Guy Bodenmann: Der Paarversteher

Er gehört zu den einflussreichsten Paarforschern der Welt. Sein Spezialgebiet: Was Paare stresst und wie sie es überwinden. Guy Bodenmann im Porträt

Der Psychologe Guy Bodenmann vor einer Bücherwand
Guy Bodenmann ist ein Schweizer Psychologe, Paartherapeut und Professor an der Universität Zürich. © Daniel Winkler für Psychologie Heute

Alle Züge fahren pünktlich. Wer konnte damit rechnen? So erreiche ich das Psychologische Institut der Universität Zürich zwei Stunden zu früh. Leider liegt es nicht malerisch unten am See, sondern in einem kühlen Bürogebäude in Oerlikon, einem nur mäßig gemütlichen Viertel auf halbem Weg zum Flughafen. Hier bin ich mit einem der bekanntesten Paarforscher der Welt verabredet: Guy Bodenmann. Eine halbe Stunde vertrödle ich auf menschenleeren Fluren. Ein Konferenzposter beschreibt dort eine Studie aus…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

Eine halbe Stunde vertrödle ich auf menschenleeren Fluren. Ein Konferenzposter beschreibt dort eine Studie aus Bodenmanns Team. Ein Plakat wirbt für seinen Podcast Beziehungen verstehen, ein Schaukasten präsentiert die von ihm geschriebenen Bücher. Nicht all seine Bücher, denn dafür fehlt der Platz. Mehr als 30 verschiedene Titel aus seiner Feder habe ich in meiner Vorbereitung gefunden. Dazu kommen über 400 wissenschaftliche Aufsätze. Wann hat der Mann das bloß alles geschrieben? So sitze ich grübelnd an einem Tischlein vor seinem Büro und warte.

Plötzlich öffnet sich die Tür. Guy Bodenmann entlässt seinen Besuch und blickt mich erstaunt an. „Nanu, Sie sind schon da?“ Die meisten Bilder zeigen Guy Bodenmann als Mann mit kantigem Sportlergesicht. Bei unserer Begegnung wirkt er etwas weniger athletisch als erwartet. Möglicherweise liegt es an der Tagesform? In den Wochen vor unserem Treffen hat ihn ein schwerer Infekt erwischt. „Ich bin im Moment nicht so ganz repräsentativ“, sagt er entschuldigend. Doch die Sache hat ihr Gutes. Bodenmann möchte früher Feierabend machen und ist deshalb froh, unser Gespräch vorziehen zu können. „Freundlich & spontan“, notiere ich in meinen Block.

Das Schlüsselerlebnis

Erst mal über seine Kindheit reden. Guy Bodenmann ist zunächst in Bern aufgewachsen als das jüngste von drei Kindern. Seine Eltern beschreibt er als „sehr bildungsorientiert“. Sie haben Abitur, die Lebensumstände verwehren beiden ein Hochschulstudium. Die Mutter wird Hausfrau, der Vater arbeitet bei der Schweizer Bundesbahn, wo er zur Führungskraft wird. Eine Beförderung führt ihn und die Familie irgendwann an den Genfer See in die französischsprachige Schweiz, „ins Welschland“, wie Guy Bodenmann es formuliert mit kehligem Schweizer Akzent.

Ich frage nach den Hobbys seiner Jugend und vermute jede Menge Sport: Bergsteigen, Drachenfliegen, Skifahren, Tennis und dergleichen. Bodenmann schüttelt den Kopf. „Ich war vor allem eine Leseratte und habe klassische Musik gehört.“ Während die Klassenkameraden zu Deep Purple, Led Zeppelin und Pink Floyd das Zauselhaar schütteln, zieht es Bodenmann in Opernhäuser. Er liebt Beethoven und Schumann, aber auch die Novellen von Raabe und Mörike, die Lyrik von Hölderlin und Kleist. „Ich habe als Teenager selbst Gedichte geschrieben“, gesteht er. Auch die Kunst begeistert ihn. Statt ins Fußballstadion geht er mit seiner Clique in Kunstmuseen. „Mit 15 habe ich angefangen zu malen.“ Diese Leidenschaft bahnt seine berufliche Laufbahn. Er möchte Kunstmaler werden, scheitert aber an der Aufnahmeprüfung für die Kunstgewerbeschule und studiert stattdessen Kunstgeschichte und Germanistik in Bern.

Dann kommt es zu einem „Schlüsselerlebnis“, wie Bodenmann es nennt. Im Mittelpunkt steht das berühmte Gemälde Der Mann mit dem Goldhelm. Lange Zeit wird es dem Maler Rembrandt zugeschrieben und auch Bodenmanns Professor feiert es als Meisterwerk. Dann jedoch entdecken Fachleute: Das Bild kann unmöglich von Rembrandt gemalt worden sein. Plötzlich behauptet Bodenmanns Professor, die Nicht-Echtheit des Bildes sei „auf den ersten Blick erkennbar“ gewesen. „Da wusste ich: Das kann es nicht sein!“, erinnert sich Guy Bodenmann. Enttäuscht bricht er sein Studium ab. Er will sich lieber sozial engagieren, studiert klinische Heilpädagogik in Fribourg, ein Fach, das man am ehesten mit der Sonderpädagogik vergleichen kann.

Bodenmann arbeitet in diesem sehr praxisbezogenen Studium mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung oder Verhaltensauffälligkeiten. „Das war eine spannende Zeit und überhaupt ein Glücksfall. Denn dort habe ich meine Frau kennengelernt, mit der ich nach wie vor zusammen bin.“ Prägend wird die neue Partnerin nicht nur für Bodenmanns Privatleben, sondern auch auf seinem beruflichen Weg. Denn es ist seine Frau, die ihn anstiftet, dem ersten Abschluss noch ein weiteres Studium folgen zu lassen und auch dieses Fach gemeinsam anzugehen: Die Psychologie wird dafür sorgen, so glaubt sie, „dass unser Horizont mehr Breite bekommt“.

Was sagen Bodenmanns Mutter und Vater zu dieser wechselhaften Suche nach einem Platz in der Welt? „Meine Eltern haben mich eigentlich immer gefördert“, sagt er. „Da war nie diese Idee: ,Jetzt leg dich doch endlich mal fest!‘ Rückblickend gehört diese Großzügigkeit mit zum Schönsten überhaupt. Diese Freiheit, dieses Zutrauen. Das ist das, was mich mit am meisten geprägt hat.“

Der Neugier verpflichtet

Jedenfalls muss Guy Bodenmann am Beginn seines Psychologiestudiums in Fribourg eine ungewöhnliche Erscheinung gewesen sein. Er ist Mitte zwanzig und damit reifer, lebenserfahrener und sicherlich auch gebildeter als andere Erstsemester. Schon im ersten Jahr kommt es für ihn zu einer Begegnung, die er als „schicksalhaft“ bezeichnet. Sein Lieblingsprofessor, der klinische Psychologe Meinrad Perrez, bietet ihm eine Stelle in seinem Team an – Bodenmann hat sich nicht einmal dafür beworben. Statt sich die Vorlesungen nur anzuhören, darf Bodenmann jetzt sogar am Skript des Professors mitschreiben. „Ich habe mich reingekniet und dadurch einen ganz anderen Einblick in die Materie bekommen“, erinnert er sich. So wird Meinrad Perrez über viele Jahre der wichtigste Förderer und Mentor für den jungen Guy Bodenmann. Er macht ihm nach seinem Abschluss 1991 auch das Angebot, bei ihm zu promovieren. Bodenmann ist zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt.

Heute wirkt es manchmal so, als würde Guy Bodenmann unmerklich den Kopf schütteln, wenn er von seiner Karriere erzählt. „Ich hatte nie den Plan, Professor zu werden“, sagt er. Erfolg ist bei vielen das Ergebnis strategischer Planung. In Guy Bodenmanns Lebensbericht wartet man auf solche Gedanken vergeblich. „Ich habe immer gemacht, was mich interessiert hat und was ich spannend fand.“ Überhaupt das Adjektiv „spannend“, dieses Zauberwort seines Lebens! In unserem Gespräch verwendet er es genau 91-mal. So spricht ein Mensch, der sich vor allem der eigenen Neugier verpflichtet fühlt. Aus dieser Quelle sprudelt immer neue Energie für lange Arbeitstage.

Was genau interessiert ihn? Vor allem das Thema Stress, das Kernthema seines Lehrmeisters Perrez. Stress, so die ­damalige Lehrmeinung, verarbeiten wir, indem wir die anstehenden Probleme lösen und unsere belastenden Emotionen besänftigen. Wir tun all das allein, als Einzelwesen. Die Psychologie stellt sich den gestressten Menschen gleichsam als jemanden vor, der auf dem Fahrrad ins Schlingern gerät. Der junge Guy Bodenmann ist überzeugt, dass bei dieser Deutung etwas fehlt. Denn strampelt bei Paaren wirklich jeder auf dem eigenen Vehikel? Gleicht die Situation nicht eher der zweier Menschen, die gemeinsam auf einem Tandem sitzen und auch nur gemeinsam fallen oder zusammen wieder in die stabile Spur zurückfinden?

Die Geheimformel der Paarkommunikation

Genau das will Guy Bodenmann beweisen – und zwar mithilfe von Experimenten. Das methodische Handwerkszeug dafür ist in der Schweiz kaum zu lernen. Sein Weg führt ihn deshalb in die USA zu John Gottman von der University of Washington in Seattle, dem in den 1990er Jahren größten und innovativsten Paarpsychologen der Welt. „Gottman hatte damals sein eigenes Labor und befand sich in der Hochblüte seiner Forschung“, schwärmt Guy Bodenmann. Gemeinsam mit seiner Frau Corinne Bodenmann-Kehl ergattert er einen Forschungsaufenthalt in Gottmans Team. „Das war eine unglaublich spannende Zeit für uns“, sagt Bodenmann.

Forschende aus vielen verschiedenen Disziplinen ­versuchen dort, die Geheimformel der Paarkommunikation zu knacken. Gespräche hält man penibel per Video fest und übersetzt Worte und Gesten nach einem eigenen Kodiersystem in scheinbar unbestechliche Zahlen und Formeln. All das erlernen die Bodenmanns an der Westküste der USA. „Wir saßen oft bis zwei oder vier Uhr nachts beisammen und haben mathematische Modelle entwickelt“, sagt Guy Bodenmann.

Zurück in Fribourg vermählt Guy Bodenmann die Stressforschung seines Doktorvaters Perrez mit den amerikanischen Experimenten und Videoanalysen. Er lernt in dieser Phase auch viel von den Arbeiten des deutschen Psychologen Kurt Hahlweg darüber, wie Paare mit Konflikten umgehen. In seinen eigenen Studien bittet Bodenmann einige Paare ins Labor, bringt sie dort in Stresssituationen und zeichnet haargenau auf, was das mit ihrem Verhalten und ihren Gesprächen macht. „Um 40 Prozent schlechter“ werde die Kommunikation solcher Paare, sagt Guy Bodenmann. Und er kann tatsächlich nachweisen, dass er mit seiner Hypothese genau auf der richtigen Spur ist: Stress wird für Paare zu einer gemeinsamen Sache, sie handeln wie zwei Menschen auf einem Tandem. Gemeinsam schwankend, gemeinsam aus der Balance geratend, sich gemeinsam wieder fangend, wenn alles gut läuft.

Stressbewältigung im Zweierteam

Stress ereilt uns in vielen Gestalten. Bodenmann konzentriert sich in seiner Forschung zunächst auf die sogenannten daily hassles, also den ganz normalen Alltagsstress. Die Quellen dafür liegen meist außerhalb der Paarbeziehung: Man ärgert sich über eine Kollegin, den Baulärm in der Nachbarschaft, Züge, die verspätet fahren – oder ausgerechnet dann mal pünktlich sind, wenn man ihre Verspätung eingeplant hat. Solche Belastungen werden irgendwann zum Thema innerhalb einer Paarbeziehung. Und in neun Prozent unserer Paargespräche, sagt Guy Bodenmann, versuchen beide Partner, diese Probleme im Gespräch gemeinsam zu lösen. „Dyadisches Coping“ nennt Bodenmann dieses Phänomen, man kann das übersetzen als „Stressbewältigung im Zweier­team“.

Bodenmann entdeckt noch mehr: Für dieses schwankende Tandem gelten andere Regeln als für die Stressbewältigung einer Einzelperson. Manche Strategien funktionieren ausgezeichnet, wenn man seine Belastungen allein meistert. Wenn Paare das gemeinsam versuchen, laufen einige von ihnen aber oft ins Leere. Dazu gehören etwa die gutgemeinten Ratschläge („Warum delegierst du die viele Arbeit nicht einfach?“) oder Techniken der Umbewertungen („Eigentlich ist das doch keine große Sache!“). Solche Sätze helfen, wenn wir sie uns selbst sagen. Wenn sie vom Partner kommen, fühlen wir uns unverstanden und ziehen uns zurück.

Was im dyadischen Coping besser hilft, ist eine tiefere und stillere Form der Unterstützung. Sie zeigt sich im Zuhören, darin, dass wir den anderen erzählen lassen und Solidarität und Mitgefühl signalisieren. Es ist nicht das harte Gegenlenken, das unser schlingerndes Tandem wieder auf Kurs bringt. Was uns stabilisiert, ist eher ein sanftes, einem Paartanz gleichendes Ausbalancieren. Es lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: „Ich bin bei dir!“

Die Feuerprobe

Guy Bodenmann hat zu diesem Zeitpunkt bereits seine Feuerprobe in der Welt der Wissenschaft bestanden: den Besuch seiner ersten Forschungskonferenz zum Thema Stressbewältigung in den 1990er Jahren in Deutschland. Der Ton auf der Tagung schockiert ihn. Aus der Schweiz kennt er höfliche Umgangsformen. In Deutschland jedoch herrscht damals ein „aggressives Debattierklima“, erinnert sich Bodenmann. „Da wurden Leute im Plenum sehr harsch angegangen, kritisiert und zum Teil sogar demontiert.“ Wird man auch ihn für sein Konzept des dyadischen Copings niedermachen? „Wenn die Sache schiefgegangen wäre, hätte ich die Karriere an den Nagel gehängt“, sagt Bodenmann. Doch genau das Gegenteil geschieht: „Da kamen ausschließlich wohlwollende Kommentare und interessierte Fragen. Das war unglaublich schön und sicherlich ein Schlüsselmoment in meiner Laufbahn.“

Vieles glückt Bodenmann in diesen Jahren. Er promoviert, macht nebenbei eine Fachausbildung zum verhaltenstherapeutischen Psychotherapeuten. Seine Frau und er bekommen drei Kinder. Bodenmanns Doktorvater Perrez gründet in Fribourg das Institut für Familienforschung und -beratung – und überträgt Guy Bodenmann die Leitung. „Anfangs bestand das Institut nur aus mir, vier Räumen und vier Computern – und sonst nichts“, erzählt er. Dennoch sei das für ihn „eine riesige Chance“ gewesen. Bodenmann nutzt sie. An seinem Institut forschen Fachleute aus unterschiedlichsten Disziplinen: Jura, Ökonomie, Theologie, Ethnologie, Psychologie. Bodenmanns Team bietet auch Therapien an, Beratungen, Kurse für Paare und psychologische Fortbildungen.

Mit 39 wird Guy Bodenmann in Fribourg Professor für klinische Beziehungspsychologie; er ist endgültig zu einer festen Größe in der internationalen Paarforschung geworden. Jede Woche arbeitet er für ein paar Stunden als Therapeut. Das sei einer der Wege, die gewonnenen Erkenntnisse an die Welt zurückzugeben – und immer weiter neu dazuzulernen. Als Psychologe, aber auch als Ehepartner. „Manchmal habe ich Paare vor mir sitzen mit ihren Problemen und merke: Moment mal! Nur einen Schritt weiter, dann sind meine Frau und ich auch an diesem Punkt. Da müssen wir aufpassen! Deshalb ist diese Arbeit auch für mich privat immer wieder extrem belehrend und bereichernd.“ Bodenmann entwickelt mit seinem Team den Präventionskurs Paarlife und die ­bewältigungsorientierte Paartherapie, deren Prinzipien sich auch ohne therapeutische Begleitung anwenden lassen.

Eine Kopie der Geschichte

In unserem Gespräch hat Guy Bodenmann bislang mit viel Energie geredet. Jetzt hustet er ein wenig. Offenbar ist er wirklich noch nicht bei 100 Prozent seiner Kraft. Wir machen eine Pause. Bodenmann verlässt den Raum, um Getränke zu besorgen. Für mich: Zeit, um in Ruhe sein Büro anzusehen. Ein großes, helles Eckbüro ist das. Wir sitzen an einem Konferenztisch für zehn Personen, neben mir sehe ich eine Leinwand nebst Beamer für Präsentationen. An der Wand hängen drei Bilder aus der Serie der „Blauen Akte“ von Henri Matisse, an der Stirnseite steht ein sehr ordentlich aufgeräumter Schreibtisch, Familienfotos in der Ecke, Symbole der Verbundenheit.

Neben seiner Neugier ist das Zwischenmenschliche unzweifelhaft die Triebfeder für diesen Mann. Zwölf seiner früheren Doktorandinnen und Doktoranden haben eine der raren Professuren im deutschsprachigen Raum ergattert. Einer von ihnen ist Marcel Schär Gmelch, der heute an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften forscht und lehrt. Als er mir in unserem Zoom-Call von seinem Werdegang bei Bodenmann erzählt, traue ich meinen Ohren nicht. Es klingt wie eine exakte Kopie dessen, was Bodenmann selbst mit seinem Lehrmeister Perrez erlebt hat: Guy Bodenmann bietet Schär Gmelch schon im dritten Semester einen Job an, gibt ihm über viele Jahre eine Menge Freiheit, Zutrauen und Verantwortung.

„Er hat mich immer gesehen, gehört und gefördert“, sagt Schär Gmelch. Bodenmann muss aber auch eine Menge gefordert haben: Kreativität, Sorgfalt und jede Menge Fleiß. Schär Gmelch schwärmt von Bodenmanns Vorlesungen, die „unglaublich schön“ gewesen seien. Fast rührend empfinde ich, was Schär Gmelch von Bodenmanns Weihnachtstradition für sein Team in Fribourg erzählt: Jahr für Jahr habe Bodenmann für alle ein erstklassiges Käsefondue organisiert. Mehr Schweiz geht nicht!

Aufklappen und ausblenden

Guy Bodenmann kehrt inzwischen zurück mit Kaffee und Wasser. Jetzt ist die Zeit, über seine Bücher zu reden. Wann schreibt er sie? Einen Teil des Geheimnisses hat mir schon Marcel Schär Gmelch verraten: Guy Bodenmann, so sagt er, könne aus dem Stand druckreife Texte schreiben. Der zweite Teil liegt in Bodenmanns Wohnsituation. 2008 ist Guy Bodenmann einem Ruf der Uni Zürich gefolgt. Auch seiner Frau zuliebe, die ebenfalls eine Stelle an der Universität bekommt. Das Paar wohnt seither im Kanton St. Gallen, ihrer Heimat, der sie sich seit je sehr verbunden gefühlt hat. Mit der Bahn dauert der Weg zum Institut in Zürich rund 45 Minuten.

„Ich setze mich am Morgen in den Zug, klappe den Rechner auf und fange an zu schreiben. Ich kann dann voll ausblenden, was ringsum passiert.“ Die Zugfahrt verbindet Guy Bodenmanns Job mit seinem Privatleben; zugleich erschafft er in ihr einen zweiten Übergang: Er verbindet die Gedanken der Wissenschaft mit der Sprache des Alltags. Was für ein schönes Bild, erschaffen – Zufall oder nicht – von einem früheren Kunstmaler.

Worüber forscht Guy Bodenmann in Zürich? Sein Hauptthema bleibt bis heute das dyadische Coping. Er hat entdeckt, dass diese partnerschaftliche Bewältigung nicht nur den Alltagsstress mindert, sondern auch bei Schicksalsschlägen wie der Krebserkrankung eines Partners entscheidend helfen kann. Wenn Verständnis und Mitgefühl die Gespräche leiten, entsteht eine we-disease – eine gemeinsame Last, die beide tragen.

Auch im Bereich Scheidung und Trennung findet Bodenmann Erstaunliches. Knapp ein Viertel aller Paare, die sich heute trennen, hat zuvor harmonisch zusammengelebt, eine Zahl, die sich seit den 1970er Jahren verdreifacht hat. Meist geschieht das, wenn die Kinder aus dem Haus sind und man vor der Frage steht: „War das schon alles?“ Bodenmann spricht von „Luxusscheidungen“. Ist der moralische Unterton beabsichtigt? Bodenmann wiegt den Kopf: „Ich weiß einfach, dass eine harmonische Partnerschaft eines der wichtigsten Gefäße ist für Wohlergehen, für Gesundheit, für Langlebigkeit.“ Und die emotionale Verbundenheit von 20 oder 30 Jahren Beziehung könne man auch durch eine sexuell aufregende neue Liebe kaum wieder aufholen. „Diesen Zusammenhang haben die wenigsten Menschen auf dem Radar“, sagt er. Viele würden außerdem übersehen, dass solche unerwarteten Trennungen für Kinder oft einen massiven Vertrauensverlust in die Welt bedeuten.

Die Orange im Schlosspark

Im März 2025 wird Guy Bodenmann 63 Jahre alt. Mit 65 will er aufhören. „Ich werde Platz machen, damit frische Kräfte ins System kommen“, sagt er. Was will er bis dahin noch erforschen? Derzeit befasst er sich mit dem dyadischen Coping am Lebensende, wenn einem Partner oder einer Partnerin nur noch wenige Wochen oder Monate bleiben. Wie bewältigen Paare diese vermeintlich letzte Etappe ihres gemeinsamen Weges? „Vermeintlich“ deshalb, weil die Beziehung nach dem Tod psychologisch selten vorbei ist. „Welches Erbe nimmt man da mit? Wie sieht das ein halbes Jahr später aus? Steht man vielleicht am Grab und spricht mit dem verstorbenen Partner? Das möchte ich noch erforschen.“

Nach seiner Pensionierung will Bodenmann wieder Kunstgeschichte studieren und parallel als Paartherapeut arbeiten. „Meine Frau möchte noch eine Weile als Therapeutin tätig sein, für unsere Beziehung ist es sicherlich besser, wenn unser Leben da synchron verläuft.“ Und dann gehe es irgendwann darum, „den Moment zu erwischen, wo man merkt: Jetzt ist es gut mit der Arbeit.“ Wie das gelingt?

Guy Bodenmann blickt kurz aus dem Fenster. Dann antwortet er mit einer Novelle aus dem 19. Jahrhundert: Eduard Mörike beschreibt darin, wie Mozart auf seiner Reise nach Prag versehentlich eine Orange in einem Schlosspark pflückt. Er hält sie betrachtend in der Hand, da löst sie sich von selbst vom Zweig, ohne äußeres Zutun. Das ist Bodenmanns inneres Bild für jede Art der Veränderung. Alles hat seine Zeit, diesen einen, fast magischen Moment, an dem sich die Dinge wie von selbst vollziehen, federleicht und mühelos. So ein Abschied wäre der letzte Pinselstrich, die kleine Signatur rechts unten auf einer sehr schön bemalten Leinwand.

Bücher von Guy Bodenmann

Bevor der Stress uns scheidet. Resilienz in der Partnerschaft. Hogrefe 2015

Auf rund 270 Seiten schildert Guy Bodenmann, wie partnerschaftliche Stressbewältigung funktioniert. Das Buch ist verständlich geschrieben, richtet sich sowohl an eine allgemeine Leserschaft als auch an Fachleute. Rührend liest sich vor allem die Danksagung im Vorwort des Buches: „Die Augen für die zentralen Aspekte der Stressbewältigung hat mir meine Frau Corinne in den 30 Jahren unserer gemeinsamen Beziehung geöffnet.“

Mit ganzem Herzen lieben. Commitment – wie Ihre Beziehung langfristig glücklich bleibt. Patmos 2023

Dieser Ratgeber beginnt mit einem Geständnis: „Bis heute ist es der Wissenschaft nicht gelungen, die Liebe zu entschlüsseln.“ Was hält sie lebendig? Guy Bodenmann glaubt: Es ist unser Commitment, das Sichfestlegen und Sicheinlassen auf den anderen Menschen. Auf gut 200 Seiten erklärt er, welche Rolle Treue und Sexualität dabei spielen. Als Fallbeispiele dienen ihm nicht nur heterosexuelle Paare.

Schatten über der Partnerschaft. Wie Paare Depressionen gemeinsam bewältigen können. Hogrefe 2022

Wenn uns eine Depression ereilt, ist stets auch unsere Partnerschaft betroffen. Guy Bodenmanns Karriere stand immer unter der Überschrift des dyadischen Coping, der partnerschaftlichen Bewältigung von Stress. Dieses Buch macht dabei keine Ausnahme. Bodenmann glaubt: Selbst bei einer Depression kann die Liebe noch tiefer werden, wenn es dem Paar gelingt, daraus eine we-disease zu machen, eine Last, die gemeinsam getragen wird. Bodenmann hat über ein eher düsteres Thema ein mutmachendes, sogar optimistisches Buch geschrieben.

Das Porträt

In unserer Serie erschienen zuletzt:

Michele Gelfand Die Mitreißende. Heft 12/2024

Ernst FehrDer Entdecker der Fairness. Heft 8/2024

Angelika EckDie Wegbegleiterin. Heft 3/2024

Kristin NeffDie streitbare Mitfühlende. Heft 12/2023

Brent RobertsDer Wandelbare. Heft 8/2023

Tim LomasDer Kartograf des Fühlens. Heft 4/2023

Ralf T. VogelDer Vielseitige. Heft 12/2022

Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie außerdem das Interview mit Guy Bodenmann über seine Praxis als Paartherapeut in „Zuhören ist oft die beste Form der Unterstützung“.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Wir freuen uns über Ihr Feedback!

Haben Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Beitrag oder möchten Sie uns eine allgemeine Rückmeldung zu unserem Magazin geben? Dann schreiben Sie uns gerne eine Mail (an: redaktion@psychologie-heute.de).

Wir lesen jede Nachricht, bitten aber um Verständnis, dass wir nicht alle Zuschriften beantworten können.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2025: Meine verborgenen Seiten und ich