Fast die Hälfte der 11- bis 15-Jährigen erleben Studien zufolge schulbezogene Ängste und Stress. Die Gründe dafür sind vielfältig: hohe Leistungsanforderungen und Lernschwierigkeiten, ein schlechtes Klima in der Klasse bis hin zu Mobbing, aber auch laute Klassen und angestrengte Lehrkräfte.
Diplom-Psychologin Elisabeth Raffauf und Dr. Arne Bürger, leitender Psychologe der Institutsambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Universitätsklinik Würzburg, sprechen im…
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Fast die Hälfte der 11- bis 15-Jährigen erleben Studien zufolge schulbezogene Ängste und Stress. Die Gründe dafür sind vielfältig: hohe Leistungsanforderungen und Lernschwierigkeiten, ein schlechtes Klima in der Klasse bis hin zu Mobbing, aber auch laute Klassen und angestrengte Lehrkräfte.
Diplom-Psychologin Elisabeth Raffauf und Dr. Arne Bürger, leitender Psychologe der Institutsambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Universitätsklinik Würzburg, sprechen im Interview mit Psychologie Heute über Ursachen von Schulstress und Leistungsdruck und was Eltern zuhause sowie Lehrkräfte in der Schule tun können.
Dieses Interview ist im Nachgang des Psychologie Heute Live-Talk zum Thema Schulstress und Leistungsdruck bei Kindern und Jugendlichen entstanden. Wenn Sie die dazugehörigen Video-Aufzeichnung des Experten-Talks zu dem Thema anschauen möchten, klicken Sie hier. Im Interview stellen wir unseren zwei Experten diejenigen Fragen unserer Zuschauerinnen und Zuschauer, die in unserer Live-Veranstaltung unbeantwortet geblieben sind.
Ursachensuche: Woher kommt der Stress?
Sind Schulstress und Leistungsdruck ein Phänomen unserer Zeit – oder gab es das früher auch schon?
Bürger: Es ist schon so, dass Daten, wie z.B. die KIGGS- und COPSY-Studie, darauf hindeuten, dass es heute mehr psychische Auffälligkeiten und höheren Stress gibt als früher. Gleichzeitig muss man auch sagen, dass wir heute viel offensiver und systematischer danach fragen. „Wie geht es dir denn?“, hat man Kinder in den 70er Jahren höchstwahrscheinlich nicht gefragt – oder ob sie sich gestresst fühlen, weil Schule damals von der Bedeutung her überhaupt nicht gleichgesetzt wurde mit Arbeit. Das ist heute anders.
Heute ist zum einen der akademische Leistungsdruck stärker, und wir haben immer höhere Standards. Dann ist die Digitalisierung ein großes Thema. Man muss 24 Stunden präsent sein, es gibt Informationen im Überfluss, ich muss differenzieren können, was wichtig ist und was nicht. Da haben die Kinder und Jugendlichen heute mit den Sozialen Medien schon durchaus ein Problem, sie müssen lernen zu differenzieren, welche Informationen sie brauchen und welche nicht.
Aber auch in der Gesellschaft allgemein schauen wir anders auf das Thema Stress: Lehrerinnen und Lehrer diskutieren es mit ihren Klassen, es gibt Präventionsprogramme an Schulen und insgesamt eine Sensibilisierung für das Thema.
Und dann haben wir noch den Punkt Zeitdruck: Wir alle sind durchgetaktet, früher hatte man mehr Leerlaufzeiten – auch die Kinder. In der ersten, zweiten Klasse sollten Kinder eigentlich noch zwei bis drei Stunden am Tag spielen, und damit meine ich nicht am Computer. Das ist etwas, was ich in meiner klinisch-therapeutischen Arbeit heute kaum noch sehe, dass Kinder wirklich so lange spielen dürfen oder können. Es ist allerdings wichtig, um die Woche zu verarbeiten. Während die Tochter in der Playmobilschule Situationen nachspielt, die in der Woche passiert sind, erfahren die Eltern erstmals davon und können Lösungsmöglichkeiten mit dem Kind erspielen.
Gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern, was Leistungsdruck angeht?
Raffauf: Darüber habe ich keine Zahlen. Druck erleben sicher beide. Aber Mädchen und Jungen gehen mit dem Druck unterschiedlich um. Pädagoginnen und Pädagogen beobachten, dass Mädchen sich häufig angepasster verhalten und leistungsorientierter sind. Sie haben am Ende durchschnittlich bessere Noten als die Jungen. Ob Jungs gelassener damit umgehen können? Manche ja und manche nein.
Social Media und Medien
„Stress und Leistungsdruck werden vor allem dadurch begünstigt, dass sich viele Kinder nur noch über eine kurze Zeitspanne konzentrieren können – unter anderem aufgrund eines dauerhaften Medienkonsums“, schreibt eine Lehrerin bei uns im Chat. Was können Lehrerinnen und Lehrer tun, um das Problem Handy- und Medienkonsum langfristig in den Griff zu bekommen?
Raffauf: An den meisten Schulen gibt es eine Handy-Regel, in der Schule und im Unterricht sind Handys verboten, manche Lehrerinnen und Lehrer sammeln die Smartphones auch zu Unterrichtsbeginn ein. Wichtig ist, dass es von der Schulleitung eine klare Ansage gibt, wie es gehandhabt wird – und diese Regel den Schülerinnen und Schülern und den Eltern klar kommuniziert wird. Es macht auch Sinn, Elternabende zu veranstalten, an denen über das Thema Mediennutzung geredet wird. Aber natürlich sind Lehrkräfte auch in gewissen Punkten machtlos, weil sie nicht in der Hand haben, wie der Smartphone-Konsum zum Beispiel von den Eltern vorgelebt wird.
Bürger: Kompetenter Medienumgang als Schulfach wäre sinnvoll. Manche Schulen haben das schon, aber es wäre wirklich hilfreich, bundesweite Standards einzuführen. Es gibt immer mehr Schülerinnen und Schüler, die sich ganze Aufsätze von der KI schreiben lassen und dann nicht mehr selber nachdenken. Teilweise habe ich das Gefühl, dass auch Lehrkräfte noch zu wenig über KI wissen und sich selbst fortbilden sollten.
Stressprävention
Herr Bürger, Sie haben das deutschlandweite schulische Präventionsprogramm LessStress für die Jahrgangsstufen 6 bis 12 entwickelt. Wenn Sie Lehrkräften oder Eltern nur einen Stress-Präventionstipp für ihr Kind mit auf den Weg geben könnten, welcher wäre das?
Bürger: Was ich für beide Gruppen sehr hilfreich finde, ist Achtsamkeit. Damit meine ich einen bewussten, achtsamen Umgang im Alltag insgesamt, gar nicht nur in der Schule. Also wirklich nur eine Sache machen, kein ständiges Multitasking versuchen. Jede und jeder kann bei sich selbst anfangen und im Alltag darauf achten, nur eine Sache und nicht drei oder vier parallel zu machen. Zum Beispiel beim Essen nicht nebenbei auf das Smartphone oder den Fernseher schauen.
Und das andere ist, wertschätzend miteinander zu sprechen. Ich weiß, dass Eltern gerne schnell Lösungen vorschlagen, am besten schon nach dem ersten oder zweiten Satz des Kindes, weil sie schnell helfen wollen. Wenn zum Beispiel der Satz kommt: „Ich habe heute keine Lust, in die Schule zu gehen.“ Dann sollte man sich Zeit nehmen und erst einmal drei oder fünf Minuten zuhören. Und erst wenn ich verstanden habe, was das Problem meines Kindes ist, eine Lösung vorschlagen.
Schulstress in der Grundschule
Woran kann man Schulstress und Leistungsdruck bei Grundschulkindern erkennen?
Raffauf: Jüngere Kinder klagen häufig erstmal über körperliche Beschwerden: „Ich habe so Bauchschmerzen“ oder „Ich habe so Kopfweh“. Andere sagen: „Ich möchte nicht in die Schule gehen.“ Oder sie sind lustlos und träumen sich weg. Ältere Kinder können eher ausdrücken, dass es ihnen zu viel ist. Dann ist die Frage: Woher kommt der Druck?
Ist es, weil die beste Freundin immer Einsen hat und ich selber habe nur eine Zwei? Oder ist es, weil sie hören: „In der Grundschule musst du Einser und Zweier schreiben, sonst kriegst du keine Empfehlung für eine weiterführende Schule?“
Grundsätzlich ist es wichtig, in Kontakt mit seinem Kind zu sein, um mitzubekommen, wenn sich seine Stimmung, seine Gewohnheiten oder sein körperliches Befinden verändern. Dann wird man merken, wenn es ihm nicht gut geht und es etwas belastet. Und vielleicht ist das, was sich an Druck in schulischen Dingen äußert, in Wahrheit etwas Privates.
Wie kann man die Kinder unterstützen?
Raffauf: Indem erstmal klar ist, dass es für ihre Themen Raum gibt und man sagt: Es hat Vorrang, dass es dir gut geht. Vielleicht müssen wir nicht über Schule sprechen, sondern darüber, was bei uns zu Hause los ist oder was mit deinen Freundinnen und Freunden gerade passiert.
Wenn der Stress daher kommt, dass das Kind sich durch die Leistungsanforderungen überfordertet fühlt, dann ist die Frage: Ist das nur etwas Momentanes, bei dem man ganz konkret helfen kann? Oder vielleicht auch andere unterstützen können: Geschwister, Mitschüler, Tanten, Onkel? Oder ist das Kind grundsätzlich überfordert? Dann ist es wichtig, mit der Lehrerin oder dem Lehrer in Kontakt zu gehen.
Vielleicht ist es auch so, dass auch andere Kinder Probleme mit dem Stoff oder der Lehrkraft haben. Deshalb hilft es manchmal auch zu fragen: Geht das den anderen Kindern auch so? Vielleicht ist das eigene Kind gar nicht alleine mit dem Problem und man kann gemeinsam mit der Lehrerin oder dem Lehrer sprechen.
Übertritt und Schulwechsel
Ein Kind äußert in der vierten Klasse den Wunsch nach einem Wechsel aufs Gymnasium. Die Noten und die Lehrer-Empfehlung sprechen zwar dagegen, doch die Eltern könnten auf den Übertritt bestehen. Inwieweit sollte man dem Wunsch des Kindes nachgehen? Oder besser auf die Empfehlung der Lehrerinnen vertrauen?
Bürger: In der vierten Klasse ist ein Kind ja noch relativ klein, und es wird eine Entscheidung getroffen, die sehr wegweisend ist. Ich würde in einem solchen Fall mit der Klassenlehrerin reden. Vorausgesetzt, die Eltern haben ein Vertrauensverhältnis und das Gefühl, dass die Lehrkraft ihr Kind gut einschätzen kann. Das Kind sollte vorab über solche Gespräche immer informiert und gegebenenfalls ein gemeinsames Gespräch geführt werden.
Noch besser ist, mit dem Kind möglichst früh zu sprechen, schon in der dritten Klasse. Man kann sagen: „Du, pass auf, wir gucken gemeinsam drauf, ob wir das schaffen, indem du lernst und deine Schulleistungen verbesserst. Wir unterstützen dich gerne aktiv und helfen dir, dein Ziel zu erreichen, wenn du das möchtest. Das Gymnasium kommt allerdings nur in Frage, wenn wir gemeinsam wirklich sehen, dass deine Leistungen besser werden.“ In der Folge muss dann im nächsten halben Jahr beobachten werden, wie sich die Schulleistungen entwickeln. Man kann bei einer positiven Entwicklung dem Kind aktiv anbieten, dass man als Eltern mit der Lehrerin ins Gespräch geht, sobald eine Notenverbesserung sichtbar ist. Das wäre dann eine Verknüpfung auf motivationaler Ebene.
Wie sieht es aus, wenn das Kind deutlich älter ist? Ein Zehntklässler am Gymnasium denkt über Schulwechsel nach und begründet seine Überlegungen mit hohem Druck und schlechter Stimmung in der Klasse. Sollte man das als Elternteil herunterspielen oder den Jungen bestärken?
Bürger: Im Idealfall sollte man einen Mittelweg finden. Hier würde ich schauen: Geht es tatsächlich ums Gymnasium oder geht es darum, dass der Junge womöglich gemobbt wurde? Das ist ein großer Unterschied.
Außerdem könnten Eltern überlegen, über einen schulpsychologischen Dienst einen IQ-Test zu machen. Und wenn der in einem niedrigeren Bereich liegt, dann muss man das seinem Kind sagen und auch selbst erst mal akzeptieren. Die Eltern müssen dann auch zulassen, dass das Kind sagt: „Vielleicht ist das mit dem Abitur oder mit dem Studium für mich zu viel, ich möchte eine Ausbildung machen.“ Es wäre falsch zu denken, dass nur derjenige eine gut vergütete Tätigkeit im Leben findet, der studiert hat, oder dass für ein glückliches und sinnerfülltes Leben Abitur und Studium notwendig sind.
Aufpassen würde ich nur, dass der Schulwechsel nicht dazu dient, dass der Junge das als Freifahrtschein sieht, sich in der Schule nicht mehr anzustrengen.
Die Anspannung und Leistungsorientierung in der 4. Klasse beschreiben viele Eltern als enorm und nennen es sogar „Grundschulabitur“. „Alle wollen ihr Kind auf dem Siegertreppchen auf der 1 stehen sehen“, schreibt eine Teilnehmerin im Chat, das Kind soll also 1er-Noten für das Übertrittzeugnis ins Gymnasium haben. Was empfehlen Sie Eltern, die da nicht mitmachen wollen?
Raffauf: Es braucht eine gewisse Grundhaltung. Ich vertraue darauf, dass mein Kind seinen Weg machen wird, auch wenn es vielleicht mit Umwegen verbunden ist. Und dieses Vertrauen bekommt mein Kind auch zu spüren. Jedes Kind braucht einen Menschen, der an es glaubt, das ist erstmal wichtig.
Und wenn ich den Begriff „Grundschulabitur“ höre – das klingt ja schrecklich! Da muss man überlegen, ob man in der Schule darüber spricht, mit den Lehrkräften oder am Elternabend. Wie kann man die Latte in der Klasse insgesamt ein bisschen niedriger hängen? Erwachsene denken häufig an die Zukunft. Für die Kinder ist die Zukunft „Jetzt“.
Tipps für eine stressfreie Lernatmosphäre / Tipps für Eltern
Sind Sätze wie „Mir sind die Noten echt egal!“ sinnvoll?
Raffauf: Zu sagen, dass es egal ist, ist vielleicht nicht ganz treffend. Stattdessen könnte man fragen: Was bedeutet eine Note? Es ist nicht egal, aber auch nicht das Wichtigste. Es ist nur ein Aspekt des Lebens. Aber du, als mein Kind, du bist mir wichtig, weil du einfach das tollste Kind auf der Welt bist. Und nicht, weil du eine Maschine bist, die gute Noten ausspuckt.
Man kann da seine eigenen Formulierungen finden: Du bist ein tolles Kind und du hast deine Fähigkeiten. Und manche der Fähigkeiten werden in der Schule abgeprüft und andere nicht.
Wie sollten Eltern damit umgehen, wenn Kinder keine Hausaufgaben machen (wollen)? Und wie können Eltern eine gute Lern-Atmosphäre für ihr Kind schaffen, damit es motivierter ist, für die Schule zu lernen?
Raffauf: Man kann mit dem Kind zusammen überlegen, was es braucht. Sollte der Schreibtisch frei und aufgeräumt sein? Wünscht sich das Kind eine Tasse Kakao oder eine Limonade dazu? Ist es vielleicht gut, erstmal etwas zu essen, bevor man wieder anfängt? Gibt es bestimmte Zeiten, zu denen das Kind am besten lernt?
Man darf nur nicht denken, dass es einen magischen Schlüssel oder einen Trick gibt, durch den immer alles toll klappt und niemals mehr schlechte Laune herrscht. Manchmal ist etwas Doofes in der Schule passiert, manchmal ist das Kind eben nicht entspannt oder es ist eine besonders schwierige Aufgabe.
Generell ist es wichtig, zu Hause eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. Das geht auch dadurch, dass Streit zeitnah geklärt wird. Und trotzdem wird nicht immer alles harmonisch laufen. Dann kann man die Hausaufgaben auch erstmal zur Seite legen und zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sich alles beruhigt hat, weitermachen.
„Was haben denn die anderen für eine Note?“ – eine Eltern-Frage, die meist gut gemeint ist. Anderseits kann die Frage auch Konkurrenzdenken beim Kind fördern. Sollten Eltern diese Frage überhaupt stellen? Oder wie kann man es besser machen?
Raffauf: Wenn die Kinder eine Note im Einser- bis Viererbereich schreiben, muss man das nicht fragen. Wenn man aber merkt, dass häufiger Fünfen und Sechsen kommen und man will sein Kind trösten oder ein Gespräch mit der Lehrerin oder der Elternvertretung suchen, dann kann man das schon mal fragen. Aber besser nicht nach einzelnen Freunden fragen, dann spürt das Kind gleich, dass es verglichen wird. Eine passendere Formulierung könnte sein: Wie war denn der Schnitt in der Klasse?
Stress oder psychische Erkrankung?
Im Live-Talk wurde ausführlich über die Frage „Was tun, wenn das Kind wegen der Schule regelmäßig Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder andere Beschwerden hat?“ gesprochen. Es gab noch weitere Fragen im Chat zu dem Thema, wo die Grenze zwischen Stress und einer psychischen Erkrankung liegt.
In Stresssituationen zeigen manche Kinder starke Reaktionen, wie zum Beispiel sich Haare auszureißen. Das schildert eine Mutter, deren Tochter sich ihr diesbezüglich geöffnet hat. Im Gespräch haben Mutter und Kind verschiedene Strategien erarbeitet (zum Beispiel die Nutzung eines Stressballs) und reden viel darüber. Trotzdem bleiben die Frage und die Unsicherheit der Mutter: Wann ist der Zeitpunkt, wo sie psychologische Hilfe einbeziehen sollte?
Raffauf: Grundsätzlich lieber zu früh als zu spät. Es ist überhaupt nicht schlimm, wenn man sich Hilfe in der Erziehungsberatung holt und dann feststellt, dass alles in Ordnung ist. Das ist ja auch ein gutes Gefühl. Da sollte man keine Scheu haben. Bei dem Kind, das Sie beschreiben, ist es höchste Eisenbahn, es verletzt sich massiv selbst. Das ist ein großes Warnsignal. Damit sollte man als Eltern auf keinen Fall alleine bleiben.
Bürger: Was hier beschrieben wird ist sogar im ICD-10 (Anmerkung der Redaktion: amtlicher Diagnoseschlüssel zur Klassifikation ärztlicher Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung) verankert. Das wäre ein Fall, der über Beratung hinausgeht und bei dem ich raten würde, eine Psychotherapeutin oder einen -therapeuten aufzusuchen. Das würde ich zügig machen. Das Haare-Ausreißen kann ja auch mit anderen Dingen zu tun haben, aber höchstwahrscheinlich ist es mit dem Stress assoziiert.
Ab wann sollte man generell einen Experten oder eine Expertin zurate ziehen, wenn das Kind regelmäßig über Bauchmerzen klagt, und zum Beispiel mit Lehrkräften oder Schulpsychologen sprechen?
Bürger: Erstmal sollten Eltern auf ihre Intuition und ihr Bauchgefühl hören. Dem sollten sie nachgehen. Manchmal gibt es direkte Ereignisse, die darauf hindeuten, wo die Bauchschmerzen herkommen. Klassiker wären zum Beispiel Liebeskummer, Schulstress, ein Streit mit der besten Freundin oder dem besten Freund. Oder die Eltern einer Klassenkameradin haben sich getrennt und das Kind macht sich Sorgen, die eigenen Eltern könnten sich ebenfalls trennen. Ein so verursachter Kummer kann auch schon mal zwei, drei, vier Wochen andauern. Aber dann sollte sich das Kind langsam besser fühlen. Hier ist es wichtig, im Kontakt zu bleiben und nicht Dinge zu sagen wie: „Jetzt lach doch mal wieder“, sondern zum Beispiel: „Wir machen uns Sorgen, möchtest du drüber sprechen, können wir dich unterstützen?“
Wenn nach drei, vier Wochen keine Besserung eintritt und man außerdem merkt, dass die Traurigkeit des Kindes anhält oder es sich stark zurückzieht, sollten die Eltern in Kontakt mit der Schule treten und zum Beispiel Unterstützung bei Erziehungs- und Familienberatungsstellen suchen.
Weitere Anzeichen für ein größeres Problem – neben den genannten Bauchschmerzen – wären zum Beispiel Schulvermeidung, starke Wutausbrüche, die vielleicht vorher nicht da waren, oder ein deutlich vermindertes Interesse an Aktivitäten. Wenn es sehr deutliche Anzeichen für akute Belastungen gibt, zum Beispiel Selbstverletzungen oder Suizidgedanken, ist es wichtig, sich direkt an die verantwortliche Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wohnortnähe zu wenden.
Leistungsdruck im Sport
Stellen wir uns ein 15-jähriges Kind vor, das sportlich aktiv ist, dem Sport schon immer Spaß gemacht hat und das regelmäßig Tennisturniere spielt. Wenn es in einem Match in Rückstand kommt, beginnt es regelmäßig zu weinen und baut mental ab, so beschreibt es die Mutter in unserem Chat. In solch einer Situation würde sie ihr Kind am liebsten vom Platz holen. Was für eine Reaktion empfehlen Sie? Und wie können Eltern mit Leistungsdruck von Kindern beim Sport umgehen?
Raffauf: Die Mutter hat ein gutes Gefühl für ihr Kind. Dem sollte sie folgen. Das heißt: das Kind rausnehmen und mit ihm besprechen, ob das mit den Tennisturnieren nicht mehr Stress als Spaß ist. Wenn es so abbaut, ist das richtig Stress für das Kind. Wofür soll das gut sein, dass das Kind so in Not gerät, weint und solch einen Druck verspürt? Es ist total wichtig, dass die Mutter das Kind in die Arme nimmt und vermittelt, dass der Sport Spaß machen sollte, dass man da gar nichts muss.
Wenn das Kind unbedingt bleiben und weitermachen will, dann ist es wichtig zu gucken, warum. Hat es sonst vielleicht das Gefühl aufzugeben und zu versagen? Dann muss man über diese Themen sprechen und einordnen, das Aufhören kein Versagen ist. Da müsste man im Gespräch wirklich in die Details gehen und herausfinden, woran es liegt.
Können Hobbys (zum Beispiel Sport oder ein Musikinstrument) auch hilfreiche Strategien gegen Schulstress sein?
Raffauf: Ja, das kann natürlich helfen, weil man noch etwas anderes hat als die Schule. Es kommt immer darauf an, was für ein Druck dahintersteht. Aber grundsätzlich können Hobbys ja etwas Schönes sein und können trösten – wenn es in der Klasse vielleicht gerade schwierig ist, aber man noch seine Volleyball-Truppe hat und sich da wohlfühlt. Es kann ein Ausgleich sein, es darf aber nicht in ein Programm gequetscht werden, das sich dann wiederum wie Druck und Stress anfühlt.
Tipps für Lehrerinnen und Lehrer
Im Live-Talk wurde viel über Eltern gesprochen. Auch Lehrerinnen und Lehrer beobachten Stress bei Kindern und Jugendlichen, Druck bis hin zu Panik.
Eine Teilnehmerin fragt: Wenn Kinder in einer Klasse am Gymnasium bereits in Panik verfallen beim „sich melden im Unterricht“, aus Angst, etwas Falsches zu sagen, wie kann man gegensteuern? Wie kann man Jugendlichen ein Schul- und Lernumfeld bieten, sodass sie Erfolgserlebnisse verbuchen, ohne sich vorher unter immensen Druck zu setzen?
Raffauf: Manchmal hilft es, dass man es mit der ganzen Klasse konkret anspricht. Wie ist das eigentlich, wenn man sich meldet? Da muss man etwas von sich zeigen und hat Angst, dass andere über einen lachen oder dass man etwas Falsches sagt. Und man kann darüber sprechen: Welchen Anteil an dem Druck haben wir als Schule, wo wünschen sich Kinder Mitbestimmung oder Entlastung?
Und dann kann man auch mal erzählen vom „großen Uni-Bluff“ – das habe ich mal an der Universität gehört. Das geht so: Der Professor fragt etwas, einer meldet sich und weiß die Antwort. Alle anderen denken: Wow, alle anderen wissen viel mehr als ich, das schaff ich ja nie, da melde ich mich lieber gar nicht. Und nur der eine weiß: Es war ein totaler Zufall, dass er gerade diese eine Antwort wusste. Mit so einer Geschichte kann man ein sehr schönes Gespräch mit der ganzen Klasse darüber führen.
Der Satz „Eine 2 oder 3 sind doch auch gute Noten“ kann leicht falsch verstanden werden. Wie kann eine Lehrkraft den Druck beim Thema Noten rausnehmen, ohne das Gefühl zu vermitteln, dass ihr gute Leistungen egal sind oder sie gar „gegen gute Leistungen“ ist?
Raffauf: Ich finde die Aussage inhaltlich erstmal gut. Wenn man weiß, dass das ein heikles Thema ist, sollte man am Anfang des Schuljahres etwas Allgemeines zum Thema Noten sagen, sowohl gegenüber den Eltern, als auch gegenüber den Schülerinnen und Schülern. Im Sinne von: Es gibt diese und jene Notenmöglichkeiten und die Palette von eins bis vier ist absolut okay und die vergebe ich auch. Und dass Eltern so etwas denken könnten wie „Die Lehrerin ist gegen gute Leistungen“, damit muss man dann vielleicht einfach leben.
Schulsystem
Schulabsentismus ist ein Problem, das sich immer mehr ausbreitet. Was machen Eltern, wenn das gesamte System Schule gestresst ist („Druck von oben“) und Kinder und Jugendliche der Schule fernbleiben?
Bürger: Es ist wichtig, ins Gespräch mit der Schule zu gehen, wenn Eltern das Gefühl haben, dass alle an der Schule gestresst sind. Es gibt ja in der Schule einen Elternbeirat oder eine Schulkonferenz, wo Elternvertreterinnen und -vertreter anwesend sind und Einfluss nehmen können. Dort müsste das Thema besprochen werden, auch um zu zeigen: Es ist kein Einzelfall, es sind mehrere Eltern, die das problematisch finden. Und dann schauen, was passiert – ein offener Weg ist hier erstmal wichtig.
Stress durch Zukunftssorgen am Arbeitsmarkt
Was willst du mal werden? Was willst du studieren? Welchem Beruf nachgehen? Das sind Fragen, die bei Jugendlichen Stress auslösen können.Was können Eltern tun, wenn Kinder gestresst sind, durch Zukunftssorgen und politische Themen, die sie medial oder durch ihr Umfeld mitbekommen? Wenn Kinder konkret berufliche Zukunftsängste wegen Künstlicher Intelligenz oder Globalisierung haben?
Bürger: Als erstes würde ich hinterfragen, wie in der Familie oder im Umfeld über diese Themen gesprochen wird. Könnte es sein, dass das Kind die Sorgen von anderen aufgreift und diese jetzt plötzlich teilt? Ist zum Beispiel jemand im engeren Bekannten- oder Verwandtenkreis arbeitslos geworden oder macht sich Sorgen um seine Arbeitsstelle? Es wird ja vermutlich künftig keinen krassen Mangel an Arbeitsplätzen geben, 35% der Ausbildungsstellen konnten 2023 nicht besetzt werden. Unsere Kinder werden sich höchstwahrscheinlich aussuchen können, was sie machen wollen.
Allerdings müssen wir die Kinder und Jugendlichen vorbereiten auf zukünftige Herausforderungen am Arbeitsmarkt, weil mangelndes Leistungsvermögen und schlechte schulische Qualifikationen ein Grund für das derzeitige Problem unbesetzter Ausbildungsplätze sind.
Es stellt sich eher die Frage: Was möchtest du denn eigentlich und was ist notwendig, um deine Lebensziele und -wünsche zu erreichen? Hier ist der Umgang mit dem Stresserleben zentral, weil dieses im beruflichen Alltag nicht zu vermeiden ist.
Raffauf: Ja, und man kann dem Kind sagen: Wir können nur vom Hier und Jetzt ausgehen. Wenn du dich jetzt in diese eine Richtung spezialisierst und dann irgendwann merkst, dass der Plan nicht aufgeht, dann wirst du was anderes finden. Wenn du Spaß daran hast, das zu machen, dann ist das der beste Motor für deinen beruflichen Werdegang. Mit anderen Worten: Dem Kind signalisieren, dass man an es glaubt, dass es seinen Weg machen wird. Das stärkt.
Mehr über die Experten:
Dr. Arne Bürger ist leitender Psychologe der Institutsambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Universitätsklinik Würzburg. Der Verhaltenstherapeut entwickelt und koordiniert das deutschlandweite schulische Präventionsprogramm LessStress für die Jahrgangsstufen 6 bis 12.
Elisabeth Raffauf ist Diplom-Psychologin in eigener Praxis in Köln. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in einer Erziehungsberatungsstelle und leitet u.a. Gruppen für Eltern von Jugendlichen. Als Autorin und Expertin ist sie zudem für verschiedene Medien tätig. Für das WDR-Kinderradio hat sie die Aufklärungsreihe Herzfunk mitentwickelt.