Alison Gopnik: Die Pionierin des kindlichen Denkens

Alison Gopniks Forschung hat das Verständnis über die Denkkraft von Kindern transformiert. Sie zu studieren, gibt uns Einblicke in unser Bewusstsein

Die Forscherin, leidenschaftliche Mutter und Großmutter, Alison Gopnik, sitzt bei sich zuhause in einem Spielzimmer für ihre zahlreichen Enkel
Zuhause bei Alison Gopnik im kalifornischen Berkeley gibt es ein Spielzimmer für ihre Enkel. © Ian Bates für Psychologie Heute

Dankesreden für wissenschaftliche Preise geraten leicht etwas steif. Doch das kurze Video, in dem Alison Gopnik den renommierten David E. Rumelhart Prize in Cognitive Science akzeptiert, ist bezaubernd. In der Aufnahme, die auf dem Kurznachrichtendienst X mehr als 35.000 Klicks hat, sieht man die Wissenschaftlerin mit ihrer vier Monate alten Enkelin Kit auf dem Arm in einem Wohnzimmer stehen. Beide blicken mit leuchtenden Augen in die Kamera. Gopnik schlägt einen humorvollen Ton an: „Ich nehme den Preis im…

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mit leuchtenden Augen in die Kamera. Gopnik schlägt einen humorvollen Ton an: „Ich nehme den Preis im Namen von Kit an, die es geschafft hat, in den ersten Monaten ihrer Existenz viele wichtige Denkprobleme zu lösen und dabei auch noch unglaublich niedlich ist.“ Prompt fängt die Kleine an zu lächeln. Ihre Großmutter drückt ihr einen dicken Kuss auf die Wange, was sie noch mehr strahlen lässt.

Bahnbrechende Arbeiten zum kindlichen Lernen und Denken

Gopnik fährt fort, über die Rolle von Eltern und anderen Bezugspersonen zu sprechen, ohne die Babys („diese erstaunlichen kognitiven Genies“) niemals so viele Probleme lösen könnten. Kit strampelt ein wenig und wird wieder geküsst. Die Psychologin sagt noch ein paar Worte über ihre Forschung und wie wichtig ihr der Preis ist, Kit gluckst vor Freude, Gopnik bedankt sich, und dann ist die Aufzeichnung zu Ende.

Der mit 100.000 Dollar dotierte Rumelhart Prize, der jährlich für bedeutende Beiträge zu den theoretischen Grundlagen der menschlichen Kognition verliehen wird, ist nur eine der Auszeichnungen, die Alison Gopnik erhalten hat. Die Forscherin, die an der University of California, Berkeley einen Lehrstuhl für Psychologie sowie eine außerordentliche Professur für Philosophie innehat, ist für ihre bahnbrechenden Arbeiten zum kindlichen Lernen und Denken bekannt. Sie gilt als eine der Pionierinnen der theory of mind und hat beispielsweise gezeigt, dass schon Eineinhalbjährige die Perspektive anderer Menschen einnehmen können. Zudem war sie maßgeblich an der Entwicklung der sogenannten theory theory beteiligt. Danach fangen Kinder in frühem Alter an, intuitive Theorien über die Welt zu bilden und auf ähnlich ausgeklügelte Weise zu testen, wie es Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen tun.

Wer ist die Frau, die das kindliche Denken entschlüsselt hat?

Wie Gopniks Studien zeigen, nutzen sie beispielsweise unbewusst statistische Informationen und passen ihre Einschätzungen darüber, wie wahrscheinlich ein Ereignis ist, neuen Erkenntnissen an. Die Psychologin ist zudem bei Informatikern äußerst gefragt, die sich dafür interessieren, wie man kindliche Lernstrategien zur Entwicklung künstlicher Intelligenz nutzen kann. Schließlich hat sich Gopnik mit der Frage befasst, welche Rolle Eltern und Großeltern bei der kindlichen Entwicklung spielen.

Wer ist diese Wissenschaftlerin, die nicht nur das kindliche Denken entschlüsselt, sondern offensichtlich auch so viel Freude an den kleinen Erdenbürgerinnen hat? Es regnet, als ich Alison Gopnik in ihrem Zuhause in Berkeley besuche, ein mit braunen Schindeln verkleidetes Giebelhaus, in dessen Vorgarten es wildromantisch grünt. Das Wetter trifft Gopniks Stimmung. Ihr in Montreal lebender Sohn und seine beiden Kinder, die mittlerweile einjährige Kit, die ich aus dem X-Video kenne, und der vierjährige Thalo, waren ein paar Tage zu Besuch und sind gerade abgereist, erzählt die Psychologin, als wir im Wohnzimmer in dunkelbraunen Ledersesseln Platz genommen haben.

Die Forscherin, Alison Gopnik, schaut au einem Fenster
Unseren Fotografen lud Alison Gopnik in ihr Haus ein, in dessen Vorgarten es wildromantisch grünt und blüht.
Die Forscherin, Alison Gopnik, schaut au einem Fenster
Unseren Fotografen lud Alison Gopnik in ihr Haus ein, in dessen Vorgarten es wildromantisch grünt und blüht.
Gopnik verweist auf die Eisenbahn und das andere Spielzeug, die in einer Ecke auf dem Boden liegen. Ihre drei älteren Enkelkinder wohnen in der Nachbarschaft und kommen oft vorbei. Aber Kit und Thalo sieht sie, abgesehen von regelmäßigen Treffen auf FaceTime, nur ein paarmal im Jahr. „Trotz der räumlichen Distanz habe ich eine enge emotionale Beziehung zu ihnen, die für mich unglaublich befriedigend ist. Und so stimmt mich der Abschied immer sehr traurig.“

Intellektuell stimulierende Eltern

Als wir über ihre Arbeit reden, scheint die Betrübtheit verflogen. Ihre Augen blitzen hinter der runden Brille und sie wirkt sehr konzentriert. Wir sprechen über den roten Faden, der sich durch ihre mehr als 40-jährige Forschungslaufbahn zieht. Von Anfang an habe sie eine Frage besonders interessiert, erklärt sie: Wie ist es möglich, dass wir als Menschen so viel über die Welt wissen, obwohl wir eigentlich sehr wenig Informationen erhalten? „Die Schallwellen, die unser Trommelfell erreichen, und die Photonen, die auf die Netzhaut treffen, das ist im Wesentlichen alles, was uns zur Verfügung steht. Und doch wissen wir, dass die Welt voller Dinge und Menschen ist, dass es winzige Elementarteilchen und ferne Planeten gibt. Wie können wir von dem begrenzten Input zu unserem umfassenden Verständnis der Welt gelangen? Dies ist eines der großen Probleme der Philosophie, über die beispielsweise Platon und Descartes nachgedacht haben. Und es ist auch die zentrale Frage meiner Forschung.“

Gopnik redet schnell, und wenn sie wie jetzt besonders engagiert ist, klettert ihre helle Stimme noch weiter nach oben. „Meinen Beitrag sehe ich darin, auf die Bedeutung kleiner Kinder hingewiesen zu haben. Herauszufinden, was in den Köpfen dieser Wesen vor sich geht, die Tag für Tag genau das tun müssen, nämlich aus sehr wenigen Informationen unglaublich viel zu lernen, schien mir für die Lösung des Wissensproblems sehr aufschlussreich zu sein.“

Wenig Geld, aber viele Bücher

Philosophie und Babys, dafür interessierte sich Gopnik schon als junges Mädchen. Ihre Eltern waren Intellektuelle, erzählt sie, die Kunst, Wissenschaft und die Ideen des Modernismus liebten. Als Alison 1955 in Philadelphia im Bundesstatt Pennsylvania zur Welt kam, studierten sie noch; der Vater englische Literatur, die Mutter Linguistik. In rascher Folge kamen fünf weitere Kinder hinzu.

Geld hatte die Familie nicht viel. Dafür war das Zuhause reich an Büchern, intensiven Diskussionen und Kreativität. Eine ihrer frühesten Erinnerungen, sagt Gopnik, sei ein Ausflug, den ihre Eltern mit ihr, damals vier Jahre alt, und dem dreijährigen Bruder Adam (der heute ein bekannter Autor ist) mit ihrem zerbeulten VW Käfer zum neu eröffneten Guggenheim-Museum in New York machten. Später übernahmen alle Geschwister Kinderrollen in Stücken von Brecht und anderen avantgardistischen Dramatikern, die ihr Vater am Stadttheater betreute.

Gopnik beschreibt sich als frühreifes, selbstbewusstes Mädchen, das immerzu las. Schon mit sechs Jahren wusste sie, dass sie Professorin werden wollte. Als Älteste fungierte sie als inoffizielles Elternteil und passte oft auf die Jüngeren auf. „Es war faszinierend für mich, von Babys und Kleinkindern umgeben zu sein, die sich oft so überraschend und unvorhersehbar verhielten. Aber ich gefiel mir auch als kompetente große Schwester und kommandierte die anderen gerne herum.“

Nachdenken und Argumente vortragen – sonst nichts

Mit zehn sah sie einen Fernsehfilm mit dem Titel Barefoot in Athens, in dem der Schauspieler Peter Ustinov einen zerzausten Sokrates gibt. Der griechische Philosoph – den sich Gopnik bis heute mit blondem Bart und britischem Akzent vorstellt, wie sie lachend erzählt – schien den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als nachzudenken und Argumente vorzutragen. Genau so, beschloss sie, wollte sie ihr Leben verbringen. Sie bat den Vater um weiterführende Literatur. Im Bücherregal stand eine abgegriffene Taschenbuchausgabe des Phaidon, Platons berühmte Abhandlung über Sokrates Tod und die Unsterblichkeit der Seele. Die gab der Vater ihr.

Sie habe die Lektüre wunderbar gefunden, erinnert sie sich, aber eine Sache sei ihr seltsam vorgekommen: „Platon reflektiert über verschiedene Möglichkeiten, wie die Seele weiterleben könnte. Kinder zu bekommen war nicht dabei. Ich fragte mich: Ist Nachwuchs zu haben nicht auch eine Art, wie die Seele überdauern kann? Es war das erste Mal, dass ich dachte, Kinder werden nicht ernst genug genommen. Später lernte ich, dass dies ein durchgängiges Phänomen in der Philosophie ist – als traditionell männerdominierte Domäne nicht ganz verwunderlich.“

Mit 15 Jahren schon Studentin

1969 zog die Familie nach Montreal um, wo Gopniks Eltern an der McGill University Assistenzprofessuren hatten. Ein Jahr später ging auch die älteste Tochter täglich in die Hochschule. Aufgrund einer damaligen regionalen Besonderheit konnten Schüler und Schülerinnen schon ab dem Alter von 15 Jahren ein Studium beginnen und reguläre Vorlesungen und Seminare besuchen. Alison Gopnik war begeistert und stürzte sich in die Philosophie. Da sie sich besonders für die naturalistische Epistemologie interessierte, einen philosophischen Ansatz, der auf der Verwendung wissenschaftlicher Methoden und empirischer Daten basiert, belegte sie auch viele psychologische Veranstaltungen.

1975 schloss die erst 20-Jährige mit einem Bachelor mit den Hauptfächern Philosophie und Psychologie ab. Sie bewarb sich bei verschiedenen Graduiertenprogrammen. Prompt flatterte eine Einladung des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Massachusetts ins Haus, beim berühmten Philosophen Jerry Fodor zu studieren. Sie nahm an. Doch dann kam es anders. Im Sommer besuchte sie­ Oxford, einen Ort, den sie aus ihrer Kindheitslektüre von Lewis Carrolls Alice in Wonderland und anderen englischen Romanen kannte. Und nun, da sie die traditionsreiche Universitätsstadt mit eigenen Augen sah, war sie vollkommen hingerissen von ihrem Charme. Sie beschloss, das MIT ein Jahr aufzuschieben. Keine schlechte Entscheidung, wie sich bald zeigen sollte.

In Oxford konnte sie an einem philosophisch inspirierten Studiengang von Jerome Bruner teilnehmen, einem angesehenen Entwicklungspsychologen, der heute als einer der Pioniere der kognitiven Revolution in der Psychologie gilt. Gop-nik rühmt Bruners Laissez-faire-Ansatz, der Studierenden großen Freiraum ließ, und die Gruppe, die sich in seinem Seminar zusammenfand, „eine wunderbare Gemeinschaft talentierter Kommilitonen, die später fast alle zu führenden Wissenschaftlerinnen wurden“. Es gefiel Gopnik so gut, dass sie entschied, in England zu bleiben, um ihren Doktor zu machen.

Feldforschung im Kinderzimmer

Die angehende Forscherin war nicht nur an einem guten Ort, sondern erwischte auch eine perfekte Zeit. In den 1970er Jahren wurden die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Kinder regelrecht auf den Kopf gestellt. Nach der bis dahin gängigen Vorstellung, gespeist durch Theorien von Gelehrten wie Piaget und Freud, war das Denken von Babys und kleinen Kindern auf das Hier und Jetzt, auf unmittelbare Empfindungen und direkte Wahrnehmungen beschränkt. Man betrachtete sie als irrationale, egozentrische und amoralische Wesen. „Aber als dann Technologien wie Kassettenrekorder und Videokameras kamen“, erläutert Gopnik, „erlaubte dies eine viel detailliertere Analyse. Man konnte genau festhalten, was Kinder sagten. Man konnte sekundengenau beobachten, wohin sie blickten, welche Entscheidungen sie trafen und wie sie beim Problemlösen vorgingen. Und es stellte sich heraus, dass selbst Babys viel logischer, nachdenklicher und kohärenter handelten, als man zuvor jemals gedacht hätte.“

Für ihre Dissertation nahm Gopnik eine Studie in Angriff, die sie heute „wahnwitzig“ nennt: Sie marschierte alle zwei Wochen nach North Oxford, einen Vorort mit schönen viktorianischen Häusern, wo viele Familien wohnten. Dort besuchte sie neun 15 Monate alte Babys. Während sie mit ihnen auf dem Boden von großräumigen Wohnzimmern saß, hielt sie schriftlich und mithilfe eines Kassettenrekorders fest, was die Kleinen sagten und machten. Später unterzog sie zu Hause ihre Aufzeichnungen einer genauen Analyse. Ein Jahr lang hielt sie dies auf Trab. „Es war vollkommen verrückt“, sagt sie heute, „und ich würde einem Studierenden niemals zu einem so zeitaufwendigen Projekt raten. Aber wie sich herausstellte, war es die beste Lernerfahrung, die ich je gemacht habe. So viele Stunden mit diesen kleinen Wesen zu verbringen war unglaublich aufschlussreich. Ich begann, ein tiefes Gespür dafür zu entwickeln, wie Babys ticken und was dies mit den großen philosophischen Fragen des Wissens und Denkens zu tun habe könnte.“

Mittlerweile betreute Gopnik auch zu Hause wieder einen kleinen Zögling, diesmal kein Geschwisterkind, sondern eigenen Nachwuchs. Noch vor der Abreise nach Oxford hatte sie George Lewinski geheiratet, einen Journalisten, den sie an der McGill University kennengelernt hatte. 1978, kurz bevor Gopnik mit ihrer Doktorarbeit begann, war der erste Sohn des Paares, Alexei zur Welt gekommen.

Sechs Jahre blieb Gopnik in England und sie beschreibt es als äußerst bereichernde, fast magische Zeit: erst in Oxford die Durchführung ihrer Studie und der fruchtbare Austausch in den Seminaren; dann in London, wo ihr Mann arbeitete, ein Jahr des konzentrierten Nachdenkens und Schreibens – und der tiefen Befriedigung, eine junge Mutter zu sein. „Tagsüber“, erinnert sie sich, „gab es nur mich, dieses wunderbare Baby und die Schreibmaschine, auf der ich meine Arbeit zu Papier brachte.“ Ein zweiter Sohn, Nicholas kam 1980 zur Welt, drei Tage nachdem sie ihre mündliche Doktorprüfung bestanden hatte.

Karriere mit sechs Kindern

Auch nach ihrer Rückkehr nach Kanada konnte sich Gopnik ganz der Forschung und ihrer wachsenden Familie widmen. Als Postdoc an einem Institut in Ontario und dann an der University of Toronto führte sie unabhängig Studien durch, ohne Zeit für Lehrverpflichtungen reservieren zu müssen. „In der Rückschau war der Freiraum, den ich hatte, ein großes Glück“, reflektiert sie, „auch wenn es sich damals nicht unbedingt so anfühlte. Als verheiratete Wissenschaftlerin mit Kindern hätte ich leicht auf dem Müttergleis landen können, also von einer befristeten Position zur nächsten, ohne je eine Vollprofessur zu erlangen.“

Stattdessen startete Gopnik mit ihrer Karriere so richtig durch. 1988 schrieb die University of Berkeley eine Assistenzprofessur für Psychologie aus, auf die sich die damals 33-Jährige bewarb. In Toronto hatte sie angefangen zu untersuchen, was kleine Kinder über die Gedankenwelt von anderen Menschen wissen. „Diese Forschungsrichtung hatte damals noch keinen Namen, aber es ist das, was man heute Theory of Mind- Perspektivenübernahme -nennt“, erinnert sie sich. „Es galt als aufregendes und zukunftsträchtiges Gebiet, und das sah man auch in Berkeley so.“ Die Uni heuerte Gopnik an. Als sie ihren Bewerbungsvortrag hielt, war sie mit dem dritten Sohn hochschwanger.

In den folgenden Jahren etablierte sie sich als eine der führenden Entwicklungs- und Kognitionspsychologinnen. In der berühmten Brokkoli- Goldfisch-Studie beispielsweise zeigte sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Betty Repacholi: Schon Eineinhalbjährige können zwischen ihren eigenen Vorlieben und denen anderer Menschen unterscheiden – und sie lernen dies offenbar rasant schnell. Wie fanden die Wissenschaftlerinnen das heraus? Wenn man 18 Monate alten Kindern signalisiert, dass man lieber Brokkoli als Goldfisch-Cracker mag, dann reichen sie einem in der Regel das Gemüse, obwohl sie selbst Cracker lieber mögen. Ganz anders ein paar Monate früher. Die meisten 14 Monate alten Kinder bieten einem das Salzgebäck an, auch wenn man zu verstehen gegeben hat, dass man die grünen Röschen präferiert. Zu diesem Zeitpunkt können sie sich offenbar noch nicht vorstellen, dass jemand ihre Liebe für Goldfischli nicht teilt.

Einflussreich ist auch Gopniks Forschung zum kausalen Denken von Kindern. Dazu entwickelte die Psychologin eigens den sogenannten blicket detektor, einen Kasten, der aufleuchtet und Musik spielt, wenn bestimmte Objekte, Blickets darauf platziert werden. In einem typischen Experiment beobachten die Kinder, wie jemand einen Würfel, eine Pyramide, einen Zylinder oder andere Formen entweder einzeln oder in Kombination auf den Detektor legt. Manchmal springt das Gerät an und manchmal nicht. Das Kind muss herausfinden, welche Objekte Blickets sind.

In einer Studie zeigten Gopnik und ihr Team, dass bereits Zweijährige einfache kausale Zusammenhänge schnell entschlüsseln. Andere Experimente belegten, dass Vier- und Fünfjährige diese Erkenntnisse auch anwenden können, um in anderen Situationen neue Blickets zu erkennen, was ihre Fähigkeit zum Verallgemeinern unter Beweis stellt. In manchen Situationen sind Kinder sogar besser darin, abstrakte Regeln zu identifizieren als Erwachsene. Der Grund, vermutet das Team: In jungen Jahren ist das Denken noch flexibel und man zieht auch ungewöhnliche Kombinationen in Betracht, während man später im Leben eher voreingenommen ist und so leicht voreilige Schlüsse zieht.

Seit rund 20 Jahren kooperiert Gopnik zudem mit Kollegen und Kolleginnen aus der Informatik, um herauszufinden, wie man Lernstrategien von Kindern zur Entwicklung künstlicher Intelligenz nutzen kann. Sie schätze den Austausch mit Leuten aus diesem Fachgebiet, sagt sie: „Das mögen Technikfreaks sein, aber man muss ihnen nicht lange erklären, warum es nützlich ist, kindliches Verhalten in KI-Anwendungen zu implementieren.“

Geschätzt von KI-Forschenden

Alexei Efros, ein amerikanisch-russischer Professor am Fachbereich für Elektrotechnik und Computerwissenschaften der University of California, Berkeley arbeitet mit Alison Gopnik an mehreren Projekten zusammen. Das Thema Neugier habe sie zusammengeführt, erzählt er, als ich mit ihm via Zoom spreche. 2017 hatten Efros und seine Kolleginnen und Kollegen die Idee, eine KI-Anwendung zu entwickeln, die nicht wie üblich darauf abzielt, eine bestimmte Aufgabe zu lösen, sondern die Welt frei zu erkunden. Auf diese Weise könnte man einen Roboter trainieren, nicht nur ein Spezialist zu sein, sondern ein Generalist, der alle möglichen Herausforderungen bewältigen kann.

„Als ich dies Alison zeigte, erklärte sie mir, neugieriges Erforschen sei genau das, was Kinder tun und was sie zu so hervorragenden Lernern macht. Ihr Input bestätigte uns, auf dem richtigen Pfad zu sein.“ Efros rühmt das umfassende Wissen und die originellen Einsichten der Kollegin: „Sie ist nicht nur eine legendäre Forscherin, sondern auch eine echte Universalgelehrte. Ich bin immer wieder überrascht, wie bewandert sie in Computerwissenschaften ist. Für uns KI-Leute ist sie die Anlaufstelle im Bereich Psychologie. Aber sie kennt sich auch in vielen anderen Dingen hervorragend aus, zum Beispiel in russischer Literatur. Es gibt keine Person auf dem Campus, mit der ich mich lieber unterhalte als mit ihr.“

Aber auch eine Frau wie Gopnik kennt schwierige Zeiten. 2006 erlebte sie eine schmerzhafte berufliche und ­persönliche Krise. „Ich war 50 – und am Ende meiner Kräfte“, schreibt sie darüber in einem Essay im Magazin The Atlantic. „Bis dahin hatte ich immer genau gewusst, wer ich war. Kinder waren der Mittelpunkt meines Lebens und meiner Arbeit gewesen – die Grundlage meiner Identität. Und dann hatte ich plötzlich überhaupt keine Ahnung mehr, wer ich war.“ Ihre drei Söhne waren erwachsen geworden, ihre Ehe war in die Brüche gegangen. Sie verliebte sich – erstmals in ihrem Leben – in eine Frau, mit der sie Zukunftspläne schmiedete, die sie dann aber verließ. Gopnik stürzte in ­tiefe Verzweiflung.

„Ich konnte nicht ohne Tränen an einem Spielplatz vorbeigehen“

Plötzlich konnte sie, die immer so in ihrer beruflichen Tätigkeit aufgegangen war, nicht mehr arbeiten. „Die Auflösung meiner eigenen Familie machte den bloßen Gedanken an Kinder unerträglich“, schreibt sie dazu. „Ich hatte mehrere Millionen Dollar an Forschungsgeldern erhalten, um Computermodelle des kindlichen Lernens zu untersuchen, und zudem einen Autorenvertrag für ein Buch über die Philosophie der Kindheit unterzeichnet. Aber ich konnte nicht ohne Tränen an einem Spielplatz vorbeigehen, geschweige denn ein Experiment für Dreijährige entwerfen oder über die moralische Bedeutung der elterlichen Liebe schreiben.“

Das Gefühl, in einer Sackgasse zu sein, motivierte sie, neue Wege zu erkunden. Sie ließ sich auf die ein oder andere Romanze ein, mit Männern und Frauen. Sie begab sich auf eine intellektuelle und reale Reise, um zu erkunden, ob der von ihr verehrte Philosoph David Hume möglicherweise von den Lehren des Buddha beeinflusst gewesen war. Sie fand eine neue Liebe, den Computerwissenschaftler und Mitgründer des Animationsstudios Pixar Alvy Ray Smith, den sie 2010 heiratete. Ihre Lebensfreude kehrte zurück. „Ich war wieder die glückliche und fröhliche Frau, die ich vor der Krise gewesen war“, beendet sie den Essay. „Ich hatte meine Rettung in der schier unendlichen Neugier des menschlichen Geistes gefunden – und in der schier unendlichen Vielfalt menschlicher Erfahrungen.“

Auch die sechs Enkelkinder, das älteste 2011 geboren, das jüngste 2024, brachten ihr große Freude, wie sie betont: „Meine Erfahrung teilen wohl viele Großeltern: Als Mutter muss man sich um so viele Dinge kümmern; als Oma kann man einfach genießen.“ Die Beziehung zu ihren Enkeln und Enkelinnen habe eine ganz eigene Dimension, die außerordentlich befriedigend sei, sagt sie. „Da sind tiefe Gefühle. Aber es geht auch darum, Wissen und Informationen an die junge Generation weiterzugeben. Dinge wie Vorlesen und Singen sind eine Stärke von Großeltern, weil sie Geduld und Muße haben.“ Die großelterliche Rolle bei der kulturellen Überlieferung (cultural transmission), wie sie es nennt, ist aus ihrer Sicht so wichtig, dass sie gerade ein Buch dazu schreibt.

Bei ihren Enkelkindern komme es sehr gut an, weiß Gop-nik, wenn sie mit ihnen Songs aus Broadway-Musicals singt und ihnen griechische Sagen erzählt. Als ihr ältester Enkel vier Jahre alt war, habe er zu ihr gesagt: „Oma, du bist nicht besonders gut im Sport und ich liebe Mama am meisten, aber deine Geschichten sind wirklich die besten, besonders die über Odysseus, die sind richtig gut.“ Sie habe nichts dagegen, die Lorbeeren für 2000 Jahrealte klassische Kultur zu ernten, sagt Gopnik scherzend, wirkt aber auch berührt. „Mein vierjähriger Enkel aus Montreal sagte kürzlich etwas Ähnliches: ‚Grandma, ich liebe dich, weil du eine so gute Erzählerin bist – und wegen der Art, wie du mich liebst.‘“ Das, sagt Gopnik, stellt sie sich nun als ihre Grabinschrift vor: Sie war gut darin, Geschichten zu erzählen und Vierjährige zu lieben.

Das Porträt

In unserer Serie erschienen zuletzt:

Guy Bodenmann – Der Paarversteher. Heft 4/2025

Michele Gelfand – Die Mitreißende. Heft 12/2024

Ernst Fehr – Der Entdecker der Fairness. Heft 8/2024

Angelika Eck – Die Wegbegleiterin. Heft 3/2024

Kristin Neff – Die streitbare Mitfühlende. Heft 12/2023

…und viele mehr. Alle Porträts finden Sie hier.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2025: Drüber wegkommen