Jeder Mensch ist zur Psychose fähig. Diesen Satz spricht der Berliner Psychiater Andreas Bechdolf aus, als rede er über das Wetter. Wie eine Selbstverständlichkeit. Und doch rüttelt er damit an einem Pfeiler, an dem sich viele in unserer Gesellschaft festklammern. Nämlich an der festen Annahme, dass Menschen mit Wahnideen und Halluzination völlig anders ticken als man selbst. Dass man mit „diesen Verrückten“ nichts gemein hat.
Zutreffend ist: Alles, was Erkrankte mit Psychosen erleben, kennen auch die…
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Verrückten“ nichts gemein hat.
Zutreffend ist: Alles, was Erkrankte mit Psychosen erleben, kennen auch die meisten von uns. Nur seichter, leiser, weniger massiv und lähmend, vor allem sozial akzeptierter. Im Alltag finden sich allerlei Beispiele dafür: Der unbehagliche Gedanke, die Kolleginnen und Kollegen sprächen in der Teeküche abfällig über einen (obwohl es dafür keine Beweise gibt), ist zum Beispiel weit verbreitet. Paranoia nennen Fachleute das. Dazu zählt auch das Gefühl, verfolgt zu werden. Das kennen vor allem Frauen, wenn sie nachts durch einen Park oder eine dunkle Straße gehen. Dieses beklemmende Gefühl: Da ist etwas im Busch.
Noch was: Kleben Sie an Ihrem Laptop die Kamera ab? Warum eigentlich? Wer lauert da auf Sie? Möglicherweise haben Sie auch schon mal (wie sich nachher herausstellte grundlos) über andere gedacht: „Die wollen mir doch eins auswischen!“ Oder: „Die schauen mich ständig so kritisch an.“
Aber auch Dinge zu sehen, zu hören, zu riechen oder gar zu spüren, die nicht da sind, das kennen die meisten von uns. Das Handy, das in der Tasche vibriert, und wenn man nachschaut, stellt man fest: Fehlalarm. Oder: Wenn abends das Kind im Bett und endlich Zeit ist, die Beine hochzulegen, hören manche ihr Kind weinen oder über den Flur tappen – dabei schläft es seelenruhig. Riecht es im Büro nach einem Brand? Und doch steht nichts in Flammen. All das entspricht einer Halluzination.
„Sehe ich Gespenster?“
Etwa acht Prozent der Allgemeinbevölkerung sammeln in ihrem Leben stärkere psychoseartige Erfahrungen – ohne psychisch erkrankt zu sein. In einer Firma mit 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben also im Schnitt vier Leute schon mal halluziniert oder wahnhafte Gedanken gehabt. Je nach Stichprobe, Fragebogen und wie eng man die Phänomene definiert, können die Zahlen noch höher ausfallen.
Zum Beispiel in einer Studie der Universität Groningen in den Niederlanden. Die Psychiaterin Mascha Linszen führte 2021 eine große Befragung mit mehr als 10000 Menschen zwischen 14 und 88 Jahren durch. Unter dem Motto „Sehe ich Gespenster?“ befragte sie Leute nach ihren Erfahrungen mit Halluzinationen. Nur knapp 20 Prozent der Teilnehmenden kannten solche Phänomene nicht.
Alle anderen berichteten von reichlich Beispielen: Allein in den sieben Tagen vor der Befragung erlebten fast 15 Prozent akustische Wahrnehmungen, die nicht real waren. Sie hörten jemanden ihren Namen rufen, Musik, das Telefon klingeln, Schritte oder knarzende Türen. Etwa 12 Prozent sahen Schatten, Menschen, Bewegungen, Farben oder Lichter. Fast gleich viele spürten einen Windhauch oder dass sie jemand berührte – auch wenn das nicht wirklich geschah. Etwa jede zehnte Person roch Feuer, Blumen oder auch Essen und Trinken, deren Geruch nicht in der Luft lag.
Wie gut diese Zahlen die realen Verhältnisse abbilden, ist unklar. Die Studienautorin räumt ein, dass die Erhebung anonym ablief und somit nicht geprüft werden kann, wie zuverlässig die Angaben waren. „Das Maß an Anonymität könnte aber auch die Schwelle dafür gesenkt haben, teilzunehmen und offen und ehrlich von Phänomenen zu berichten, die normalerweise mit Scham und Furcht verbunden werden“, erklärt die Studienautorin.
Halluzinationen am Spektrum
Fachleute aus Psychiatrie und Psychotherapie gehen schon lange davon aus, dass die Wahrnehmungsstörung auf einem Kontinuum zu betrachten ist. Man kann sich das vorstellen wie eine moderne Lampe: Die hat statt eines Schalters für An oder Aus einen Dimmer. Und der ermöglicht es, das Licht von ganz dunkel bis ganz hell mit vielen kleinen Abstufungen zu verändern.
Für unsere Wahrnehmung heißt das: Es gibt einerseits Menschen, die psychoseartige Erfahrungen sammeln und gänzlich gesund sind, sowie am anderen Ende des Spektrums Menschen mit schweren psychotischen Erkrankungen, die die Realität verkennen, darunter leiden und ihren Alltag nicht mehr führen können – und ganz viel dazwischen. Und das ist fast überall im Leben so: „Selbst die kategorialsten Unterscheidungen (etwa das Geschlecht) haben verwaschene Grenzen (zum Beispiel eine nichtbinäre Geschlechtsidentität)“, kommentiert ein Forschungsteam aus London in einem Studienbericht zum Stimmenhören. „Die Übergänge von Gesund zu Pathologisch sind bei den meisten psychischen Erkrankungen fließend, so auch bei Psychosen“, ergänzt Bechdolf, der in der Psychiatrie im Vivantes-Klinikum am Urban in Berlin Chefarzt ist.
Paranoide Skepsis schützt uns
Dass wir alle diese Wahrnehmungen haben können, ergibt durchaus Sinn. Vieles, was gesunde Menschen halluzinieren, sind Signale, die wir evolutionär betrachtet wahrnehmen müssen, um unser Überleben zu sichern, wie den Geruch von Rauch, das Schrillen einer Sirene, Schritte hinter uns, aber auch den Geruch von Essen und wenn unser Kind schreit. Lieber einmal zu viel darauf reagiert, als einmal zu wenig. Ähnlich verhält es sich mit paranoiden Gedanken. Würden wir fremden Menschen gegenüber immerzu vertrauensvoll und offen sein, wären wir leicht auszubeuten. Manchmal ist es einfach sicherer, noch einen Moment skeptisch zu bleiben, wenn wir nicht wissen, mit welcher Intention jemand auf uns zugeht.
Lange hat man im Gehirn nach Fehlverknüpfungen in den Synapsen oder nach Genen gesucht, um Psychosen erklären zu können. Diese sollten so was wie der An-aus-Schalter sein. Doch den hat man nicht gefunden. Stattdessen gibt es heute mehrere psychologische Ansätze, die erklären können, woher psychoseartige Erlebnisse bei Menschen kommen – egal ob im alltäglichen oder krankhaften Ausmaß.
„Besonders große Anspannung, Angst oder Isolation begünstigen, dass psychotische Symptome auftreten“, erklärt der Berliner Psychiater Bechdolf. Der kanadische Psychologe Donald Hebb hat das in den 1950er Jahren mit einem Experiment besonders deutlich gezeigt: Junge gesunde Studenten sollten für unbestimmte Zeit in einem kleinen viereckigen Raum leben. Eine Brille verhinderte, dass sie etwas sahen. Über Kopfhörer hörten sie nur ein summendes Geräusch. Die Hände wurden in Boxen gelegt, damit sie nicht so viel ertasten konnten. Hebb rechnete damit, dass dieses Experiment sechs Wochen andauern könnte. Nach sieben Tagen endete der Versuch. Manche Teilnehmenden entwickelten intensive Wahngedanken, andere handfeste Halluzinationen.
Jeder kann halluzinieren
Auch eine Einzelhaft, etwa in Justizvollzugsanstalten, kann solche Auswirkungen haben, wie Medien- und auch Forschungsberichte immer wieder zeigen. Der Auslöser: Vermutlich die massive Einsamkeit und der Mangel an Sinneseindrücken. Das Gehirn scheint den fehlenden Input von außen mit eigenen Bildern und Empfindungen auszugleichen. Auf diese Weise erklären sich Medizinerinnen und Mediziner auch Phantomschmerzen, wie Menschen sie manchmal nach einer Amputation im gar nicht mehr vorhandenen Bein oder Arm verorten. Personen mit Hörschaden wiederum neigen zu Tinnitus, also zu einem Fiepen oder Klingeln im Ohr – auch eine Simulation des Gehirns.
Forschende aus Frankreich und der Schweiz haben sogar ein Experiment entwickelt, mit dem sie bei den Teilnehmern und Teilnehmerinnen recht zuverlässig das Stimmenhören auslösen konnten. In einem Gespräch mit der New York Times schlussfolgert der Studienleiter Pavo Orepic von der Universität Genf: „Jeder Einzelne von uns kann halluzinieren. Manche neigen eher dazu, andere nur zu bestimmten Zeiten, zum Beispiel wenn sie müde sind.“
Alter Herr, halbnackte Frau
Eine entrückte Sicht auf die Welt scheint zudem eng mit kognitiven Verzerrungen verknüpft zu sein, denen alle dann und wann mal unterliegen. Ein kanadisches Forschungsteam listete in einer Übersichtsarbeit mehrere Denkfehler, die nachweislich psychoseartige Erfahrungen begünstigen, sowohl bei Menschen mit hohem Risiko für eine Psychose als auch bei jenen ohne das Risiko.
Allen voran jumping to conclusions, also das vorschnelle Schlussfolgern. Manche Menschen legen sich zum Beispiel bei Kippbildern besonders eilig fest, was sie sehen. Sie erkennen nur den alten Herrn, nicht aber die halbnackte Frau im Bild. Wenn sie zwei Menschen laut miteinander reden hören, gehen einige direkt von Streit aus – auch wenn es vielleicht einfach die Art ist, wie die beiden miteinander reden. Grüßt die Nachbarin nicht auf der Straße, kann das nur daran liegen, dass sie einen nicht mag. Die vorschnellen Entscheidungen im Kopf müssen nicht unbedingt falsch sein, aber sie verhindern, dass man die Lage ausreichend betrachtet und erst dann (korrekt) einordnet.
Andere haben den Hang dazu, an der eigenen Denkweise oder Überzeugung festzuhalten, selbst wenn es bereits zahlreiche Gegenbelege dafür gibt, die einen umstimmen müssten. Dieser belief inflexibility bias ließ sich zum Beispiel auf Demonstrationen während der Pandemie in großem Ausmaß beobachten, als tausende (psychosegesunde) Menschen davon überzeugt waren, dass es das Coronavirus nicht gibt.
Vom Stress zum Wahn
Eine weitere Ebene, die hier mit hineinspielt, sind Gefühle. Tania Lincoln, Psychologieprofessorin an der Universität Hamburg, erforscht die Denkmuster und Emotionen bei Psychosen seit fast 20 Jahren. „Setzt man Menschen unter akuten Stress, steigen körperliche Anspannung und negative Gefühle an. Diese wiederum begünstigen nachweislich Wahngedanken“, fasste sie 2023 in einem Vortrag auf dem Psychiatriekongress der DGPPN in Berlin die aktuelle Forschung dazu zusammen.
Tania Lincoln hat bereits 2009 den Wahnfragebogen Peters et al. Delusions Inventory ins Deutsche übersetzt und damit eine repräsentative Stichprobe mit mehr als 400 Menschen befragt, von denen ein Teil die Diagnose Schizophrenie hatte, ein Teil nicht. Sie sollten ankreuzen, welche wahnhaften Gedanken sie von sich kannten, aber auch, wie sie diese empfanden.
Das Überraschende: Würde man in dieser Stichprobe nur zählen, wie vielen wahnhaften Aussagen die Teilnehmenden zugestimmt haben, dann müssten 24 Prozent der gesunden Befragten am Ende die Diagnose Schizophrenie erhalten. Üblich ist sie normalerweise bei einem Prozent der Bevölkerung. Mehr noch: Bei den schizophren Erkrankten blieben nach der Auszählung 37 Prozent ohne Diagnose. Was also macht den Unterschied zwischen Gesund und Erkrankt? Zwischen verzerrter Weltsicht und krankhafter Wahrnehmung?
Eine klare Grenze geben die Diagnosehandbücher wie das ICD-11 von der Weltgesundheitsorganisation vor. Damit eine psychiatrische Diagnose vergeben werden kann, müssen immer zwei Dinge erfüllt sein: Die Menschen können nicht mehr an alltäglichen Aktivitäten wie Beruf, Schule, Freizeitbeschäftigungen teilnehmen – oder sie sind darin stark eingeschränkt – und sie leiden unter den Symptomen. Tania Lincoln hat in ihrer Forschung weitere Unterschiede ausgemacht: „Menschen mit Psychosen erleben ihre Wahngedanken als bedrohlicher und verstörender. Sie sind mehr davon überzeugt, dass sie der Wahrheit entsprechen, und sie kreisen gedanklich viel mehr drumherum“, erklärt sie in einer Studie von 2007.
Stimmen als hellseherische Kraft
Möglicherweise ist genau dies der Knackpunkt: mit welchem Gefühl man die seltsame Wahrnehmung verbindet. Das legen auch Forschungsprojekte der US-amerikanischen Yale School of Medicine nahe. Sie haben Hellseherinnen und Hellseher untersucht, die Stimmen hören und glauben, dabei mit Toten zu kommunizieren. In einer umfangreichen Untersuchung klärte das Team um Psychiatrieprofessor Albert Powers zunächst, ob die Hellsehenden wirklich Stimmen hörten, darunter war auch ein Fragebogen, der Betrug recht zuverlässig enttarnt. Die Forschenden widmeten sich dann der Kernfrage: Was unterscheidet Menschen mit Schizophrenie, die Stimmen hören, von Hellseherinnen und Hellsehern? Ihr Befund: Wie sie die Stimmen bewerten.
Hellsehende empfanden die Stimmen als freundlich, kontrollierbar und sogar als Geschenk, nicht als eine Last. Eine Studienteilnehmerin, die später sogar selbst zum Yale-Forschungsteam gehörte, berichtete im Magazin der Universität, dass sie schon als Mädchen begonnen habe, Stimmen zu hören, und ab dem 16. Lebensjahr deshalb in Therapie war und Medikamente nahm. Ihr Leben wandelte sich erst mit Anfang zwanzig: Ein Arbeitskollege hatte sie ermuntert, die Stimmen als eine hellseherische Kraft zu verstehen. Ihre Stimmen sind heute ihre Guides, sie nimmt keine Medikamente mehr, arbeitet als Hellseherin und psychologische Beraterin.
Bedürfnis, zwischen Realität und Fiktion zu trennen
Nicht alle können diesen Weg gehen, aber er skizziert, wie wichtig der eigene Blick auf die Wahrnehmungsphänomene ist. Dieser scheint stark von der eigenen Kultur abzuhängen. Das unterstreicht eine internationale Studie unter der Leitung der Universität Hamburg mit beeindruckenden Befunden. Das Team aus 13 Ländern verglich insgesamt über 7100 Menschen hinsichtlich ihrer psychoseartigen Erlebnisse; die Teilnehmenden kamen aus Staaten mit hohem Einkommen (wie Deutschland, Kanada, Schweden) und solchen mit mittlerem oder niedrigem Einkommen (etwa Indien, Ghana, Kolumbien). In allen Regionen der Welt gibt es demnach gesunde Menschen, denen bizarre Dinge widerfahren, die halluzinieren, paranoide Gedanken haben oder an Magie glauben.
In den ärmeren Ländern berichteten die Menschen deutlich öfter davon als in reicheren Nationen. Ein Beispiel: In Mexiko sagen 50 Prozent, dass sie Halluzinationen erlebt hätten, in Deutschland nicht mal 10 Prozent. Das Faszinierende: Die Menschen in den weniger wohlhabenden Regionen empfanden die psychoseartigen Erfahrungen bei weitem nicht als so belastend wie die in den anderen Erdteilen – und erkrankten deshalb im Verhältnis betrachtet seltener psychisch.
Wie kommt das? Menschen in den Regionen mit niedrigem oder mittlerem Einkommen haben früheren Erhebungen zufolge nicht so ein großes Bedürfnis, zwischen Realität und Fiktion zu trennen, wie Menschen aus westlichen Kulturen. Sie haben deshalb vielleicht eine niedrigere Schwelle, solche Phänomene überhaupt wahrzunehmen, notieren die Studienautorinnen und -autoren.
Gleichzeitig seien psychotische Erfahrungen dort sozial nicht so geächtet wie in westlichen Kulturen, so dass die Menschen sich eher trauen, davon zu berichten. Möglicherweise entlastet bereits das. Psychoseartige Symptome gleichen bei Menschen in westlichen Gesellschaften, die individualistisch ausgerichtet sind, einem gestörten Selbst und lösen deshalb eher ein Gefühl der Bedrohung aus. Sie haben dadurch schnell etwas Krankhaftes. Zugespitzt gefragt: Würde man hierzulande über Psychosen und leichtere Formen so selbstverständlich sprechen wie über Schnupfen und Heiserkeit und sie weniger ächten – könnte das Menschen vielleicht davor bewahren, überhaupt psychisch zu erkranken?
Kein wildfremder Zustand
Georg Schomerus hat gemeinsam mit anderen Forschenden schon mehrfach gezeigt, dass die Bevölkerung zahlreiche Vorurteile gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen hegt, vor allem mit Schizophrenie (deren Kernbestandteil Psychosen sind), und von ihnen am liebsten reichlich Abstand hält. Der Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig offenbarte: Die große Mehrheit will die Erkrankten nicht in der Nachbarschaft, als Kollegin oder als Schwiegersohn haben.
Dass Depressionen Abstufungen haben und auch gesunde Menschen Symptome wie Niedergeschlagenheit erleben können, ist weithin akzeptiert. Anders bei Schizophrenie. Schomerus und sein Team legten 2011 und 2020 mehreren tausend Menschen einen Fallbericht von jemandem vor, der entweder an Depression oder Schizophrenie erkrankt war, ohne dass diese Diagnose explizit erwähnt wurde. Die Befragten sollten dann die Aussage bewerten: „Im Grunde geht es uns allen manchmal so wie dieser Person. Es ist nur eine Frage, wie ausgeprägt der Zustand ist.“
Bei jemandem mit Depressionen stimmten dieser Aussage 2020 viel mehr Menschen zu als noch 2011, nämlich fast jede zweite Person. Bei jemandem mit Symptomen einer Schizophrenie ging die Zustimmung zurück. Vier von fünf Befragten wollten sich nicht in einer Reihe mit Personen sehen, die an Schizophrenie erkrankt sind. Mehr noch: Sie wollten 2020 mehr Abstand zu ihnen als noch vor wenigen Jahren.
Schomerus zeigte in seinen Untersuchungen aber auch, dass Menschen, die weniger Unterschiede zwischen sich und schizophren Erkrankten sehen, diese auch eher als Teil der Gesellschaft akzeptieren und nicht so viel Abstand zu ihnen wünschten. Wenn sich also der Gedanke durchsetzt, den die Forschung längst als bewiesen ansieht, nämlich dass Psychosen kein wildfremder Zustand sind, sondern eine starke Steigerung von dem, was wir alle erleben können, dann würde daran erkrankten Menschen möglicherweise mehr Verständnis zuteil, vielleicht sogar mehr Mitgefühl und Hilfe. Denn im Grunde geht es uns doch allen manchmal so.
Psychose
Während einer Psychose erleben Menschen die Realität stark verzerrt. Sie haben fehlerhafte Überzeugungen, wie etwa dass sie verfolgt würden oder jemand sie vergiften möchte (Wahn). Betroffene erleben zudem Halluzinationen: Sie sehen, riechen, hören oder schmecken Dinge, die nicht da sind (zum Beispiel Stimmen oder Schatten). Psychosen können bei Schizophrenie, während einer Depression, Demenz oder durch Drogen auftreten.
Quellen
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