Ist mein Kind wirklich hochbegabt?

Es gibt Schwerpunktforschung darüber. Eltern schicken ihre Kinder zum IQ-Test. Was verrät der Hype um die Hochbegabung über unsere Gesellschaft?

Ein kleines Mädchen mit dunkler Haarsträhne im Gesicht scheint hochbegabt zu sein
Die meisten hochbegabten Kinder durchlaufen ihre Schulzeit mit Erfolg. © Frank Rothe/Getty Images

Kinder mit außerordentlichen Begabungen gab es schon immer. Aber erst seit etwa dreißig Jahren treffen ihre besonderen Probleme auf eine hohe öffentliche Beachtung. Die „Gesellschaft für das hochbegabte Kind“ wurde 1978 gegründet, die erste Hochbegabtenschule Deutschlands, die Christophorusschule in Braunschweig, nahm 1981 ihren Betrieb auf. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer speziellen Förderung begann sich allmählich durchzusetzen.

Anfang der neunziger Jahre begann dann ein regelrechter Boom.…

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Jahre begann dann ein regelrechter Boom. Hochbegabung wurde nun auch in der Breite der Gesellschaft als eine Erklärung akzeptiert, wenn es etwa darum ging, Verhaltensauffälligkeiten des eigenen Nachwuchses auf ihre Ursachen zu deuten. Heute gelten etwa 300 000 Kinder in Deutschland als hochbegabt.

Das sind deutlich mehr als noch vor wenigen Jahren. Aber nicht, weil Kinder immer intelligenter würden, erklären Bildungsexperten, sondern weil immer mehr als „hochbegabt“ erkannt würden. Und Pädagogen, die sich mit Hochbegabten beschäftigen, erklären die gestiegene Zahl vor allem mit den verbesserten Möglichkeiten der Messung. Früher seien viele Hochbegabte schlicht unentdeckt geblieben, heute würden mehr und immer frühzeitiger identifiziert.

Aber ist aus dem Erkennungsdefizit nicht längst eine Übererkennung geworden? Auch eine andere Zahl steigt drastisch: die der Mütter und Väter, die vermuten, ihr Kind sei überdurchschnittlich intelligent, und die sich für einen Hochbegabtentest entscheiden. Es gibt noch keine offiziellen Statistiken über diesen Zuwachs, aber Psychologen in den schulpsychologischen Beratungszentren berichten, dass in den letzten Jahren die Zahl von Eltern stetig angestiegen sei, die in die Beratungsstellen kommen, um überprüfen zu lassen, ob bei ihrem Kind eine Hochbegabung vorliegt.

Detlef Rost, Professor für Psychologie und Leiter des von ihm gegründeten „Marburger Hochbegabtenprojekts“ (MHP), spricht von aktuell 6000 Beratungstelefonaten und über 2000 ausführlichen diagnostischen Untersuchungen allein am Standort Marburg – Tendenz steigend. Auch Christian Fischer, Pädagogikprofessor an der Universität Münster, bestätigt diese Tendenz: Immer mehr Eltern werden in den Beratungsstellen vorstellig. Die „Karg-Stiftung“, die sich der Probleme hochbegabter Kinder annimmt, beobachtete, dass die Zahl der Beratungsstellen, an die sich betroffene Eltern wenden können, in den letzten Jahren gestiegen ist. Es gebe eine große Testnachfrage, der man gerecht werden möchte.

Schließlich haben auch Hochbegabtenorganisationen, die sich eher an Erwachsene wenden, enormen Zulauf. Der weltweit größte Hochbegabtenclub „Mensa e. V.“, der als Eintrittsqualifikation für potenzielle Mitglieder den Nachweis eines IQs von 130 vorschreibt, findet immer stärkeren Zulauf. 1992 verzeichnete man gerade einmal knapp 1400 Mitglieder, Ende 2012 waren es weit über 10 000. Allein in den letzten fünf Jahren hat sich die Mitgliederzahl fast verdoppelt.

Wer ist eigentlich „hochbegabt“?

Wer oder was ist eigentlich „hochbegabt“? Das bleibt eine umstrittene Frage. Unter hochbegabt versteht das Gros der Pädagogen auch heute noch Kinder, die einen Intelligenzquotienten von über 130 haben. 130 IQ-Punkte sind der Lackmustest in der Frage, ob etwa auffallendes Sichlangweilen oder altersunübliche, abweichende geistige Interessen im Kindergarten ihre Ursache in einer Hochbegabung des Kindes haben könnten. Und der IQ ist letztlich auch das Eintrittsbillett für die begehrten Plätze in Gymnasien oder Internaten für solche Hochbegabten, die in eigenen Schulen oder Klassen unterrichtet werden.

Die 130er-Marke hat sich als das maßgebliche Hochbegabtenkriterium durchgesetzt, obwohl viele Kritiker wie etwa Stephen Jay Gould schon vor Jahren zu zeigen versuchten, dass der gängige Begriff der Hochbegabung eine sehr einseitige Konstruktion sei. Ein IQ-Test sage nicht viel aus, da er immer nur einen bestimmten, von außen definierten Ausschnitt eines viel umfangreicheren geistigen Spektrums eines Individuums prüfe. Intelligenz sei immer eine Größe, die in Beziehung zu einer anderen stehe, zu einer bestimmten Lebenskultur etwa oder allgemein Anforderungen, die die Außenwelt an einen Menschen stellt.

Hochbegabt zu sein bedeutet immer nur eine überdurchschnittliche Teilkompetenz. Man kann sogar sagen: Fast jeder Mensch verfügt über irgendeinen Ausschnitt in seiner Persönlichkeit, in dem er „hochbegabt“ ist. Jeder besitzt unterschiedliche Potenziale – auch und gerade jenseits der analytisch-kognitiven Fähigkeiten. Dieser Komplexität wird allein durch einen IQ kaum Rechnung getragen.

Der Hirnforscher Gerald Hüther erwähnt in seinen Arbeiten immer wieder die Plastizität der Gehirne, wenn er gegen evolutionäre, rollenspezifische oder sonstige angebliche Determinanten unserer geistigen Leistungen argumentiert. Er kommt in einem Spiegel-Interview zu dem Schluss: „In jedem Kind steckt ein Genie.“ Und: „Das hochbegabte Kind, wie es in den großen bildungspolitischen Debatten herumgeistert, ist eine Variante von vielen anderen Formen von Einzigartigkeiten, die allerdings häufig keine ganz so mächtige bildungspolitische Lobby haben.“

Hochbegabt kann demnach auch ein Kind sein, das die ominöse 130er-Marke deutlich unterschreitet, und natürlich auch jenes, dessen Eltern zwar eine überdurchschnittliche Intelligenz in seinem Verhalten beobachten, aber dennoch keinerlei Veranlassung sehen, sich diese Hochbegabung zertifizieren zu lassen. Nicht alle Eltern halten es für notwendig, diese Begabung zu messen und darauf mit besonderen Maßnahmen zu reagieren.

Hochbegabte im normalen Schulalltag

Hochbegabte Kinder sind eine Minderheit unter ihren Altersgenossen. Wie bei allen Minderheiten ist es möglich, dass sie darunter leiden, „nicht normal“ zu sein. Eltern betroffener Kinder klagen beispielsweise häufig, dass ihre unterforderten Kinder in der Schule mit Aggression auf die Wissensleere antworteten, die sich im herkömmlichen Schulbetrieb vor ihnen auftue. In einem Focus-Artikel wurde unlängst ein Vergleich angeführt, der typisch ist für diese Diskussion: „Ähnlich geht es einem Rennpferd, wenn es wochenlang mit Ponys im Gleichschritt trottet: Es verliert die Freude am Rennen.“

Weil Hochbegabte unterfordert seien, so wird argumentiert, litten sie unter Stress – und die Kinder gingen ganz unterschiedlich damit um. Manche würden ihn verkraften, aber es gebe auch andere, die den Unterricht stören, herumkaspern oder gar den Schulbesuch verweigern, schreibt Aiga Stapf in ihrem Buch "Hochbegabte Kinder. Persönlichkeit, Entwicklung, Förderung". In Beratungsstellen spricht man gar von intellektuellen und psychischen Defiziten, die sich durch das Anderssein ausbilden und verstärken könnten.

Fragt man die betroffenen Kinder, ist die vermeintliche Unterforderung jedoch oft weitaus weniger problematisch, als das die Erwachsenen wahrhaben wollen. Christof Rapp ist heute 48 Jahre alt, Aristotelesspezialist und Ordinarius für antike Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er war ein hochbegabtes Kind. Als Schüler in der Oberstufe des Gymnasiums kam es vor, dass seine Lehrer in alten Sprachen wie Latein und Griechisch bei ihm nachfragten, wenn sie nicht mehr weiterwussten. Er ging in einer Zeit zur Schule, in der seinesgleichen nicht übermäßig gefördert wurde. Er sagt von sich, er sei als Schüler gar nicht auf die Idee gekommen, hochbegabt zu sein. Auch hatte er nicht den Eindruck, „unterfördert“ zu sein.

Er verweist heute auf persönliche Gespräche mit einfühlenden, engagierten Lehrern, die ihm in seiner Gymnasialzeit geholfen hätten, und bestätigt damit, was Aiga Stapf resümierend schreibt: „Die Persönlichkeit der Lehrkräfte und damit eng verknüpft die Lehrer-Schüler-Beziehung sind für die schulischen Erfahrungen sowie für das künftige berufliche Leben für alle Kinder und Jugendlichen von zentraler Bedeutung.“ Lehrer, die ihre Schüler motivieren können – und zwar alle, jeden nach seinen Möglichkeiten. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit.

Christof Rapp hat nach eigenem Bekunden nicht sonderlich darunter gelitten, dass er ohne spezielle Förderung den üblichen Gymnasialbetrieb durchlaufen hat. Dennoch ist in vielen Texten zur Hochbegabung immer wieder die Rede von den hochbegabten Underachievern, die sich zu Versagern aus Unterforderung entwickelten. Gibt es wirklich einen objektiven Nachweis dafür, dass hochbegabte Kinder darunter leiden, wenn sie den normalen Schulparcours durchlaufen müssen?

Aggressiv durch Isolierung

Tatsächlich gibt es keine einzige deutsche oder internationale Studie, die zeigen würde, dass es einem hochbegabten Kind schadet, wenn es „nur“ den normalen Unterricht absolviert. Oder, wie es Detlef Rost formuliert: „Jedes Kind, das nicht entsprechend seinen Bedürfnissen gefördert wird, kann (muss aber nicht) Probleme entwickeln. Das ist kein Vorrecht der Hochbegabten. Die große Mehrheit der hochbegabten Schüler durchläuft die Schule, ohne besondere Probleme zu entwickeln. Fragen Sie sich doch einmal, wie viel Probleme Kinder in unserem Schulsystem bekommen, die nur durchschnittlich oder unterdurchschnittlich begabt sind. Im Vergleich dazu ist Hochbegabung ein protektiver Faktor. Dass sehr massive psychische Probleme bei einem Hochbegabten auftreten, der zum Beispiel im Gymnasium ist, dürfte eine sehr seltene Ausnahme sein. Wir haben das nicht beobachten können.“ Ein hochbegabtes Kind, das keine spezielle Förderung erfährt, leidet also nicht notgedrungen darunter.

Man könnte sogar behaupten, dass die Identifizierung eines Kindes als hochbegabt erst Probleme schafft, die es ohne diesen Sonderstatus gar nicht gäbe. Diese Probleme liegen vornehmlich im sozialen Bereich: Wenn Lehrer aus ihrer Berufspraxis berichten, kommen sie immer wieder auch auf auffällige Aggressionen von identifizierten hochbegabten Kindern zu sprechen. Oft ist das heute nicht so sehr eine Reaktion auf eine Unterforderung, sondern auf die soziale Isolierung, die die Selektion solcher Kinder mit sich bringt. Selektion bedeutet oft Stigmatisierung.

Hochbegabte Schüler sind häufig ein Jahr, manchmal sogar zwei Jahre jünger als der Altersdurchschnitt ihrer Mitschüler, was sich noch gravierender auswirkt, wenn sie in die Pubertät kommen. Sie werden als „Schlaumeier“ oder „Extrawurst“ verspottet. Sie sind im Sport langsamer, weil sie noch nicht so kräftig sind, oder können beim Fußball nicht mithalten – und bald auch nicht mehr bei den Konkurrenzkämpfen um die attraktiven Vertreter des anderen Geschlechts. Wer trotz hoher mathematischer oder sprachlicher Intelligenz hier zwei Jahre zurückhängt, reagiert mit Frustration, wird schnell zum Außenseiter.

Spezielle Angebote verlagern Probleme, lösen sie aber nicht

Manche Lehrer machen die Erfahrung, dass spezielle Angebote für Hochbegabte in Regelklassen die Probleme nur verlagern. Selbst wenn nun auf die anspruchsvollen Interessen eines Kindes didaktisch sensibel eingegangen wird, wird dies fast immer durch das Entstehen neuer Probleme erkauft. Wo nun die intellektuelle Not gestillt ist, entsteht bald die soziale. Schule ist eben nicht nur Bildungsanstalt, sondern eine Sozialisationsinstitution viel größeren Umfanges: Sie bereitet Kinder und Jugendliche auf das ganze Leben vor. Pädagogen, die Hochbegabung unter Laborbedingungen an der Universität untersuchen, haben dafür oft keinen Blick.

In der Schule geht es nicht so sehr um Vermittlung von Wissen und Lernstoff, sondern vorrangig um Persönlichkeitsentwicklung. Man kann auch sagen, in der Schule lernen wir nicht in erster Linie Latein, Deutsch und Mathe, sondern eher, wie man Freunde gewinnt, wie man in einem Klassenverband taktiert, wie man sozial überlebt und, gar nicht so unwichtig, wie man mit der eigenen Akne zurechtkommt. Aber nur wenige Pädagogen wollen erkennen, dass genau in der Kompetenzaneignung in diesen extracurricularen „Nebenfächern“ die Hauptaufgabe dieses eigenartigen Betriebes liegt, der da Schule heißt und dem keiner entkommt.

Die Eltern der Hochbegabten

Monika Boesen ist Schulpsychologin und Koordinatorin der Arbeitsgruppe Hochbegabung im Pädagogischen Landesinstitut Rheinland-Pfalz. Seit 1985 ist sie in der schulpsychologischen Beratung tätig. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass sich nicht so sehr die Kinder, die ihr in all den Jahren gegenübersaßen, verändert haben, sondern eher die Eltern. Es gebe zwar noch immer viele Eltern, die einfach nur für das Thema Hochbegabung sensibilisiert seien und für ihr Kind verantwortungsvoll handeln wollten.

Oft seien es die Erinnerungen an seinerzeit schlechte Erfahrungen einer eigenen, nicht erkannten und geförderten Hochbegabung, die sie veranlassten, jetzt bei ihrem Kind nichts zu versäumen. Aber es gebe auch immer mehr fordernde und anstrengende Eltern, die wollten, dass man auf Biegen und Brechen das Beste aus ihrem Kind heraushole. Darunter seien zunehmend auch solche, die eine attestierte Hochbegabung ihres Kindes deswegen anstrebten, weil sie sich in Kreisen bewegten, „wo es zum guten Ton gehört, ein hochbegabtes Kind zu haben“.

Auch Detlef Rost findet, dass da etwas aus dem Ruder läuft. Er hat über die Jahre den Eindruck gewonnen, „dass es bei Eltern zunimmt, ihr Kind vor allem durch die Brille der intellektuellen Leistungsfähigkeit zu sehen“. Er spricht davon, dass es immer mehr Kinder gebe, die von ihren Eltern „wie ein Zirkuspferd“ vorgeführt werden. Die Praxis scheint diesem Eindruck recht zu geben. Im Gespräch mit Beratern und Psychologen hört man immer wieder Geschichten, in denen Erziehungsberechtigte nicht nur mit einem sehr nervösen Kind zum IQ-Test erscheinen, sondern offenbar auch mit einer hohen Erwartungshaltung. Manche würden intensiv auf den wichtigen IQ-Test lernen wie auf eine Klassenarbeit.

Eine Lehrerin, die die Bewerbungsgespräche für eine Hochbegabtenklasse führt – aber hier nicht genannt werden möchte –, gibt Sätze von Eltern wieder wie „Mein Kind konnte schon bei der Geburt sprechen“ oder „Mein Kind konnte sich schon mit zwei Jahren im Tausenderraum bewegen“. Umso härter die Enttäuschung, wenn der Traum vom Wunderkind nicht wahr wird. Psychotherapeuten berichten von losheulenden Müttern und traurigen Kindern, die das Gefühl haben, „versagt“ zu haben, obwohl sie angesichts eines IQs von 127 eigentlich allen Grund zur Freude haben müssten.

Statussymbol Kind – der Druck nimmt zu

Der Hype um die Hochbegabten scheint ein Phänomen einer Gesellschaft zu sein, in der Erfolgsdenken eine zunehmend große Rolle spielt – und immer geschieht dies im Namen des vielbeschworenen Kindeswohls. Vielleicht ist die Hysterie am Ende nur ein Reflex auf härter umkämpfte Bildungschancen. Es ist auffallend, wie sehr es heute darum geht, Kinder zu immer neuen Höchstleistungen auf allen Gebieten zu bringen.

Die Mittel hierzu sind vielfältig, manche gibt es schon in der Apotheke zu kaufen. Etwa Nahrungsergänzungsmittel, auf deren Packungen der Slogan steht: „So kauen die Schlauen.“ Ihr Inhalt soll die kleinen Konsumenten zu mehr geistiger Fitness führen. Ein anderes Präparat will laut Werbeslogan den kindlichen „Gehirn-Motor schmieren“, ein weiteres, dessen Wirkungslosigkeit unlängst von der Stiftung Warentest belegt wurde, nennt sich „Klugstoff“.

Sicher, hochbegabt zu sein ist für manche Kinder und ihre Eltern nicht nur ein Grund zur Freude. Es kann ein Problem sein – und es spricht für unser Bildungssystem, dass darauf heute so sensibel reagiert wird. Für viele der Eltern ist die Hochbegabung aber auch eine willkommene Möglichkeit, subtile Prestigebotschaften zu lancieren. Ein hochbegabtes Kind steht höher im Kurs als eines, das an einem Aspergersyndrom leidet oder an ADHS. Im „Problem“ steckt eben oft immer auch ein kaum zu unterdrückender Elternstolz, es selbst doch zu einem solchen Wunderkind gebracht zu haben.

Um dieses Prestigemotiv zu tarnen, stellen manche Eltern ihre hochbegabten Kinder in der Öffentlichkeit als viel größere Opfer dar, als sie es wirklich sind. Es gibt Organisationen, die sich „Hochbegabten-Hilfe“ nennen. Sie sind solchen Opferverbänden im Auftreten nicht unähnlich, die sozial benachteiligte oder gar unterdrückte Bevölkerungsgruppen unterstützen wollen.

Der Hochbegabtenboom sagt nicht nur etwas über eine neue, begrüßenswerte Sensibilität gegenüber benachteiligten und förderbedürftigen Kindern aus, sondern oft viel mehr über die Motive ihrer Eltern. Bildungstitel sind ein spezifisch bürgerliches Statussymbol, eine „Kapitalsorte“, wie Pierre Bourdieu in seinem Klassiker Die feinen Unterschiede schrieb, die sich sozial auszahlt. Dazu gehören auch die entsprechenden Adressen von Eliteschulen, der ganze Bildungshabitus und Lebensstil – und dazu kann eben auch ein Kind gehören, das sich mit dem Attribut „hochbegabt“ schmücken darf.

Gerade die PISA- und auch die IGLU-Studien haben für Deutschland gezeigt, wie stark bei uns weiterhin die soziale Herkunft den Bildungserfolg determiniert. Hochbegabte Kinder kommen in aller Regel aus den privilegierten Kreisen unserer Gesellschaft.

Die Vision einer gerechten Bildungspolitik bleibt, endlich gleiche Chancen für alle zu installieren, anstatt ständig an der Leistungs- und Optimierungsschraube zu drehen. Dann erst wird das große Jagen um den optimalen Bildungsweg fürs eigene Kind obsolet. Detlef Rost rät den Eltern zu mehr Gelassenheit. Denn am Ende bezahlt immer das Kind den Preis für den falschen Elternehrgeiz.

Quellen

Dieter Arnold, Franzis Preckel: Hochbegabte Kinder klug begleiten. Ein Handbuch für Eltern. Beltz, Weinheim 2011

Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1987

Stephen Jay Gould: The mismeasure of man. Norton, New York 1996

Martin Hecht: Das große Jagen. Auf der Suche nach dem erfolgreichen Leben. Dtv, München 2004

Gerald Hüther, Uli Hauser: Jedes Kind ist hochbegabt. Knaus, München 2013

Detlef Rost: Hochbegabte und hochleistende Jugendliche. Befunde aus dem Marburger Hochbegabten-Projekt. Waxmann, Münster 2009 (2. Auflage)

Aiga Stapf: Hochbegabte Kinder. Persönlichkeit, Entwicklung, Förderung. Dtv, München 2010 (5. Auflage)

James T. Webb, Elizabeth A. Meckstroth, Stephanie S. Tolan: Hochbegabte Kinder, ihre Eltern, ihre Lehrer – ein Ratgeber. Huber, Bern 2006 (5.Auflage)

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2013: Ich kann auch anders!