier bis fünf Wochen lang unter schweren…
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und war in psychotherapeutischer Behandlung. Trotzdem habe sie vier bis fünf Wochen lang unter schweren Infekten gelitten, erzählt die Ex-Bundestrainerin. Ähnliche Erfahrungen machen Studierende in stressigen Klausurenphasen. Studien zeigen, dass sie in diesen Zeiten häufiger Erkältungen bekommen. Körper und Psyche – sie scheinen eng miteinander verwoben zu sein.
Ein anderes Beispiel: Trotz eines Zuwachses an Informationen über Gesundheit, Coachingangeboten und Sport-Apps nimmt die Zahl der Menschen mit starkem Übergewicht in vielen Ländern zu. Rufe nach Selbstdisziplin, gesünderer Ernährung und mehr Bewegung lösen das Problem nicht. Denn Fettleibigkeit tritt oft zusammen mit psychischen Problemen auf. Eine nicht anders zu erklärende Gewichtszunahme ist sogar ein offizielles Symptom von Depressionen. Manchmal hilft eine chirurgische Magenverkleinerung. Interessanterweise haben Betroffene nach diesem Eingriff oft weniger Hunger – offensichtlich kommunizieren Magen und Gehirn miteinander.
Die anhaltende Krise der Psychologie
Im Alltag, in der klinischen Praxis und in der Wissenschaft sind wir gewohnt, körperliche (somatische) und psychische Vorgänge feinsäuberlich zu trennen. Je nach Zuordnung gibt es eigene Fachleute und Disziplinen: Die Physiotherapie und die somatischen Teildisziplinen der Medizin kümmern sich um den Körper, die Psychologie und die Psychiatrie um den Geist. Unklare Fälle landen mitunter bei der Psychosomatik. Doch was, wenn die traditionelle Unterscheidung von Körper und Geist ein großer Irrtum ist? Wenn diese Aspekte des Menschen (und anderer Lebewesen) untrennbar zusammengehören? Wie würde eine alternative Wissenschaft vom Menschen dann aussehen? Und was würde das für Therapien bedeuten?
Zu diesen offenen Fragen kommt die anhaltende Krise der Psychologie: Erstens lassen sich die Resultate vieler Untersuchungen nicht wiederholen (Replikationskrise). Zweitens sind experimentelle Funde oft nicht auf den Alltag, in andere Zeiten oder Kulturen übertragbar (Universalisierungskrise). Und drittens existieren viele Forschungsansätze der Psychologie nebeneinander, ohne dass es zu einer Integration in eine übergreifende Theorie kommt (Theorienkrise).
Auch für den benachbarten Teil in der Medizin, die Psychiatrie, fällt die Bilanz durchwachsen aus. Seit den 1980er Jahren setzte man dort zunehmend auf genetische und neurobiologische Verfahren wie die bildgebende Hirnforschung mit ihren Tomografen und Scannern. Vor allem das Gehirn wurde zum Ziel von Forschung und Therapie. Als aber im Jahr 2013 die fünfte Auflage des psychiatrischen Diagnosehandbuchs DSM erschien, war die Ernüchterung groß. Denn das Bestreben, neurobiologische Erklärungen für psychische Störungen zu finden, war auf allen Gebieten fehlgeschlagen.
Entschlüsselung des Seelenlebens
Nach wie vor gibt es für keine einzige der mehreren hundert im DSM unterschiedenen Störungen wie ADHS oder Depressionen einen zuverlässigen Gen- oder Gehirntest – trotz jahrzehntelanger milliardenschwerer Forschung. In großen Studien hat man inzwischen die neurobiologischen Daten vieler hunderttausend Betroffener und Kontrollpersonen gesammelt – und kann damit doch meist nur wenige Prozent der Symptome erklären. Im Vergleich zu Umweltfaktoren wie traumatischen Erlebnissen oder Stress sagen diese Daten erschreckend wenig aus.
Fachleute reagieren auf diese Ernüchterung höchst unterschiedlich. Wer im vorherrschenden Denken verhaftet ist und durch das Entschlüsseln neuronaler Mechanismen „das Seelenleben“ der Menschen erklären will, verweist auf die Notwendigkeit noch größerer Studien und noch detaillierterer Messapparate. Insbesondere der Wissenschaftsnachwuchs stellt aber auch kritische Fragen zum Fundament dieser Forschung: Ist das Gehirn doch nicht der wichtigste Ort, an dem gesucht werden muss?
Die Einflüsse der Umwelt auf unser Nervensystem
Eine naheliegende Alternative ist das biopsychosoziale Modell. Dieses formulierte der US-amerikanische Internist und Psychiater George L. Engel in den 1970er Jahren. Schon damals gab es Kritik an einer zu einseitigen Medizin. Laut Engel sind vom Molekül über Zellen, Organe, das Nervensystem, den Organismus, zwischenmenschliche Beziehungen, Gemeinschaften bis schließlich zur Biosphäre alle Ebenen für unsere Gesundheit wichtig. Diese „Alles hängt mit allem zusammen“-Mentalität im Geiste Alexander von Humboldts wurde aber wegen ihrer Unverbindlichkeit kritisiert. Insbesondere ließen sich daraus keine konkreten Hypothesen ableiten, wo nach den Krankheitsursachen zu suchen sei.
Allerdings bietet das Modell den Vorteil, wissenschaftliche Daten und Erfahrungen aus dem klinischen Alltag miteinander zu verbinden. So wurde vielfach nachgewiesen, dass Menschen nach schweren Schicksalsschlägen wie Todesfällen, Trennungen oder Arbeitslosigkeit gehäuft depressive Symptome aufweisen. Schwere Traumata gehen häufig mit problematischem Substanzkonsum etwa von Alkohol oder anderen Drogen einher.
Eine ADHS-Diagnose steht mit Armut oder dem Alter bei der Einschulung in Zusammenhang: In einer Schulklasse trifft es oft die jüngsten Kinder der Gruppe; Kinder aus ärmeren Verhältnissen haben ein rund doppelt so hohes Risiko, eine ADHS-Diagnose zu erhalten. Ein Risikofaktor für Psychosen oder die Diagnose Schizophrenie ist die Migration in ein anderes Land. Allgemein gilt, dass psychische Störungen durch Stress ausgelöst oder verschlimmert werden.
Es liegt auf der Hand, dass die äußeren Einflüsse auf den Körper und sein Nervensystem wirken. Statistische Unterschiede in den Genen und Gehirnen von Menschen mit psychischen Störungen widersprechen einer holistischen Sichtweise nicht. Für die Praxis sind diese kleinen Effekte auf neurobiologischer Ebene meist bedeutungslos. Dennoch können im individuellen Fall Psychopharmaka ebenso eine Hilfe sein wie Psychotherapie. Gemäß dem sozialpsychiatrischen Ansatz lassen sich manche Probleme durch die Änderung der Umgebung lösen. Das könnte etwa ein Arbeitsplatz mit passenderen Anforderungen sein. Umgekehrt kann Psychotherapie sogar bei konkret lokalisierbaren neurologischen Erkrankungen helfen.
Der Körper gilt als Ankerpunkt
Neben dem biopsychosozialen Modell der 1970er Jahre bekommt zurzeit ein neuer Ansatz mehr Aufmerksamkeit. Dieser nimmt die Biologie und die Systemwissenschaft zum Vorbild, um den Menschen besser zu erklären. Anstelle der Reduktion auf immer einfachere Teile geht es um die Integration verschiedener Sichtweisen. Die subjektive Erfahrung der Personen bekommt wieder einen höheren Stellenwert. Als Bezeichnung für dieses Paradigma hat sich 5E Cognition durchgesetzt.
Der ungewohnte Name leitet sich aus englischen Termini ab, die alle mit „e“ beginnen. Die erste Perspektive ist die der Verkörperung (embodiment). Laut dem amerikanischen Neurowissenschaftler Joseph E. LeDoux und seiner neuen Theorie des Menschen (The Four Realms of Existence. A New Theory of Being Human) braucht das Gehirn einen Körper, der es mit Nährstoffen versorgt. Doch das ist zu reduktionistisch gedacht! Der Körper ist nämlich der Ankerpunkt, von dem aus wir die Welt wahrnehmen und mit ihr interagieren; er ist das Zentrum unserer Erste-Person-Perspektive und der Punkt, von dem aus wir handeln.
Das führt uns direkt zum zweiten und dritten E: Das sind die Einbettung (embeddedness) und der Enaktivismus (enactivism) unseres Bewusstseins. Der gerade identifizierte Körper befindet sich immer in einer bestimmten Umwelt, Zeit und Kultur. Und diese nimmt er nicht passiv wahr. Im Gegenteil findet ein kontinuierliches Wechselspiel zwischen Individuum und Umgebung statt.
Dieses Denken ähnelt der ökologischen Psychologie des Ehepaars Eleanor und James Gibson. Es wies schon in den 1960er Jahren darauf hin, dass die Interaktionsmöglichkeiten in der Umwelt für die Entwicklung eines Kindes entscheidend sind. Nach der Theorie haben Gegenstände einen Angebotscharakter: Auf einem Stuhl oder einer Treppenstufe kann man sitzen; mit einem Hammer Nägel einschlagen; mit einem Knopf auf der Internetseite ein Formular abschicken. Somit ist unser Verhalten nicht nur vom Kopf gesteuert, sondern wird auch von den Dingen in der Welt beeinflusst.
Die erweiterte Psyche
Das vierte E steht schließlich für die erweiterte Psyche (extended). Demnach hängt unsere Denkleistung entscheidend von zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln ab. Tatsächlich war schon Sokrates gegen die Schriftsprache, weil damit das Gedächtnis schlechter werde. Das wissen wir aber nur, weil einige Schüler trotzdem seine Dialoge aufschrieben. Vor 20 bis 30 Jahren merkten wir uns noch wichtige Telefonnummern. Heute können wir mit einem Wisch auf dem Smartphone aus einer riesigen Anzahl an Kontakten auswählen und dank Taschenrechnern und Computern in Millisekunden Aufgaben lösen, an denen wir vor wenigen Generationen noch gescheitert wären.
Der neue Ansatz steht damit der Idee diametral entgegen, Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln durch das immer detailliertere Studium neuronaler oder (vermuteter) psychischer Vorgänge im Individuum, vielleicht sogar nur in dessen Gehirn zu erklären. Der Körper ist mehr als ein Nährstoffbehälter für das Nervensystem. Und die Umwelt spiegelt sich nicht nur über den Wahrnehmungsapparat im Lebewesen wider. Vielmehr ist sie fester Bestandteil des ganzen Systems, in dem psychische Vorgänge entstehen.
Über die ersten vier E besteht weitgehend Konsens. Über das fünfte – oder sind es am Ende noch mehr? – streitet man sich dagegen noch.
Im Schatten medizinischer Erfolge
Manche Forschergruppen heben mit Begriffen wie ökologisch (ecological) oder evolutionär die Bedeutung der Biologie hervor. Der Heidelberger Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs, einer der führenden Experten auf diesem Gebiet, möchte emotional in die Liste aufnehmen. Schließlich sei bewusstes Erleben immer von Gefühlen begleitet. Mit dieser umfassenden Sicht knüpft 5E Cognition an die phänomenologische Tradition an, die im frühen 20. Jahrhundert im deutsch- und französischsprachigen Raum verbreitet war.
Phänomenologen wie Edmund Husserl oder Maurice Merleau-Ponty wiesen damals bereits darauf hin, dass unser Körper nicht nur eine physiologische Maschine ist, sondern ein lebendiger Leib. Mit Wendungen wie dem „In-der-Welt-Sein“ formulierten sie die Grundgedanken, dass der Mensch in die Umwelt eingebettet ist und mit ihr interagiert. Diese Ideen wurden in der phänomenologischen Psychologie und der Psychiatrie aufgegriffen, beispielsweise von Karl Jaspers. Entsprechende Studien widmeten sich den subjektiven Erfahrungen und Situationen von Patientinnen und Patienten.
Dass sich diese Ansätze damals nicht durchsetzen konnten, hatte hauptsächlich zwei Gründe: Erstens wies die reduktionistische Medizin handfeste Erfolge vor. Durch die Untersuchung von Geweben konnte man Krankheitsherde lokalisieren und beispielsweise Tumore chirurgisch entfernen, anstatt nach antiken Vorbildern Aderlasse anzuwenden und Körpersäfte in Harmonie zu bringen. Man entdeckte Bakterien und Viren, und die Entwicklung von Antibiotika und Impfstoffen sowie neue Hygienemaßnahmen retteten bis heute viele Menschenleben.
Der Gedanke, auch Psychologie und Psychiatrie nach diesem Vorbild zu betreiben, mündete in der Phrenologie. Heute ist dieser Ansatz zur Lokalisierung der Psyche und ihrer Störungen im Gehirn zwar als Pseudowissenschaft verschrien. Doch im 19. Jahrhundert war dieser Versuch nur logisch.
Exakte und objektive Statistik, bitte!
Zweitens warf man der phänomenologischen Psychologie Vagheit vor. Insbesondere die stark an Einfluss gewinnenden Behavioristen diskreditierten den sprachlichen und eher subjektiven Zugang zu unserem Seelenleben als „mentale Gymnastik“. Echte Wissenschaft müsse sich objektivieren lassen. Daher nahm man das Experimentieren aus der Physiologie und die mathematische Formalisierung aus der Physik für das Studium des Menschen zum Vorbild. Bis heute werden die Studierenden in Statistik gedrillt, um mit quantifizierten psychischen Vorgängen rechnen zu können. Die Ergebnisse versprechen dann die Exaktheit und Objektivität „harter Naturwissenschaften“.
Doch wie schon erwähnt stecken diese vermeintlich harten Ansätze in Psychologie und Psychiatrie in der Krise. Auch nach Behaviorismus, Kognitions-, Evolutions- und Neuropsychologie streitet man sich immer noch über die grundlegende Frage, was psychische Vorgänge überhaupt sind. Und sogar die schönen Bilder aus den millionenteuren Hirnscannern sind mitnichten objektiv: Forscherinnen und Forscher beeinflussen nicht nur mit der Formulierung der Frage das Ergebnis, sondern auch mit der Einstellung von Messparametern und der Auswahl statistischer Modelle. Inzwischen haben Studien gezeigt, dass unterschiedliche Forschungsgruppen aus denselben Gehirndaten unterschiedliche Schlüsse ziehen.
Wir suchen das Problem im Individuum
5E-Forschung sollte kein Sprachspiel im Elfenbeinturm werden, wie man es der Phänomenologie mitunter vorwirft. Sonst gewinnt man zwar komplexe Beschreibungen darüber, wie es ist, eine Depression oder Psychose zu haben, doch was nutzt dieses Wissen in der Praxis?
Dem neuen Trend kommt zugute, dass qualitative Forschung im Aufwind ist und man im klinischen Alltag vermehrt auf sogenannte Erfahrungsexpertinnen setzt. Das sind Personen, die beispielsweise selbst eine psychische Störung überstanden haben. In mehreren Projekten haben sich Fachleute bereits mit früheren Patienten zusammengesetzt, um von ihren Erfahrungen zu lernen. Das steht dem traditionellen Leitsatz von Xavier Bichat entgegen, einem der Begründer der medizinischen Pathologie im 18. Jahrhundert: Man solle nicht auf die Betroffenen hören, sondern nur auf die Anatomie.
Qualitative Interviews mit Erfahrungsexperten liefern nicht nur neues Wissen, sondern tatsächlich wichtige Informationen für die Praxis. Eine umfangreiche Studie über Depressionen zeigte zum Beispiel, dass sich Betroffene auch deshalb immer mehr zurückziehen, weil sie Kontakte mit anderen negativ interpretieren. Durch die Selbstisolation entgehen ihnen aber wichtige Chancen auf positive Erfahrungen. Am Ende drohen die völlige Antriebslosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Diese Analyse betrifft direkt das dritte E, Enaktivismus. Sie bietet neue Behandlungsmöglichkeiten und damit mehr, als Menschen mit Depressionen auf zukünftige Medikamente zu vertrösten. Allerdings zeigt auch die qualitative Forschung ein differenziertes Bild: Manche Patienten finden Psychopharmaka durchaus hilfreich, und nicht alle waren mit der angebotenen Psychotherapie zufrieden.
Idealerweise könnte man mit dem 5E-Ansatz Problemen sogar vorbeugen. Das lässt sich an einer einflussreichen neurowissenschaftlichen Studie verdeutlichen, die Stress in der Schwangerschaft mit späteren emotionalen Problemen von Töchtern in Verbindung setzte. In den Mandelkernen der betroffenen Mädchen fanden Hirnforscher nämlich Auffälligkeiten, die sie mit der Hormonregulation in Zusammenhang brachten. Bei aller Begeisterung für neuronale Mechanismen und medikamentöse Therapien vergaßen die Fachleute jedoch die eigentliche Ursache: dass der schädliche Stress in der Umgebung der Schwangeren entstand.
Auch wenn eine stressfreie Welt utopisch sein mag, haben arbeitsrechtliche Vorgaben, die Angebote von Hebammen und die Gesellschaft als Ganze durchaus Einfluss auf das Wohlergehen von Schwangeren. Solche Lösungen verbinden das erste und zweite E, Verkörperung und Einbettung, fallen aber nicht ins Repertoire von Hirnforschern.
In geeigneter Umwelt sind wir Geist
Die Zeit ist reif für Veränderung. Momentan scheint es, dass die Menschen umso kränker werden, je mehr wir uns mit Gesundheit beschäftigen. Neue Kampagnen, die darauf abzielen, dass psychische Störungen mehr Aufmerksamkeit bekommen, gehen mit längeren Wartelisten und mehr Medikamentenverschreibungen einher, während das Stigma bleibt. Gleichzeitig laufen nach wie vor viele Patienten mit unspezifischen, nicht lokalisierbaren Problemen wie Müdigkeit, Schwindel, Kopf-, Gelenk- und Rückenschmerzen von Facharzt zu Fachärztin. Diese Situation hat sich durch Covid-19 noch verschlimmert.
Die Erfolge der Naturwissenschaften und der modernen Medizin stehen nicht in Zweifel. Doch das, was nicht greif- und lokalisierbar ist, liegt nach wie vor brach. Seit über 200 Jahren scheitern reduktionistische Bemühungen in Psychologie und Psychiatrie an dem Nachweis, dass die Psyche letztlich doch nur Körper ist. Mit 5E Cognition kann man es umdrehen: Ein lebendiger Leib in einer geeigneten Umwelt ist Geist.
Die anfangs genannten Beispiele der Erschöpfung und Fettleibigkeit zeigen, dass sich Körper und Psyche oft nicht sinnvoll trennen lassen. Selbst wer an der Eigenständigkeit der somatischen Medizin festhalten will, muss doch die Bedeutung psychosozialer Faktoren für die Entstehung und Heilung „somatischer“ Erkrankungen einräumen. Die Allgegenwärtigkeit des Placeboeffekts – eigentlich eine Art geistiger Heilung – liefert ein weiteres Argument.
In der Zeit des Neoliberalismus suchen wir die Lösung von Problemen oft ganz selbstverständlich im Individuum: Ärztinnen, Coaches, Psychotherapeutinnen und Yogalehrer verstärken im heutigen Paradigma diese Sichtweise. 5E Cognition erinnert uns daran, dass viele Probleme in unserer Umwelt beginnen und auch dort gelöst werden können. Darum mahnt der britische Soziologe Nikolas Rose, der sich mit der Reform von Psychiatrie und klinischer Psychologie beschäftigt: Klinische Fachleute sollten nicht nur mit Erfahrungsexperten, sondern auch mit Architektinnen, Städteplanern und politischen Entscheidungsträgerinnen zusammenarbeiten, damit die Lebensbedingungen der Menschen besser werden.
Stephan Schleim ist promovierter Kognitionswissenschaftler und assoziierter Professor für theoretische Psychologie an der Universität Groningen in den Niederlanden.
Quellen
Thomas Fuchs: Psychiatrie als Beziehungsmedizin. Ein ökologisches Paradigma. Kohlhammer 2023
Stephan Schleim: Gehirn, Psyche und Gesellschaft. Schlaglichter aus den Wissenschaften vom Menschen. Springer 2021
Paolo Fusar-Poli u.a.: The lived experience of depression: a bottom-up review co-written by experts by experience and academics. World Psychiatry, 22/3, 2023, 352–365