Frau von Hodenberg, vor dem Internetzeitalter war es untypisch, anderen seine Meinung mit üblen Schimpfworten gespickt direkt an den Kopf zu werfen oder dass ein Mann Fotos von seinem Penis per Post an fremde Frauen verschickt. Heute ist beides ein Massenphänomen – im Internet. Warum?
Wenn in einem bestimmten Viertel in einem Haus eine Fensterscheibe eingeschmissen wurde und das bleibt so, dann werden Sie beobachten, dass nach und nach auch bei anderen Häusern Scheiben eingeschlagen werden und das ganze…
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Sie beobachten, dass nach und nach auch bei anderen Häusern Scheiben eingeschlagen werden und das ganze Viertel so langsam herunterkommt. Das ist die broken windows theory aus der Soziologie, die auch im Internet zu greifen scheint. Da wird an einer Stelle eine bestimmte Grenze überschritten, und wenn es dafür keine ablehnende Reaktion gibt, setzt sich das Verhalten fort. Ein Mann postet ein Penisfoto und es gibt keine Reaktion. Das heißt für den Absender: Mein Verhalten ist okay. Dann wird die erste Vergewaltigungsdrohung gepostet – auch keine Reaktion. Also scheint das auch in Ordnung. Es folgt eine Morddrohung, keine Reaktion, somit scheint das ebenfalls okay zu sein. Die Täterinnen und Täter überschreiten immer wieder Grenzen und schauen, was in diesem neuen Raum, der uns mit dem Internet zur Verfügung steht, erlaubt ist.
Gelten online also andere Regeln für die Menschen als im Analogen?
Das Schlimme ist, dass es eben nicht so ist. Wir haben vernünftige Gesetze, die genauso im Internet gelten. Überlegen Sie mal, wie das ist, wenn Sie auf der Straße entlanglaufen und einer entblößt seinen Penis. Im Internet herrscht zudem nicht nur ein scharfer Ton, zum erheblichen Teil finden sich in sozialen Medien illegale Äußerungen, zum Beispiel massive Beleidigungen und Bedrohungen. Das sind alles Straftaten, auch wenn sie online geschehen. Wenn ein Mann Ihnen ein Penisfoto schickt, dann ist das eine Nötigung und ebenfalls strafbar. Es gibt all diese Gesetze, die im „normalen Leben“ gelten und im Internet lange nicht durchgesetzt wurden. Volksverhetzung, Vergewaltigungsandrohungen, Verstümmelungsfantasien: Das alles ist bisher in Foren und auf Plattformen stehengeblieben. Wir haben hier ein massives Problem, das im Zuge der Digitalisierung entstanden ist. Es ist alles so schnell gegangen, dass sowohl die Polizei als auch die Justiz überhaupt nicht hinterhergekommen sind.
Welche Folgen sehen Sie?
Es setzt eine Normalisierung ein. Wenn Betroffene zur Polizei gegangen sind und dort nicht viel geschehen ist, dann erhalten die Betroffenen das gleiche Signal, das auch den Täterinnen und Tätern gesandt wurde, nämlich dass deren Verhalten in Ordnung ist. Plötzlich sagen Betroffene, die zu uns in die Beratung kommen: „Wenn ich im Internet unterwegs bin, dann ist das eben der normale Umgang, damit muss ich rechnen.“ Oder: „Das sehe ich doch jeden Tag im Netz, das ist doch was Alltägliches.“ Betroffene finden mittlerweile sogar illegale Inhalte zum Teil normal. Die Folge ist eine Enthemmung und Verrohung. Wenn Sie dem nichts entgegensetzen, so wie Sie das in anderen Bereichen im Leben machen würden, dann nimmt das seinen Lauf. Und so kommen Sie an den Punkt, an dem wir jetzt sind, wo eine große Differenz zwischen dem herrscht, was im Analogen und was im Digitalen passiert.
Sie sprechen sogar von „digitaler Gewalt“. Was meinen Sie damit?
Viele reden von Hatespeech oder Hass im Netz, aber digitale Gewalt, also das, was wir in der Beratung bei HateAid erleben, ist mehr. Wir fassen darunter alle Formen von Gewalt zusammen, die auf digitalen Geräten wie Smartphones, Laptops, Tablets oder auf dem Computer stattfinden können. Viele denken vor allem an Beleidigung, Bedrohung, Verleumdung. Wir verstehen darunter aber auch Vergewaltigungsandrohungen oder wenn Frauen Fotomontagen geschickt werden, bei denen ihr Kopf auf einen nackten Frauenkörper montiert wurde. Oder wenn Ihre Adresse plötzlich im Internet veröffentlicht wird und darunter steht: „Da wohnt übrigens die Journalistin XY, die das und das geschrieben hat. Könnte man ja mal vorbeigehen und sie besuchen.“ Es ist auch digitale Gewalt, wenn ein Ex-Partner seiner ehemaligen Partnerin eine Spyware aufs Handy spielt und sie ausforscht.
Was machen solche Gewalttaten mit den Betroffenen?
Die meisten verspüren eine große Verzweiflung, weil sie sich hilflos fühlen und in einer passiven Situation sind, die für sie völlig unkontrollierbar ist. Manche haben psychische, andere körperliche Symptome. Sie haben Schlafstörungen, verspüren große Nervosität, erleben Panikattacken, Depressionen oder depressive Angstzustände. Wir hatten auch einige Fälle, bei denen es zu Suizidgedanken kam. Das betrifft vor allem Menschen, die lange mit der Bedrohung leben, und Personen, von denen die private Adresse, die der Eltern oder auch die Schule der Kinder im Netz veröffentlicht wurde. Viele von ihnen leben in ständiger Panik, weil sie sich in ihrem eigenen Zuhause nicht mehr sicher fühlen. Bei Menschen, von denen Nacktfotos durchs Netz geistern oder die Verleumdungen ausgesetzt sind, entsteht oftmals eine so große Scham, dass sie sich für Monate zurückziehen, sich selbst isolieren.
Diese Übergriffe sind in Zeiten von Corona ein noch größeres Problem, da wir sehr viel Zeit im Netz verbringen, wo wir eine eigene Identität haben. Wir bewegen uns ja nicht nur in Spielräumen, aus denen wir wieder aussteigen können, sondern aktuell ist die digitale Welt unser Lebensraum.
Wer wendet sich an HateAid?
Gott sei Dank immer mehr Menschen. Anfangs waren es Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten sowie Aktivistinnen und Aktivisten. Wir stellen uns bei Twitter und in anderen sozialen Medien aber auch gezielt Gruppen vor, von denen wir wissen, dass sie besonders von Hassverbrechen betroffen sind, wie etwa Muslime oder Mitglieder der LGBT-Community. Eine wichtige Gruppe sind Menschen, die sich im Netz zu Reizthemen einsetzen wie Rassismus, Rechtsextremismus, Klimaschutz, Feminismus oder auch Migration. Wir beraten seit zwei Jahren Betroffene und hatten bereits über 600 Klientinnen und Klienten und haben über 350 Verfahren begleitet. Mittlerweile kommen Menschen auch präventiv zu uns, beispielsweise Kommunalpolitiker, weil die Wahlen bevorstehen und sie vorbereitet sein wollen. Sie wissen, dass sie da was abbekommen können, und möchten beraten werden, wie sie sich schützen können.
In den meisten Fällen handelt es sich um Straftaten. Welche Unterstützung erhalten die Betroffenen von Polizei und Gerichten?
Der Umgang mit Betroffenen macht mich immer wieder fassungslos. Wenn sie zu einer Polizeidienststelle gehen, werden sie noch immer häufig nicht ernst genommen oder ihnen wird gesagt, sie sollten einfach ihren Account löschen. Manchen wird vorgeworfen, sie hätten im Internet nicht so provozieren dürfen. „Wenn Sie so was schreiben, müssen Sie sich über die Reaktionen nicht wundern.“ Das erinnert an die alte Diskussion: Wenn Frauen einen kurzen Rock tragen, müssen sie sich nicht beschweren, wenn sie vergewaltigt werden.
Erstattet die betroffene Person dann trotzdem Anzeige, wird ihr Fall nicht selten wie eine Bagatelle abgetan. Die Staatsanwaltschaft sieht manchmal „nur“ eine Beleidigung und nicht, dass diese Beleidigung ein Teil von hundert anderen Beleidigungen ist, die diese Person fast zur gleichen Zeit an diesem Tag bekommen hat – und was das mit einer Person macht. Und selbst wenn die Strafverfolgung anläuft, muss am Ende kein erfolgreiches Urteil stehen, wie wir im Fall von Renate Künast gesehen haben.
Die Politikerin der Partei Bündnis 90/ Die Grünen scheiterte 2019 mit ihrer Strafanzeige gegen einen hasserfüllten Blog-Eintrag gegen sie.
Ja, das war einer unserer bekanntesten Fälle. Mit Frau Künast sind wir vor das Landgericht Berlin gegangen, wo die Kammer dann in einem ersten Urteil tatsächlich Begriffe wie „Drecksfotze“ als von der Meinungsfreiheit gedeckt angesehen hat.
Weshalb ist es Ihnen so wichtig, dass die Taten straf- oder zivilrechtlich verfolgt werden?
Wir sind im Moment in einer Situation, in der zum Beispiel Politiker und Politikerinnen so massiv angegriffen werden, dass einige von ihnen sagen: „Wir überlegen, ob wir noch mal kandidieren, weil wir uns das nicht mehr antun können.“ Sie werden mit Onlinehetze systematisch aus ihren politischen Ämtern herausgetrieben. Wenn Menschen, die sich in diesem Land demokratisch engagieren, so eingeschüchtert werden, dass sie das irgendwann nicht mehr tun wollen, und dies bei den Behörden der Strafverfolgung nicht angekommen ist, sollte uns das nachdenklich stimmen. Das geht uns alle an. Es gibt diese rote Linie, die man ziehen muss. Das geschieht nur, wenn Täter sehen: Bis hierhin können sie gehen und nicht weiter.
Was weiß man über die Täterinnen und Täter?
Gerade bei Politikerinnen und Politikern haben wir es oftmals mit organisierten Hasskampagnen zu tun. In kürzester Zeit werden viele Beleidigungen und Bedrohungen gepostet oder hasserfüllte E-Mails versandt. Diese organisierten Attacken kommen zum größten Teil aus dem rechten und rechtsextremen Spektrum. Sie verfolgen eine Strategie, die die Alt-Right-Bewegung in den USA vor dem ersten Wahlkampf von Donald Trump entwickelt hat. Dabei wird der politische Gegner eingeschüchtert und es wird versucht, ihn aus dem öffentlichen Diskurs herauszudrängen. Hier geht es nicht darum, Menschen für die Straße zu mobilisieren, sondern im Netz für den sogenannten Infokrieg, also den Krieg um die Informationshoheit und darüber, wer den Ton angibt. Das ist einfacher, denn die sozialen Medien sind leichter zu manipulieren.
Wie läuft das ab?
Die Gruppen treffen sich in bestimmten Foren, zum Beispiel auch auf Gaming-Plattformen wie Discord. Sie erstellen in den sozialen Medien falsche Profile. Angenommen sie versammeln 5000 Personen und jeder erstellt fünf falsche Profile, dann haben sie 25000 Stimmen. Wenn sie denen nun sagen, sie sollen auf der Seite von Person XY zu einer bestimmten Uhrzeit etwas posten, dann posten da in einer Minute 25000 Personen. So sieht es nach außen zumindest aus. Zehn Minuten später noch einmal – dann haben Sie schon 50000 Kommentare. Damit können diese Gruppen Einzelpersonen massiv einschüchtern, aber auch den Algorithmus der Plattform sehr schnell penetrieren. Wenn etwas viel Aufmerksamkeit erregt, wird es auch vielen weiteren Leuten angezeigt.
Welche Hilfen brauchen die Betroffenen dann?
Genau mit dieser Frage habe ich vor zweieinhalb Jahren gemeinsam mit der Organisation Campact und dem Verein Fearless Democracy die Beratungsstelle HateAid gegründet. Unser Ziel war, dass Betroffene sich trauen, die Taten anzuzeigen und vor Gericht zu gehen. Doch die meisten brauchen ein paar Zwischenschritte, bevor sie bereit sind, bei der Polizei eine Strafanzeige zu stellen. Im ersten Schritt benötigen sie eine emotionale Stabilisierung. Es muss einen Ort geben, an dem sie über diese Gewalterfahrung sprechen können und an dem ihr Erleben und Empfinden bestätigt wird. Denn das Problem, das wir auch aus anderen Bereichen psychischer Gewalt kennen, ist, dass die Opfer kein blaues Auge haben, das eindeutig von einem Übergriff zeugt. Die Menschen brauchen deshalb eine Anlaufstelle, wo ihnen gesagt wird: Ja, das ist eine Gewalterfahrung und du hast jedes Recht der Welt, dich damit auseinanderzusetzen. Manche verweisen wir auch an spezialisierte Psychologinnen und Psychologen weiter.
Welche Zwischenschritte sind den Betroffenen noch wichtig?
Wir bieten eine Sicherheitsberatung an. Dabei prüfen wir, welche privaten Informationen im Internet über die Person zu finden sind, und helfen dabei, Löschanträge bei den Plattformen zu stellen. Zu einigen Betreiberfirmen haben wir mittlerweile einen kurzen Draht. Die Betroffenen erhalten zudem eine Kommunikationsberatung. Also: Wie gehe ich damit um, wenn ich im Internet angegriffen wurde? Ziehe ich mich erst mal zurück? Äußere ich mich, wenn Lügen über mich im Netz erzählt werden? Poste ich etwas und gehe eine Konfrontation mit den Täterinnen ein? Dafür gibt es leider keine klare Antwort. Das passende Verhalten ist auch davon abhängig, was den Betroffenen in ihrer speziellen Situation hilft.
Sie plädieren außerdem für mehr digitale Zivilcourage.
Genau. Wir haben als Kinder noch gelernt, dass man Leute nicht anspuckt, und dass, wenn eine Person das tut, dies ein Verhalten ist, das wir reglementieren. Wenn Sie so was beobachten, dann gehen Sie hin und sagen zum Täter oder zur Täterin: „Hey, was machen Sie da?“, Sie rufen vielleicht die Polizei oder Sie kümmern sich um die betroffene Person, der das gerade passiert ist. Diese Form von Moral und Anstand ist im Internet überrollt worden. Wir haben den digitalen Raum nicht so ernst genommen wie den analogen. Uns ist noch nicht richtig bewusst, dass dieser Grundkonsens, wie wir als Gesellschaft miteinander leben und umgehen wollen, auch uns als Bürger der Gesellschaft braucht und wir das im Internet umsetzen müssen.
Anna-Lena von Hodenberg ist Gründerin und Geschäftsführerin von HateAid. Die Organisation berät kostenlos Menschen, die von Hass und Hetze im Internet betroffen sind.