Der Amerikaner Charles Whitman tötete bei einem Amoklauf 17 Menschen. Bis zu diesem Tag war er völlig unbescholten geblieben, allerdings hatte er einige Zeit zuvor ungekannte aggressive Impulse an sich bemerkt. Da er beim Schusswechsel mit der Polizei getötet wurde, konnten sich Forscher sein Gehirn genauer ansehen und entdeckten bei der Autopsie einen Tumor. Der wucherte an einer Struktur namens Amygdala, auch Mandelkern genannt, die an der Regulierung von Angst und Aggressivität beteiligt ist. Eine…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
die an der Regulierung von Angst und Aggressivität beteiligt ist. Eine Störung in diesem wichtigen Zentrum kann massive Veränderungen des sozialen Verhaltens zur Folge haben. Whitmans „Kurzschluss“, seine plötzlichen und unbeherrschbaren Aggressionen waren damit erklärt.
Seither gab es immer wieder Fälle, bei denen eine Schädigung des Gehirns Neigungen zu Gewalt, Spielsucht, Diebstählen oder sogar Pädophilie auslöste. 2003 veröffentlichten die US-Neurologen Jeffrey Burns und Russell Swerdlow im Fachblatt Archives of Neurology den Fall eines ihrer Patienten. Der Lehrer zeigte plötzlich pädophile Neigungen. Bis dahin ein unauffälliger Familienvater, besuchte der 40-Jährige plötzlich kinderpornografische Seiten im Internet, sammelte entsprechendes Material und belästigte seine Stieftochter sexuell. Nachdem ein Rehabilitationsprogramm gegen seine Sexsucht erfolglos geblieben war, musste der Mann ins Gefängnis. Doch bald darauf klagte er über starke Kopfschmerzen und Gleichgewichtsprobleme. Kernspinaufnahmen seines Gehirns zeigten einen Tumor im Stirnhirn, einem Gebiet, das für die Impulskontrolle und rationales Urteilen zuständig ist. Nach Entfernung der Geschwulst verschwand die Pädophilie – so urplötzlich, wie sie gekommen war.
Tumore, aber auch Hirnverletzungen, seltene Formen von Demenz, ein aus dem Tritt geratener Hirnstoffwechsel und bestimmte Drogen oder Medikamente wie etwa Antidepressiva können gravierende Verhaltensveränderungen verursachen. Je mehr Hirnforscher über diese Zusammenhänge herausfinden, umso deutlicher wird, dass auch Hirnbiologie und Delinquenz eng miteinander verknüpft sein können. „Der Rechtsstaat wird künftig nicht mehr um die Erkenntnisse der Neurologie herumkommen“, konstatiert deshalb der amerikanische Neurowissenschaftler David Eagleman, Direktor der Forschungsinitiative Neuroscience and Law am Baylor College of Medicine in Houston, Texas. Und auch sein deutscher Kollege Hans Markowitsch von der Universität Bielefeld, der als Gutachter vor Gericht auftritt, ist überzeugt: „Diese Frage wird zu einem markanten Kennzeichen der Strafrechtsentwicklung im 21. Jahrhundert werden.“ Die Justiz wird auf die immer präziseren Erkenntnisse der Hirnforscher reagieren müssen. Wie das allerdings im Detail passieren soll, ist zurzeit noch Gegenstand vieler Debatten und wissenschaftlicher Kongresse.
Wo liegt die Grenze der Verantwortung für Straftaten bei Hirnschäden?
Wer ein Verbrechen begeht, muss dafür geradestehen und bestraft werden, darüber herrscht weitgehend Einigkeit. Wo aber liegt die Verantwortung eines über Jahrzehnte hinweg harmlosen Täters, der, angestoßen durch einen krankhaften Vorgang in seinem Gehirn, plötzlich eine Straftat begeht? Niemand kann schließlich etwas für einen Tumor, der in seinem Kopf wächst und das moralische Empfinden, die Empathiefähigkeit oder die Impulskontrolle in Mitleidenschaft zieht. Könnte sich dieser Täter auch frei gegen die Tat entscheiden? Wo ist hier eine Grenze zu ziehen, diesseits derer er gerade noch beziehungsweise jenseits derer er nicht mehr für seine Tat verantwortlich wäre?
Das Problem eines angemessenen Umgangs mit Tätern wird immer vielschichtiger und vertrackter, je mehr man über den Einfluss der Hirnbiologie auf Straftaten weiß. Die Frage nämlich, ob überhaupt und – wenn ja – wie weit der Mensch frei in seinen Entscheidungen ist, ist unter Experten durchaus umstritten und nicht abschließend beantwortet. Manche bezweifeln, dass Menschen und damit eben auch Straftäter völlig frei entscheiden können, was sie tun und lassen. Hier spielen unbewusste neuronale Prozesse hinein, überdies beeinflussen genetische Faktoren und die Umweltbedingungen, in denen ein Täter aufgewachsen ist, sein Verhalten. Kommen dann noch angeborene oder im Laufe des Lebens erworbene Hirnschädigungen hinzu, wird immer fraglicher, wie viel an bewusster Kontrolle und Entscheidungsspielräumen jemand zum Zeitpunkt seines Verbrechens hatte.
Angeheizt wird diese Debatte durch den technischen Fortschritt, denn bildgebende Verfahren können immer besser Hirnanomalien und deren Auswirkungen auf das Verhalten zeigen. War man hier früher auf Post-mortem-Untersuchungen angewiesen, können heute verhaltensrelevante Schädigungen bereits am lebenden Patienten diagnostiziert werden. Hirnscans decken unter kontrollierten Laborbedingungen sogar den Unterschied zwischen erlogenen und echten Erinnerungen auf, können also Entscheidendes über die Glaubwürdigkeit von Zeugen oder den Hergang von Verbrechen aussagen. All das verheißt einzigartige neue Möglichkeiten, um Straftaten auf die Spur zu kommen.
Kausaler Zusammenhang zwischen gestörter Hirnfuntion und Straftat schwer nachzuweisen
Allerdings: Selbst für Wissenschaftler liegen diese Dinge nicht immer ganz so eindeutig auf der Hand, wie die Justiz sie eigentlich bräuchte und die Laienöffentlichkeit sie oft gerne hätte. „Zum einen geht es hier um die Frage, wie man einen kausalen Zusammenhang zwischen einer Störung der Hirnfunktion und einer Straftat nachweist – im strikten Sinne ist das unmöglich. Jemand, der so geisteskrank ist, dass er zu Straftaten ,gezwungen‘ wäre, dürfte überhaupt nicht in der Gesellschaft funktionieren. Man kann allenfalls überzeugend argumentieren, dass jemand beispielsweise aufgrund einer Störung über schlechtere Kontroll- oder Gedächtnisfunktionen verfügt und daher ein bestimmtes Verhalten etwas wahrscheinlicher ist. Richterinnen und Richter in Deutschland sind aber völlig frei darin, solche Gutachten in ihre Entscheidung einfließen zu lassen oder nicht“, berichtet Stephan Schleim, Assistenzprofessor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen. Er forscht auch an einem internationalen Projekt über moralisches Entscheiden.
Schleim gibt zu bedenken: „Wenn andererseits jemand überwiegend funktioniert und dann plötzlich eine Straftat begeht, dann stellt sich natürlich die Frage, warum er mit diesem Hirnzustand, etwa einem Tumor, so lange so gut funktionieren konnte und dann plötzlich eine Tat beging und danach womöglich nicht mehr. Es ist unerlässlich, in solchen Fällen den Hirnbefund gegen das abzuwägen, was wir über das Verhalten einer Person generell wissen.“ Nur in Einzelfällen nämlich verursacht eine Hirnschädigung allein ein Verbrechen, meist bildet sie erst mit frühkindlichen Störungen und/oder psychosozialen Umständen das nötige explosive Gemisch.
Um den Grad der Schuldfähigkeit festzustellen, muss jeder Fall sehr genau betrachtet und müssen auch andere mögliche Ursachen berücksichtigt werden. So war etwa im Beispiel des pädophilen Lehrers gar nicht eindeutig, ob der Tumor die unkontrollierbaren sexuellen Neigungen hervorrief. Hatte der Mann sie möglicherweise schon vorher und konnte sie aufgrund des Tumors dann nur nicht mehr kontrollieren? Außerdem kann es durchaus passieren, dass ähnliche Hirnschädigungen zu völlig unterschiedlichen Verhaltensänderungen führen.
„Keine Neurorevolution in Sicht“
Hinzu kommt: Selbst mit der modernsten Technik allein ist oft noch nicht viel gewonnen, dann nämlich, wenn sich Psychologen, Psychiater und Justiz über die Verwendung der Ergebnisse nicht einig sind. Was, wenn ein psychologischer Gutachter in seiner Einschätzung eines Täters zu einem anderen Ergebnis kommt als ein Neurologe anhand seiner Interpretation von Hirnbildern? Solche Abwägungen sind extrem kompliziert. Stephan Schleim mahnt deshalb zur Vorsicht: „Meines Erachtens ist keine Neurorevolution in Sicht. Im Moment ist es noch zu früh, neurowissenschaftliche Methoden anzuwenden, um die individuelle Verantwortung oder Gefährlichkeit eines Täters abschließend einzuschätzen. Die Hirnforschung kann die Rechtspraxis allenfalls auf lange Sicht und nur schrittweise verbessern. Es gibt sehr hohe Erwartungen, die von manchen Hirnforschern weiter angefeuert werden. Wer aber in der Forschung tätig ist, macht auch die Erfahrung, dass viele Methoden und Theorien noch vorläufig sind und wir häufig nur kleine Unterschiede auf Gruppenniveau finden – diese lassen sich nicht ohne weiteres auf den Einzelfall übertragen.“ Und mit Blick auf seine bisherigen Erfahrungen fügt er hinzu: „Nach meiner Zusammenarbeit mit Rechtswissenschaftlern und Richtern kann ich sagen, dass gerade Juristen eher zurückhaltend und vorsichtig sind, was die neuen Verfahren anbelangt – es sei denn natürlich, ein Anwalt verspricht sich davon einen Vorteil für seinen Klienten.“
Die Ergebnisse der Neuroforscher könnten jedoch Auswirkungen auf den Strafvollzug haben und auf die Frage, was mit einem verurteilten Täter im Anschluss an sein Verfahren passieren soll. Denn Richter haben nicht nur die Aufgabe, die Umstände einer Straftat zu klären und den Täter zu bestrafen, sondern auch die Gesellschaft vor weiteren Verbrechen zu schützen und gleichzeitig über optimale Maßnahmen zur Resozialisierung und Rehabilitierung von Inhaftierten zu entscheiden. Wie lehr- und erfolgreich kann aber eine Haft sein, solange beispielsweise ein Tumor im Gehirn des Täters verbleibt, der möglicherweise zur Tat beigetragen hat? Und müsste dieser Täter nach Entfernung des Tumors seine Strafe weiterhin verbüßen, obwohl wahrscheinlich keine Gefahr mehr von ihm ausgeht, wie im Falle des pädophilen Lehrers? Ins Extrem verlängert, würde das bedeuten, dass Täter nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, sobald die neurologischen Ursachen ihres Fehlverhaltens beseitigt sind. Denn dann wäre der erzieherische Nutzen einer Haft ja zumindest fragwürdig. Auch solche Fragen werden Rechtswissenschaftler gemeinsam mit Hirnforschern zu klären haben.
David Eagleman geht indes schon einen Schritt weiter und schlägt spezielle Tätertrainings mit hirnbiologischer Zielrichtung vor, die etwa die Impulskontrolle und das Absehen der Folgen von Handlungen stärken sollen, sofern diese Fähigkeiten bei einem Inhaftierten nachweislich gestört sind. Das Programm würde dann gezielt den für die Einschätzung und Kontrolle von Handlungen zuständigen präfrontalen Kortex trainieren. Solche neurobiologischen Therapien wären ein weiteres Gebiet, auf dem Forscher der Justiz helfen könnten. Ein anderes, freilich recht exotisch anmutendes künftiges Einsatzgebiet sieht Walter Sinnott-Armstrong von der Duke University: Im Falle einer Amnestie aufgrund überfüllter Gefängnisse könnte das Neuroimaging eines Tages dazu genutzt werden, diejenigen Verbrecher auszumachen, von denen – wahrscheinlich – die geringste Gefahr ausgehen wird. Aber das ist noch reine Zukunftsmusik.
Literatur
David Eagleman: Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns. Campus, Frankfurt am Main 2012
Hans J. Markowitsch, Reinhard Merkel: Das Gehirn auf der Anklagebank. MaxPlanckForschung 2/2011, 12–17
Hans J. Markowitsch, Werner Siefer: Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens. Campus, Frankfurt am Main 2007
Stephan Schleim: Die Neurogesellschaft. Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert. Heise, Hannover 2010
Walter P. Sinnott-Armstrong: Neurolaw and conciousness detection. Cortex, 47/2011, 1246–1247
Vielleicht sind wir alle gefährlich
Bislang konnte die Wissenschaft noch nicht erklären, was einen Menschen zum Verbrecher macht, meint der Neurophilosoph Stephan Schleim
Der amerikanische Hirnforscher Adrian Raine schlägt in seinem neuen Buch über die „Anatomie der Gewalt“ ein Programm zur Erhöhung der öffentlichen Sicherheit vor: DNA- sowie Gehirntests bei volljährigen Männern sollen diejenigen identifizieren, die in Zukunft ein Verbrechen begehen werden, um sie bereits vorab und unverrichteter Dinge in Sicherungsverwahrung zu nehmen. Der Ethiker Julian Savulescu von der Universität Oxford setzt sogar noch einen Schritt früher an. Es sei rational, wenn man Embryonen, die ein mit Kriminalität verbundenes Gen haben, bei einer künstlichen Befruchtung nicht einpflanzt.
Was sonst den Stoff für Science-Fiction-Romane wie Brave New World oder Minority Report liefert, wird inzwischen von Forschern und Philosophen in einflussreichen Positionen vorgeschlagen. Dabei ist das Projekt der biologischen Kriminologie, das bereits vom Phrenologen Franz Joseph Gall (1758–1828) angedacht wurde und damit schon lange zum Ideenrepertoire der Hirnforschung gehört, immer wieder gescheitert. Sei es unsere Kopfform, ein doppeltes Y-Chromosom oder Hormone, bisher konnte nichts davon erklären, was Menschen zu Verbrechern macht.
Auch Savulescu scheint bei seinem Vorschlag zu übersehen, dass das für den Stoffwechsel im Gehirn so wichtige MAO-A-Gen, auf das er sich bezieht, nur bei Opfern von Kindesmisshandlung statistisch signifikant mit Gewalt in Zusammenhang stand. Weder haben alle Verbrecher die Risikovariante dieses Gens, noch begehen alle Menschen mit diesem Genotyp ein Verbrechen. Dies gilt für alles, was Genetik und Hirnforschung bisher zum Thema Kriminalität ergründet haben.
Sicherheit ist zwar ein berechtigtes Interesse der Menschen. Die übergroße Überzeugungskraft solcher Vorschläge aber ist Ausdruck eines Paradoxes. Denn obwohl wir bereits in sehr sicheren Gesellschaften leben, in denen weitaus höhere Risiken durch den Straßenverkehr oder übertriebenen Konsum von Genussmitteln ausgehen, haben viele Menschen Angst vor Gewaltverbrechen und nehmen daher Einschränkungen ihrer Freiheit in Kauf. Angesichts der propagierten biologischen „Lösungen“ verlieren wir schnell unseren sozialen Handlungsspielraum aus den Augen. Dabei sind viele Untaten auch gesellschaftlich oder durch die Lebenssituation bedingt. Und was in einer Situation verboten ist, das kann in einer anderen Situation das Überleben retten.
Selbst wenn man der sozialen Perspektive keine Sympathie entgegenbringt, sollten einen die Vorschläge von Raine und Savulescu beunruhigen. Die Anzahl an Genen und Gehirnstrukturen, die man mit verschiedensten Verhaltensdispositionen in Zusammenhang bringt, wächst nämlich rapide. Das liegt an den verwendeten statistischen Verfahren, die in großen Stichproben mehrerer Tausend Menschen auch kleinste Zusammenhänge aufspüren. Solche Effekte sind aber nur für einen Bruchteil derjenigen, die so ein Gen- oder Gehirnmerkmal besitzen, repräsentativ. Es ist gut möglich, dass sich bei uns allen ein sogenanntes gefährliches Gen und verdächtige Strukturen im Gehirn finden lassen.
Stephan Schleim ist Assistenzprofessor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen.