Michele Gelfand: Die Mitreißende

Ob nun zu Extremismus oder Epidemien, sie befasst sich mit Konflikten und erforscht dazu die Kulturen aller Welt. Michele Gelfand im Porträt

Die Kulturpsychologin Michele Gelfand sitzt im Freien vor Bäumen
Michele Gelfand ist Kulturpsychologin. Sie forscht zu Themen wie Extremismus, Epidemien oder Intergruppenkonflikte. © Patrick Strattner für Psychologie Heute

Als Michele Gelfand 20 Jahre alt war und am College studierte, beschloss sie, sie müsse endlich mal in die Welt hinaus. Sie war behütet in Long Island in der Nähe von New York City aufgewachsen und hatte die USA noch niemals verlassen. Also schrieb sie sich für ein Auslandssemester an der City University London ein. Sie fühlte sich abenteuerlustig, doch nach ihrer Ankunft in der Stadt an der Themse hätte sie sich am liebsten in ihrem Zimmer eingeschlossen. Die Studentin erlebte einen Kulturschock, wie er im…

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sie sich am liebsten in ihrem Zimmer eingeschlossen. Die Studentin erlebte einen Kulturschock, wie er im Buche steht. Alles schien fremd: der britische Akzent, der Linksverkehr, black pudding, die endlose Zahl an geselligen Pubs.

Zudem kam es ihr seltsam vor, dass ihre Mitstudierenden einfach so fürs Wochenende Großbritannien verließen und nach Amsterdam, Paris oder Berlin reisten. Sie fühlte sich völlig verwirrt – bis ihr Vater Martin ihr den Weg aus der Krise wies. „Stell dir einfach vor, du würdest von New York nach Pennsylvania fahren“, riet er ihr bei einem Telefonat. Das tat sie und buchte sogleich eine Low-Budget-Reise nach Ägypten – was der Vater wiederum ein bisschen zu abenteuerlich fand. („Stell dir einfach vor, ich würde von New York nach Kalifornien fliegen“, konterte sie.) Statt sich ihren Ängsten hinzugeben, machte sie fortan das Gegenteil und nahm jede Gelegenheit wahr, fremde Länder kennenzulernen.

Heute, gut 35 Jahre später, ist Gelfand mit vielen Kulturen bestens vertraut. Die Wissenschaftlerin ist kreuz und quer um den Globus gereist und hat in mehr als 50 Ländern geforscht. Im Nahen Osten untersuchte sie, welche Rolle Vertrauen in Verhandlungen spielt und was es dort mit dem Begriff der Ehre auf sich hat. Dazu verbrachte sie Wochen und Monate in Jordanien, Ägypten und Israel. In Sri Lanka nahm sie unter die Lupe, was Menschen motiviert, terroristischen Gruppen beizutreten. In den Philippinen interviewte sie Terroristen im Gefängnis. Mit Kolleginnen und Kollegen in Peking erforschte sie Rachegefühle bei Intergruppenkonflikten.

Forschung für internationale Player

Ich besuche Gelfand an der Stanford University, wo sie einen Lehrstuhl für Cross-Cultural Management und Organizational Behavior sowie eine Professur für Psychologie innehat. Nachdem sie 25 Jahre am anderen Ende des Landes, an der University of Maryland geforscht hatte, lehrt sie seit 2021 an der privaten Top-Universität im Herzen des Silicon Valley, die bekannt ist für Unternehmergeist, ein hohes Stiftungsvermögen und einen palmenbestückten Campus.

Als ich komme, steht Gelfands Bürotür offen und ich kann hören, wie sie einem Gastforscher das Leben an der Universität näherbringt. Nachdem sie ihn verabschiedet hat, kommt sie mit ausgestreckten Armen auf mich zu und begrüßt mich herzlich. Die Forscherin strahlt viel Präsenz und Energie aus. Ob ich etwas zu trinken möchte, fragt sie mich, während ich meine Sachen ablege, und als ich bejahe, gehen wir gemeinsam in die Kaffeeküche und decken uns mit Espresso und Wasser ein.

In Deutschland habe sie eine Menge Zeit verbracht, erzählt sie, als wir mit unseren Getränken in ihrem hellen Arbeitszimmer zusammensitzen. 2012 erhielt Gelfand den Anneliese-Maier-Forschungspreis, mit dem die Alexander-von-Humboldt-Stiftung einige Jahre lang herausragende internationale Forschende auszeichnete. „Zur Preisverleihung bin ich mit meinen beiden Töchtern Jeanette und Hannah, damals 10 und 7 Jahre alt, nach Heidelberg gereist. Danach haben wir einen Abstecher nach Frankfurt gemacht, weil ich den berühmten Jazzkeller besuchen wollte.“ Auch vom Wein der Region schwärmt sie. „Ich liebe trockenen Riesling aus dem Rheingau.“ Ihr Preisgeld habe sie für ein Forschungsprojekt an der damaligen Jacobs University in Bremen eingesetzt und die Kollegen und Kolleginnen dort oft besucht.

Gelfand befasst sich viel mit Fragen, die für international agierende Player relevant sind: Regierungen, Militär, Wirtschaftsunternehmen, Medien, Non-Profit-Organisationen. Aber auch Privatpersonen und Familien können die Einsichten ihrer Forschung für sich nutzen.

Am bekanntesten ist die Kulturpsychologin wohl für die sogenannte cultural tightness-looseness theory. Danach wird das Verhalten von Menschen stark davon beeinflusst, wie normgebunden die Kultur ist, in der sie leben. In eng normgebundenen Kulturen (tight cultures) sind die sozialen Regeln streng; selbst kleine Überschreitungen werden sanktioniert. Lose normgebundene Kulturen (loose cultures) dagegen haben schwache soziale Normen und abweichendes Verhalten wird eher toleriert. Über mehr als 20 Jahre hat Gelfand untersucht, welchen Einfluss diese Unterschiede auf die verschiedensten Aspekte des Lebens haben, von der Pünktlichkeit im Alltag über gesellschaftliche Reaktionen auf Epidemien bis zu Problemen bei internationalen Firmenfusionen.

Unstillbare Lust am Lernen

In ihrem Buch Rule Makers, Rule Breakers von 2018 erklärt sie ihre Erkenntnisse laienverständlich. Sie habe es in gewisser Weise für ihren Vater geschrieben, erzählt sie. „Dad beklagte sich, dass er kein Wort verstehe, wenn ich über meine Forschung spräche, weil ich so viel Fachjargon verwende. Seine Worte machten mir klar, wie wichtig es ist, das Wissen über Kultur einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Es ist nicht gut, wenn einen der eigene Vater nicht versteht.“

Der Vater kommt in Gelfands Erzählungen häufig vor. Von ihm habe sie ihre hohe Arbeitsmoral, sagt sie. „Er ist Ingenieur und hat immerzu konzentriert gearbeitet, ohne jemals zu klagen.“ Gelfands Mutter kümmerte sich um Michele und ihre beiden Brüder. „Meine jüdischen Großeltern waren aus Polen geflohen und hatten sich in Brooklyn niedergelassen. Hier wurden meine Eltern geboren. Ihre eigenen Kinder sollten nicht in New York City aufwachsen, das war ihr Ziel, und so zogen sie später raus in die Suburbs nach Long Island.“ The American Dream.

Wie in vielen jüdischen Familien sei Bildung für ihre Eltern wichtig gewesen, erzählt Gelfand, „aber es gab wenig Interesse an Geschehnissen außerhalb unserer kleinen Welt. New York schien uns das Zentrum des Universums zu sein. Gelegentliche Verwandtenbesuche in Florida, auch mal eine Reise an die Westküste, das war’s.“ Gelfand beschreibt sich als ein äußerst neugieriges Kind mit einer unstillbaren Lust am Lernen. Biologie und Mathe waren ihre Stärken und sie gehörte dem Science Olympiad-Team ihrer Highschool an, das zu nationalen Turnieren fuhr, um sich mit anderen Schulmannschaften zu messen.

Zu Hause wurde das Leben sehr durch die Krebserkrankung des jüngeren Bruders geprägt. Alle, auch Michele, verbrachten viel Zeit im Krankenhaus. So beschloss sie, Ärztin zu werden, und schrieb sich nach der Schule an der Colgate University im Bundesstaat New York in Biologie ein, ein typisches Vorbereitungsstudium für die medical school.

Doch dann kam alles anders. Bei einem Praktikum beim Arzt ihres Bruders erkannte die junge Studentin, dass sie eigentlich genug vom klinischen Umfeld hatte. So sattelte sie auf Psychologie um. Sie liebte die Neurowissenschaften, aber dann stolperte sie eher zufällig über einen Kurs in kulturvergleichender Psychologie – und war gefesselt. „Ich lernte, dass selbst optische Täuschungen nicht überall auf der Welt gleichermaßen auftreten. Wenn sich Kulturen gar auf einer so grundlegenden Ebene wie dem Sehen unterscheiden, wie sieht es dann erst beim Sozialverhalten und in anderen komplexen Situationen aus? Diese Frage ließ mich nicht mehr los, und so machte ich eine Drehung um 180 Grad, weg vom Gehirn, hin zur Kultur.“

Unterschiedlichkeit im Fokus – zum Glück

In ihrem Buch beschreibt Gelfand Kultur als „widerspenstiges Mysterium und eines der letzten unbekannten Grenzgebiete“. Ich frage sie, was sie damit meint. „Die eigene Kultur ist allgegenwärtig, aber nicht offenkundig“, erklärt sie. „Man spürt sie nicht, bis man sie verlässt, so wie ich damals, als ich im Studium nach London ging. Das kann man auch im eigenen Land erleben, wenn man sich in einem Kontext bewegt, in dem die eigenen Werte und Normen irgendwie nicht passen. Das Omnipräsente und gleichzeitig Unsichtbare macht die Erfahrung von Kultur rätselhaft. Deshalb ignorieren wir sie gerne.“

Auch in weiten Teilen der Psychologie sei man lange davon ausgegangen, dass viele Facetten des Menschen universell sind, obwohl kulturvergleichende Psychologen diese Vorstellung schon in den 1960er Jahren infrage gestellt hätten. „Erst in den letzten Jahren haben sich mehr und mehr Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit der Unterschiedlichkeit von Kulturen befasst – zum Glück.“

Nachdem Gelfand ihren Bachelorabschluss in Psychologie in der Tasche hatte, wechselte sie 1990 an die University of Illinois in Urbana-Champaign. Sie stellte sich vor, später mal als interkulturelle Trainerin für das US-Außenministerium zu arbeiten. Dazu würde sie einen weiterführenden Abschluss brauchen, und ein Experte für internationalen Austausch und kulturelles Lernen hatte ihr empfohlen bei Harry Triandis zu studieren, einem Pionier der kulturvergleichenden Psychologie, der in Illinois Professor war.

In den mittleren Westen zu ziehen klang für die Ostküstenpflanze zunächst nicht verlockend, aber: „Harry war brillant, ein Generalist, der nicht in einer kleinen Nische blieb, sondern sich mit Sozialpsychologie, Organisationsverhalten und Entscheidungsfindung befasste. Und er hatte ein großes Herz.“ Gelfand greift nach einem gerahmten Foto, das hinter ihr auf einem Sideboard steht. „Dies ist Harry mit meinem Mann und mir, als er uns mal zu Hause besuchte. Er kam zu unserer Hochzeit und wurde schließlich ein enger Freund.“ Triandis ermutigte Gelfand, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Überhaupt sei er ein hervorragender Mentor gewesen, so Gelfand. „Er hat mir immer gesagt, ich solle mit Leidenschaft bei der Sache sein, keine Angst vor Kontroversen haben und, was am wichtigsten ist, mich selbst nicht zu ernst nehmen. Das leitet mich bis heute.“

Das große Ziel

Nach ihrer Promotion in Sozial- und Organisationspsychologie nahm Gelfand eine einjährige Stelle als Gastdozentin an der New York University an, bevor sie 1996 als Assistenzprofessorin an die University of Maryland ging.

Hier nahm sie ihre Erkundung des Grenzgebietes Kultur auf. „Mein Ziel war, zu ergründen“, erinnert sie sich, „wie sich Kulturen genau unterscheiden, warum sie sich unterscheiden, welche Auswirkungen das auf Individuen, Gruppen und Organisationen hat und wie man dieses Wissen nutzen kann, um das Zusammenleben von Menschen zu verbessern.“ Eine riesige Aufgabe. Wo fängt man da an, frage ich. Flink steht Gelfand auf und zieht ein Buch mit dem Titel The Analysis of Subjective Culture aus einem Regal. Dies sei eines der ersten Lehrbücher über interkulturelle Psychologie gewesen, erklärt sie, 1972 von Triandis veröffentlicht. Sie schlägt eine Seite auf und zeigt mir ein komplexes Schaubild.

„Harry hatte diese umfassende, verrückte Theorie, dass Faktoren wie historische Ereignisse, die physische Umgebung und das Wirtschaftssystem die soziale Struktur einer Gemeinschaft und schließlich die Psyche ihrer Mitglieder beeinflussen. Er nannte es nicht Evolution, aber letztlich ging es um die Entwicklung und Wirkung von Kultur.“ Als Doktorandin hatte sie zudem einen Aufsatz über loose und tight cultures geschrieben, Begriffe, die der finnisch-amerikanische Anthropologe Pertti Pelto in den 1960er Jahren für unterschiedliche Arten von nicht-industriellen Gesellschaften geprägt hatte, die seitdem aber kaum noch benutzt worden waren. Hier setzte sie an.

Hungersnöte, Kriege und Epidemien

Ausgestattet mit Forschungsgeldern der National Science Foundation startete Gelfand eine der nach ihren Angaben umfangreichsten Studien über die Stärke kultureller Normen, die je durchgeführt wurden. Kollegen und Kolleginnen aus aller Welt halfen ihr. Sie befragten Menschen aus 33 Ländern, wie viel Freiheit oder Zwang sie in verschiedenen sozialen Situationen empfanden, und baten sie, die Gesamtstärke der Normen und Sanktionen bei Regelübertretungen in ihrem Land auf einer Skala von eins bis sechs zu bewerten. Zudem wurden für alle Teilnehmenden psychologische Charakteristika wie Selbstkontrolle und das Bedürfnis nach Ordnung bestimmt. Die Gesamtstichprobe umfasste rund 6800 Männer und Frauen aus unterschiedlichen Berufen, Altersgruppen, Religionen und sozialen Schichten.

Um die evolutionären Ursachen der Normunterschiede zu erkunden, sammelte Michele Gelfand zudem umfangreiche geschichtliche, wirtschaftliche und ökologische Daten, von der Weltbank, der WHO, Amnesty International, dem International Crisis Behavior Project und vielen anderen Quellen. Ihre These: Wie ausgeprägt die Normgebundenheit einer Kultur ist, hängt davon ab, ob sie schwerwiegenden Bedrohungen, etwa durch Hungersnöte, Kriege oder Epidemien ausgesetzt war. Um unter solch schwierigen Umständen das Überleben zu sichern, braucht es eine gesellschaftliche Ordnung, die auf strikten Regeln basiert. Wenn es dagegen weniger Bedrohungen und damit einen geringeren Koordinationsbedarf gibt, sind strenge soziale Normen nicht so nötig.

Das Projekt durchzuziehen habe unglaublich lange gedauert, erzählt Gelfand: „Wie immer bei interkultureller Forschung mussten viele Hürden genommen werden: geeignete Länder auswählen; ein internationales Netzwerk von mithelfenden Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aufbauen; Materialien übersetzen; die Umfrageergebnisse aus aller Welt einholen und auswerten. Allein den Fragebogen in 21 Sprachen zu übertragen, von Spanisch und Mandarin bis zu Arabisch, Estnisch, Norwegisch und Urdu, hat eineinhalb Jahre gebraucht.“

Doch schließlich war es geschafft. Anhand der Antworten aus dem Fragebogen konnten Gelfand und ihr Team für jedes der 33 Länder einen tightness-looseness score bestimmen. Es ergab sich ein Kontinuum mit Extremfällen an beiden Enden und moderateren Ländern dazwischen. Als sehr regelorientierte Kulturen identifizierten sie Länder wie Pakistan, Singapur und Japan; als besonders locker erwiesen sich beispielsweise Brasilien, die Niederlande und Neuseeland. Für Deutschland ermittelte das Team zwei Werte: Die alten Bundesländer landeten ebenso wie Frankreich, Hongkong und Polen im Mittelfeld, während der Wert für die neuen Bundesländer eher in Richtung strikte Kultur ging.

Strikte Kulturen haben mehr durchlebt

Zudem bestätigte das Team die Ausgangsthese, dass es einen Zusammenhang zwischen Bedrohung und Normenstärke gab. Länder, in denen Umweltkatastrophen oder andere Krisen zu Not und Chaos geführt hatten, zeichneten sich durch strengere Regeln und weniger Toleranz für Abweichler aus; wo weniger Gefahren aufgetreten waren, ging es nachsichtiger zu.

„Nicht alle strikten Kulturen hatten Bedrohungen erlebt und nicht alle lockeren Kulturen hatten es immer leicht gehabt“, stellt Gelfand klar. „Aber der Zusammenhang zwischen Normgebundenheit und Bedrohung ist da.“ Schließlich gaben die Daten auch Einblicke, wie sich Individuen psychologisch an die sie umgebende Normenstruktur angepasst hatten. So verhielten sich Menschen in stark regulierten Kulturen tendenziell selbstkontrollierter und konfliktvermeidender, während Mitglieder von Kulturen mit flexibleren Normen besser mit unstrukturierten und mehrdeutigen Situationen umgehen konnten.

Die Studienergebnisse wurden 2011 in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht und stießen bei Medien weltweit auf großes Interesse. Das war nur der Anfang. Auch in den Jahren danach stellte sich die Tightness-Looseness-Linse als hilfreiches Werkzeug für kulturvergleichende Fragen heraus. So verglich Gelfand nicht nur, wie regelorientiert unterschiedliche Länder sind, sondern schaute sich auch viele weitere Ebenen an: US-Bundesstaaten, gesellschaftliche Schichten, Wirtschaftsbranchen, Organisationen und selbst Familien. „Enge und lose Normgebundenheit“, erklärt sie, „ist wie ein Fraktalmuster. Man kann rein- und rauszoomen, und die Struktur ist auf allen Ebenen ziemlich ähnlich.“

Individuelle Entfaltung oder soziale Koordination

Gelfand untermauerte ihre Erkenntnisse mit interdisziplinären Methoden. Beispielsweise halfen ihr Anthropologen und Ethnografinnen, Texte aus 186 vorindustriellen Gesellschaften zu analysieren und daraus zu bestimmen, wie tolerant oder strikt diese Communitys waren. In einer Studie mit chinesischen Neurowissenschaftlerinnen untersuchte sie, wie sich die Bedrohung einer Gruppe auf die Gehirnprozesse ihrer Mitglieder auswirkt. Ein interdisziplinäres Team an ihrer eigenen Universität entwickelte spieltheoretische Computermodelle, die vorhersagten, wie sich Normenstrukturen verändern, wenn eine Gesellschaft eine Bedrohung wahrnimmt.

Gelfand beschäftigte sich auch damit, welche Lehren man aus ihrer Theorie für die Praxis ziehen kann. Ein wichtiger Aspekt, so zeigt ihre Forschung, ist die richtige Balance. So gibt es einen Zielkonflikt zwischen Striktheit und Lockerheit: Striktheit fördert Ordnung, Koordination, Disziplin; Lockerheit wiederum geht mit Toleranz, Kreativität und Experimentierfreudigkeit einher. Die Stärken von restriktiven Ländern sind die Schwächen von nachsichtigen und umgekehrt. Dies könne zu Problemen an den äußeren Rändern des Spektrums führen, erklärt sie mir: „Extrem normgebundene Gemeinschaften sind repressiv und lassen ihren Mitgliedern keinen Entfaltungsraum; Communitys mit sehr flexiblen Regeln wiederum tun sich schwer damit, das menschliche Miteinander effektiv zu koordinieren. Deshalb ist es am besten, in keiner Richtung zu weit am Rand zu liegen, sondern einen guten Mittelweg zu finden. Dies gilt übrigens nicht nur für Nationen, sondern auch für Firmen und selbst für Familien.“

Die Wissenschaftlerin hilft Firmen und anderen Organisationen, gezielt abzuwägen: Wie viel Regulierung beziehungsweise Offenheit braucht eine Gruppe? Und wie kann sie Anpassungen vornehmen, wenn es die Umstände verlangen? „Die US-Navy ist ein gutes Beispiel“, erläutert Gelfand. „Diese Organisation muss straff sein, um ihre Aufgabe erfüllen zu können, aber es ist sinnvoll und möglich, in bestimmten Bereichen mehr Freiheiten zuzulassen, beispielsweise welche Kleidung getragen wird. Ich nenne das flexible Enge.“ Bei manchen Firmen im Silicon Valley wiederum gehe es sehr locker zu, was gut für neue Ideen sei. Um aber Chaos zu verhindern, könnten sie durchaus von etwas mehr Ordnung und Rechenschaftspflicht, einer „strukturierten Lockerheit“ profitieren.

Eine Naturgewalt mit genauem Blick

Es macht Spaß, Gelfand zuzuhören, wenn sie über ihre Arbeit spricht. Ihre dunklen Augen leuchten; ihre Sprache und Mimik sind lebendig; sie lächelt viel. Während sie redet, wuschelt sie sich manchmal mit einer Hand die kurzen Haare in Form, was sehr nahbar wirkt.

Ihre Art scheint nicht nur mich anzusprechen, wie man den Würdigungen auf einer Internetseite anlässlich Gelfands Weggangs von der University of Maryland entnehmen kann. Kollegen, Studierende und Mitarbeiterinnen hoben unter anderem die Herzlichkeit, das Arbeitsethos und die Kollegialität der scheidenden Professorin hervor – und ihre Angewohnheit, Nahrhaftes in Form von Bagel, Lachs und hartgekochten Eiern für ihre Schützlinge mitzubringen. Psychologieprofessor Paul Hanges bezeichnet Gelfand als „eine Naturgewalt“ und lobt ihre Fähigkeit, wichtige Themen viel früher zu erkennen als andere. „Die Leute fühlen sich zu ihr hingezogen“, schreibt er. „Vielleicht liegt das an ihrer positiven Einstellung und ihrem Energieniveau. Ihr Charisma entspringt auch aus ihrer intellektuellen Kraft und akademischen Disziplin. Das ist sehr inspirierend, für die Studierenden und den Kollegenkreis.“

Aber auch Gelfand spricht begeistert von der Universität eine halbe Stunde Autofahrt nördlich von Washington D.C., wo sie 25 Jahre lehrte und zuletzt den Titel eines ­Distinguished Professor innehatte. Sie habe dort hervorragende Mitstreiter und Mitstreiterinnen für ihre interdisziplinäre Forschung gefunden, sagt sie, sowie ihre Leidenschaft für Mentoring ausleben und von der internationalen Atmosphäre der Hauptstadt profitieren können.

Über die Jahre habe es einige interessante Angebote von anderen Universitäten gegeben, erzählt sie. Aber erst 2021, nachdem ihre Töchter das Nest verlassen hatten, habe sie sich entschieden, ins kalifornische Stanford zu ziehen. Sie scheint es nicht zu bereuen, ganz im Gegenteil. Die Studierenden, die sie hier an der Business School unterrichtet, seien unglaublich lernfreudig und engagiert, sagt sie. Zudem habe sie ihr interdisziplinäres Netzwerk ausbauen können und arbeite hier mit brillanten Leuten aus Psychologie, International Studies, Politik- und Computerwissenschaften zusammen. Überall auf dem Campus gebe es Möglichkeiten, sich intellektuell zu engagieren, sagt sie: „Es ist fantastisch.“

Angst braucht strikte Sicherheit

Auch in anderer Hinsicht waren die letzten Jahre fruchtbar. So hat sie die cultural tightness-looseness theory auf zwei wichtige globale Themen angewendet: die Coronapandemie und den Aufstieg populistischer Bewegungen. Die Coronapandemie, schreibt sie in einem Fachartikel von 2021, sei ein Beispiel für eine reale Bedrohung, die nicht überall zu einer ausreichenden Verschärfung der Normen geführt habe – mit gravierenden Folgen. So zeigten sie und ihr Team in einer Analyse von 57 Ländern, dass lockere Gesellschaften in den ersten Monaten der Pandemie mehr als fünfmal so viele Fälle und achtmal so viele Todesfälle hatten wie stärker normorientierte Gesellschaften. „Kulturelle Lockerheit scheint ein Hindernis für die Koordination bei kollektiver Bedrohung zu sein“, so das Fazit des Teams, „insbesondere wenn es sich um eine unsichtbare Bedrohung handelt, wie einen Virus.“

Der Erfolg populistischer Bewegungen und Parteien in den USA, Deutschland und anderen Ländern wiederum sei ein Beispiel für die überzogene Darstellung von Gefahren. Studien zeigten, dass sich Menschen, die eine hohe Bedrohung wahrnähmen, bei nationalen Wahlen viel stärker zu autokratischen Kandidaten und Kandidatinnen hingezogen fühlten als Menschen, die sich sicherer fühlten. So hätten sich beispielsweise Amerikaner und Amerikanerinnen, die sagten, sie würden bei den Vorwahlen 2016 für Donald Trump stimmen, viel bedrohter gefühlt als andere Wähler. „Autokraten“, schreibt Gelfand, „können aus diesem Zusammenhang Kapital schlagen, indem sie eine Kultur der Bedrohung und Angst schaffen und insbesondere verletzlichen Personen versprechen, durch striktere Regeln für mehr Sicherheit zu sorgen.“

Die Grundlagen von Vertrauen

An wichtigen und aktuellen Themen mangelt es Gelfand nicht, wie sie sagt. Ihr neuestes Projekt dreht sich um Vertrauen. Ein großer Teil der Vertrauensforschung sei sehr westlich ausgerichtet, findet sie. Ihr Ziel: die unterschiedlichen Grundlagen von Vertrauen in verschiedenen Kulturen zu verstehen. In der Woche vor unserem Interview ist sie dazu nach London gereist und hat sich mit einer Ökonomin getroffen, deren mathematische Modelle bei der Analyse hilfreich sein könnten.

Wenn sie in der britischen Hauptstadt ist, versäumt sie niemals, zum Russell Square zu gehen, der nicht weit von ihrer ehemaligen Gastuniversität liegt, erzählt sie. „Hier habe ich als 20-Jährige gewohnt, als ich mich das erste Mal ins Ausland, in eine fremde Kultur wagte.“ Dann muss sie sich schnell verabschieden. Heute Abend, erzählt sie, stehe noch ein Jazzkonzert auf ihrem Programm.

Das Porträt

In unserer Serie erschienen zuletzt:

Ernst FehrDer Entdecker der Fairness. Heft 8/2024

Angelika EckDie Wegbegleiterin. Heft 3/2024

Kristin NeffDie streitbare Mitfühlende. Heft 12/2023

Brent RobertsDer Wandelbare. Heft 8/2023

Tim LomasDer Kartograf des Fühlens. Heft 4/2023

Ralf T. VogelDer Vielseitige. Heft 12/2022

Bücher von Michele Gelfand

Rule Makers, Rule Breakers. How Tight and Loose Cultures Wire Our World

Warum ticken die Uhren in Deutschland so genau, während sie in Brasilien häufig falsch gehen? Warum stand die Fusion von Daimler und Chrysler von Anfang an unter einem schlechten Stern? Warum fährt eine Jaguar-Besitzerin eher über eine rote Ampel als ein Klempner in seinem Kleintransporter? In diesem Buch erläutert Gelfand den Ansatz von eng und lose normgebundenen Kulturen für Laien verständlich. Sie erklärt, warum Bedrohungen striktere Normen nach sich ziehen, wie soziale Regeln die Psyche der Menschen beeinflussen und welche Konflikte daraus entstehen können, zwischen Nationen, in Firmen, im Familienleben.

Scribner 2018

ISIS in Iraq: The Social and Psychological Foundations of Terror

Zusammen mit Munqith Dagher, Karl Kalten­thaler, Arie W. Kruglanski und Ian McCulloh

Wie gelang es der Terrororganisation sogenannter „Islamischer Staat“, 2014 in atemberaubendem Tempo die Kontrolle über weite Teile des Irak zu erlangen, und warum brach ihre Kontrolle über die Region 2017 weitgehend zusammen? In diesem Fachbuch analysieren Gelfand und ihre Co-Autoren die sozialen und psychologischen Faktoren, die hinter dem dramatischen Aufstieg und Fall stehen, und fragen, was getan werden kann, um Radikalisierung entgegenzuwirken und Deradikalisierung zu unterstützen.

Oxford University Press 2023

The Oxford Handbook of Cross-Cultural ­Organizational Behavior

Herausgegeben von Michele Gelfand und Miriam Erez

Wissenschaftliches Handbuch. In 28 Kapiteln erläutert eine vielfältige Gruppe von Experten und Expertinnen aus Psychologie und Neurowissenschaften die neuesten Erkenntnisse, die für das Verständnis von Organisationsverhalten im interkulturellen und globalen Kontext unerlässlich sind: zur Führung multikultureller Teams, zu Joint Ventures, organisatorischen Veränderungen, Kommunikation, Vertrauen, sozialen Netzwerken, Verhandlungen.

Oxford University Press, Oxford/New York 2024

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2024: So wird es leichter mit den Eltern