Das Schattenkind

Therapiestunde: Der Klient steht zwischen zwei Frauen. Doch dieser Konflikt stellt aus Sicht der Therapeutin gar nicht das eigentliche Problem dar.

Zwei Frauen stehen bei einem Mann, an dem sich ein Schatten aus der Vergangenheit klammert
Für wen soll ich mich entscheiden? Zuerst sollte man sich von dem Schatten der Vergangenheit lösen. © Michel Streich

Der 42-jährige Klient wirkt wesentlich jünger: Er ist trainiert, tätowiert, lässig. Im Gespräch zeigt er sich jedoch nicht cool oder gar abgeklärt, sondern macht einen emotional warmen und zugewandten Eindruck.

David erzählt, dass er unter einem Entscheidungskonflikt leide. Er befinde sich in einem Dreiecksverhältnis mit zwei Frauen, die voneinander auch wüssten. Sie setzten ihn beide unter Druck, eine Entscheidung für die eine oder andere zu treffen, aber er sei hierzu einfach nicht in der Lage. Die…

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die eine oder andere zu treffen, aber er sei hierzu einfach nicht in der Lage. Die Situation sei für alle Beteiligten schlimm, und er schäme sich auch dafür.

Beide hätten sehr unterschiedliche Vorzüge: Die eine sei sehr klug, sie führten tolle Gespräche, aber es mangele ihr fast gänzlich an Humor. Bei der anderen verhalte es sich genau umgekehrt. „Am liebsten wäre es mir, man könnte aus beiden eine machen“, erklärt er mit einem selbstironischen Lächeln. Er habe schon umfangreiche Listen mit „Pros und Contras“ für die eine und andere Frau erstellt, aber auch dies habe ihn keinen Schritt weitergebracht. Er hänge an beiden Frauen und könne sich von keiner trennen.

Unbewusste Bindungsangst

Aus meiner therapeutischen Erfahrung weiß ich, dass derartige Entscheidungskonflikte meist mit einer unbewussten Bindungsangst einhergehen. Eine Entscheidung kann man deswegen nicht durch eine Abwägung der Vorzüge und Schwächen der „Kandidatinnen“ herbeiführen. Auch David tritt mit diesem Lösungsversuch auf der Stelle.

Ich frage ihn nach früheren Beziehungserfahrungen und will wissen, ob er sich bei anderen Partnerinnen besser festlegen konnte. Er berichtet von seiner längsten Beziehung, die sechs Jahre gehalten habe. Melanie und er hätten wirklich gut zusammengepasst, doch ihr Wunsch nach einer gemeinsamen Wohnung habe ihm den Hals zugeschnürt, so David.

An dieser Stelle hake ich nach: „Was schnürt Ihnen den Hals zu bei der Vorstellung, mit Ihrer Freundin zusammenzuziehen?“ Er habe das Gefühl, nicht wirklich er selbst sein zu können, wenn seine Freundin in der Nähe sei. Nach einem langen Tag möchte er mit einem Bier auf der Couch abhängen. Wenn seine Freundin jedoch da sei, dann müsse er ihr ja irgendwie Aufmerksamkeit schenken und sich um sie kümmern. „Aha! Da haben wir ja den Grund für Ihre Beziehungsprobleme!“, rufe ich aus, woraufhin David mich verblüfft anschaut.

Bindungsängstliche tragen die tiefe und zumeist unbewusste Überzeugung in sich: Entweder lebe ich in einer Beziehung – oder ich bin ein freier Mensch! Die Partnerschaft, so empfinden sie es, steht gewissermaßen im Konflikt zu ihrem eigenen Leben. Nach der ersten Verliebtheit fühlen sie sich recht bald von den Erwartungen ihrer Partner nach Nähe und Gemeinsamkeit eingeengt.

Sobald die Beziehung verbindlich wird, mutiert der Partner in den Augen der Betroffenen zum Invasor und Freiheitsdieb. Ihre Gefühle erkalten, sie gehen auf Distanz. Manche lassen sich nur auf Fernbeziehungen ein, bei denen der benötigte Freiraum von vorneherein gegeben ist. Aber auch eine Dreiecksbeziehung lässt ausreichend Rückzugsräume, um die Angst vor Nähe in Schach zu halten.

Frei – trotz Beziehung

Die Lösung für dieses Problem lautet: Ich bin frei und in einer Beziehung. Das Gefühl der Freiheit in einer Beziehung entsteht, wenn man sich authentisch verhält und zu seinen Bedürfnissen steht. Konkret würde dies für David bedeuten, dass er sich gestattet, nach einem langen Arbeitstag auf der Couch abzuhängen, auch wenn seine Freundin in der Nähe ist.

David trägt nämlich wie seine Leidensgenossinnen und -genossen die tiefe Überzeugung in sich: Wenn ich will, dass du mich liebst, so muss ich deine Erwartungen erfüllen! Deswegen glaubt er, dass er sich nicht frei verhalten kann, wenn er mit seiner Freundin zusammen ist. Derartige psychische Programme entstehen, wenn man sich als Kind nicht wirklich von seinen Eltern geliebt gefühlt hat – zumindest nicht unter der Bedingung, dass man so ist, wie man wirklich ist.

Die Entscheidung, die David zu treffen hat, hat also wenig mit den vermeintlichen Vor- oder Nachteilen seiner beiden Kandidatinnen zu tun, sondern führt über sein Selbstwertgefühl. Als ich David dies zurückmelde, ist er überrascht: „Ich habe doch ganz viel erreicht im Leben, bin auch fit und sportlich und sehe doch nicht übel aus. Ich dachte, mein Selbstwert wäre ganz okay!“ Ich antworte, das seien auch alles richtige Überlegungen und er könne zu Recht stolz auf sich sein. Aber vermutlich gebe es da noch eine tiefere Ebene, ein sogenanntes Schattenkind in ihm, das vielleicht ganz anderer Auffassung sei. Das Schattenkind steht in meinem Therapieansatz für jene Kindheitsprägungen, die unsere „negativen Störprogramme“ erzeugt haben.

Das Echo aus der Vergangenheit

Wie sich im weiteren Gespräch herausstellt, entstammt David keiner rosigen Kindheit. Sein Vater war ein Alkoholiker, der die Familie tyrannisierte und die Mutter schlug. Die Eltern trennten sich, als David sechs Jahre alt war. Seine Mutter blieb alleinerziehend mit vier Kindern zurück und war heillos überfordert. Der kleine David war ihr eine besondere Last –  aggressiv und kaum zu lenken. Während David mir seine Geschichte erzählt, frage ich ihn: „Wie fühlt sich das jetzt in Ihnen an?“ „Traurig“, erklärt er, „ich war das schwarze Schaf und ich kann das immer noch fühlen.“

„Okay“, sage ich, „jetzt sind Sie mit Ihrem Schattenkind im Kontakt. Wie denkt das Schattenkind über sich?“ „Ich bin schlecht, ich bin böse, keiner will mich haben“, entfährt es David spontan. „Wenn Sie jetzt noch einmal an Ihre Liebesbeziehung zu den zwei Frauen denken, was fühlt Ihr Schattenkind?“ „Es fühlt, dass es sowieso keiner Frau gerecht werden kann und verlassen wird“, antwortet er, während ihm die Tränen über die Wangen laufen.

Nun frage ich ihn, ob ich einmal mit seinem Schattenkind sprechen dürfe, was er bejaht. Nachdem ich ihn kurz auf die folgende Intervention vorbereitet habe, richte ich diese Ansprache an sein Schattenkind:

„Oh je, du armes Kind. Du hattest es wirklich schwer mit Mama und Papa. Papa hat immer nur gesoffen und war total aggressiv, so dass du wirklich Angst vor ihm hattest. Deine Eltern haben sich ständig gestritten, und Papa hat die Mama geschlagen. Du warst ganz allein und hattest furchtbare Angst. Als Papa dann endlich weg war, wurde es auch nicht besser. Mama war total überfordert, und du warst immer noch ganz einsam. Das alles hat dich furchtbar wütend gemacht und deine Wut hast du an deinen Geschwistern ausgelassen. Und weil das alles so schlimm war, denkst du heute noch: ‚Ich bin ein schlechter Junge und keiner will mich haben!‘ Aber bitte hör mir gut zu: Das war alles nicht deine Schuld. Papa hätte einen Entzug machen müssen und Mama eine Psychotherapie. Nun stell dir bitte einmal vor, du hättest ganz heile Eltern gehabt, die fast alles richtig gemacht hätten. Dann wüsstest du, dass deine Eltern unheimlich stolz sind, so einen tollen Jungen zu haben. Dass sie dich ganz arg lieb haben und kein anderes Kind der Welt gegen dich eintauschen würden. Du bist liebenswert und genügst vollkommen, so wie du bist.“

David weint und sagt, so lieb habe noch nie jemand mit ihm gesprochen. Und es stimme ja, seine Eltern hätten viele Fehler gemacht, und sein inneres Programm, sein Schattenkind sage eigentlich gar nichts über seinen tatsächlichen Wert aus, sondern lediglich darüber, wie schlimm es damals gewesen sei.

In weiteren Sitzungen wird David lernen, seinem Schattenkind selbst ein guter „Papa“ zu sein, der es liebevoll lenkt. Und vor allem wird er lernen, sich nicht mehr mit seinen negativen Glaubenssätzen zu identifizieren, sondern sie klar zu erkennen als das, was sie sind: ein falsches Echo aus der Vergangenheit.

Stefanie Stahl ist Diplompsychologin und arbeitet in freier Praxis in Trier. Sie schrieb die beiden Bestseller Das Kind in dir muss Heimat finden und Jeder ist beziehungsfähig, die bei Kailash erschienen sind. Ihr zusammen mit Julia Tomuschat verfasstes aktuelles Buch trägt den Titel Nestwärme, die Flügel verleiht (Gräfe & Unzer) 

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2019: Die Kraft des Atmens