PSYCHOLOGIE HEUTE Herr Professor Fuchs, lange bevor Karl Jaspers als Philosoph berühmt wurde, hat er die Allgemeine Psychopathologie geschrieben. Wie kam es dazu?
Thomas Fuchs Jaspers begann mit 26 Jahren als junger Assistenzarzt in Heidelberg in der Psychiatrie zu arbeiten, war aber aufgrund einer chronischen Lungenerkrankung von schwererer Arbeit und Nachtdiensten freigestellt. Er konnte weitgehend seinen wissenschaftlichen Interessen nachgehen, konnte viel lesen und schreiben. Seine Allgemeine…
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seinen wissenschaftlichen Interessen nachgehen, konnte viel lesen und schreiben. Seine Allgemeine Psychopathologie ist 1913 erschienen und bis heute eine Grundlage der Psychopathologie und damit der Psychiatrie geblieben. Sie beruht auf Jaspers’ umfassender Kenntnis der Literatur, auf seinen Erfahrungen mit Patienten und von der Methode her auf der Phänomenologie.
PH Was ist das Besondere an dieser Methode?
Fuchs Die Phänomenologie ist eine von Edmund Husserl begründete philosophische Richtung, die das subjektive Erleben und seine Grundstrukturen zu ihrem Gegenstand macht. Es geht darum, die bewusste Erfahrungswelt eines Kranken nachzuvollziehen: das, was er selbst schildert, was er in Worten, Gesten und im Verhalten ausdrückt, was er vielleicht auch schreibt oder malt. Diese Phänomenologie, das genaue Beschreiben der subjektiven Erscheinungsformen von psychischer Krankheit, Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Ängsten und so weiter hat Jaspers in die Psychiatrie eingebracht.
PH Wie gingen denn andere Psychiater damals vor?
Fuchs Die Psychiatrie erlebte in der Zeit der Aufklärung ihre Geburt als medizinisches Fach, zunächst noch mit philosophischen und anthropologischen Ansätzen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sie sich dann wie die gesamte Medizin zunehmend zu einer Naturwissenschaft. Als nun Jaspers seine Arbeit begann, fand er einerseits ein heterogenes Gebiet vor, das in verschiedenste Lehren und Krankheitseinheiten auseinanderfiel. Es fehlte ein klares und einheitliches psychopathologisches Fundament. Andererseits gab es eine Richtung, die psychische Störungen gänzlich auf Hirnfunktionsstörungen zurückführen zu können glaubte. Solche Konzepte waren damals jedoch völlig spekulativ, und Jaspers verspottete sie denn auch als „Hirnmythologien“.
PH Worin bestand nun das Neue von Jaspers’ Allgemeiner Psychopathologie?
Fuchs Jaspers stellte die seelischen Funktionen und Erlebnisbereiche, wie wir sie noch heute im psychopathologischen Befund in Kategorien wie Bewusstsein, Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Affektivität, Psychomotorik und so weiter beschreiben, erstmals philosophisch fundiert in ihrem Gesamtaufbau dar. Dadurch wurde ein ganzheitliches Verständnis psychischer Erkrankung erst möglich. Es ging nun nicht mehr wie früher um das Aufzählen von einzelnen Erfahrungen und Symptomen, sondern darum, dem Kranken als einheitlich erlebendem Menschen zu begegnen.
PH Wie hat Jaspers damit die Psychopathologie beeinflusst – und gilt der Einfluss auch heute noch?
Fuchs Am wichtigsten ist: Jaspers hat einen eigenständigen Bereich der Psychopathologie abgesteckt und ihre philosophischen Grundlagen reflektiert. Das stellt bis heute die Grundlage für alle weitere psychiatrische Forschung dar. Jaspers grenzte das Feld einerseits gegenüber Reduktionismen der damaligen Neurophysiologie und -pathologie ab. Denn die somatische Medizin übersah die Eigenständigkeit des Psychischen, zu dessen Verständnis auch ein geisteswissenschaftlicher Ansatz nötig ist. Und andererseits sicherte Jaspers das Feld gegenüber vorschneller Rückführung auf psychodynamische Ursachen ab – denn auch die Psychoanalyse hielt sich nicht lange bei den Phänomenen des psychischen Krankseins auf, sondern wandte sehr rasch metapsychologische Theorien darauf an. Sehr einflussreich wurde schließlich auch Jaspers’ Gegenüberstellung von verstehender und erklärender Psychologie.
PH Worum geht es beim Erklären und Verstehen?
Fuchs Jaspers hat diese Unterscheidung von dem Philosophen Wilhelm Dilthey übernommen. Er unterschied Störungen, die man hermeneutisch-psychologisch verstehen kann, in denen also „Seelisches aus Seelischem“ verständlich hervorgeht, von Störungen, die man nur naturwissenschaftlich-kausal erklären kann. So entzieht sich etwa der Wahn grundlegend der Verstehbarkeit. Sind die Jaspersschen Wahnkriterien erfüllt – also die subjektive Gewissheit, die Unkorrigierbarkeit der Überzeugung und die Unmöglichkeit des Inhalts –, so ist dies nicht mehr einfühlbar, nicht nachvollziehbar. Der Wahn ist per se unverständlich, das heißt nur kausal im Sinne eines biologisch begründeten Prozesses erklärlich. Jaspers’ Unterscheidung half Psychosen und Neurosen deutlicher voneinander abzugrenzen und die psychischen Störungen insgesamt zu ordnen. Man kann sie aber auch kritisieren: Indem Jaspers psychotische Störungen als grundsätzlich unverständlich einordnete, hat er den psychotherapeutischen Umgang mit psychotischen Patienten eher behindert.
PH Sehen Sie weitere Punkte der Kritik an der Allgemeinen Psychopathologie?
Fuchs Jaspers beschränkte sich darauf, genau zu beschreiben, was der Patient erlebt und schildert. Er ging jedoch nicht den Schritt der anthropologischen Psychiatrie, etwa der Schule von Ludwig Binswanger, dieses Erleben noch einmal einzuordnen in eine grundsätzliche Analyse der Existenz, des gesamten Lebensentwurfs eines Menschen. Jaspers ist gegenüber allen Versuchen, das In-der-Welt-Sein des psychisch kranken Menschen anthropologisch zu beschreiben, grundsätzlich skeptisch geblieben. Kritisch sehe ich auch die in späteren Buchauflagen sehr strikte Ablehnung jeder psychoanalytischen Herangehensweise. Dadurch wirkte Jaspers daran mit, dass es in Deutschland eine Spaltung zwischen der klassischen Psychiatrie und einer psychoanalytisch orientierten Psychosomatik gibt. Gerade hier in Heidelberg konstituierte sich 1950 die erste psychosomatische Universitätsklinik Deutschlands. Den Lehrstuhl erhielt Alexander Mitscherlich, ein Schüler Viktor von Weizsäckers. Jaspers bekämpfte ihre psychotherapeutisch-psychodynamischen Ansätze, und so kam es nicht zu der Verbindung, die eigentlich notwendig gewesen wäre. Dass wir bis heute diese Konkurrenz und manchmal auch Feindseligkeit zwischen Psychiatrie und Psychosomatik haben, ist ein spezifisch deutsches Problem, an dem Jaspers einen nicht unwesentlichen Anteil hat.
PH Wie kann man seine feindselige Haltung gegenüber der Psychoanalyse verstehen? Sie besitzt doch grundlegende Parallelen zum eigenen Ansatz: die geisteswissenschaftlichen Wurzeln, die Betonung der Biografie …
Fuchs Zum einen hat Jaspers in der Psychoanalyse wohl den Konkurrenten gesehen. Es ging ihm nicht zuletzt um die Deutungshoheit über den Bereich der verstehenden Ansätze bei psychischer Krankheit. Jaspers hatte die existenzielle Kommunikation zwischen Arzt und Patient in den Vordergrund gerückt. Dies drohte durch den Siegeszug der Freudschen Schule in den Hintergrund gedrängt zu werden. Zum anderen hat sich Jaspers immer gegen die spekulative Metapsychologie der Psychoanalyse gewandt. Sie schien ihm wissenschaftlich und philosophisch nicht haltbar. Er sah darin eine Form des Dogmatismus, der sich auch in der Ausbildung der Psychoanalytiker niederschlage. Dieser ideologische Charakter der orthodoxen Psychoanalyse hat Jaspers zutiefst abgestoßen. Und schließlich war für ihn auch Freuds Tendenz, fast alles Seelische auf Sexualität zurückzuführen, nicht akzeptabel. Jaspers selbst hat sich allerdings so gut wie gar nicht mit dem Thema Sexualität befasst.
PH … sondern vielmehr mit Philosophie. Warum ist Jaspers, der doch nach den Worten Ludwig Binswangers „eine der größten verpassten Möglichkeiten in der Geschichte der Psychiatrie“ war, überhaupt zur Philosophie gewechselt?
Fuchs Das ist vor allem – neben der Liebe zur Philosophie – seiner lebenslangen Lungenerkrankung zuzuschreiben, die stärkere Belastungen durch ärztliche Tätigkeit nicht zuließ. Es hat aber wohl auch mit einer persönlichen Distanz zu tun, die ihn immer umgeben hat. Der Familientherapeut Helm Stierlin, der bei Jaspers promovierte, hat einmal geschildert, dass die Studenten in Jaspers’ Sprechstunde immer am anderen Ende des Raumes Platz nehmen mussten. Auch wenn Jaspers dies mit seiner Infektionsanfälligkeit begründete, so war er sicher kein Mensch, der Nähe gut zulassen konnte. Wahrscheinlich hat er aber gerade durch seine Distanz die Psychiatrie voranbringen können.
PH Wie verlief seine akademische Karriere weiter?
Fuchs Jaspers habilitierte sich in Psychologie und erhielt dann einen Lehrstuhl für Philosophie. Er publizierte aber weiterhin pathografische Studien, etwa über Strindberg, van Gogh und Nietzsche, in denen er die künstlerische Existenz unter psychopathologischen Gesichtspunkten analysierte. Und er hat auch die Allgemeine Psychopathologie später immer wieder überarbeitet, vor allem als er unter den Nationalsozialisten nicht mehr lehren und publizieren durfte. Er war damals mit seiner jüdischen Frau in ständiger Gefahr, verhaftet und deportiert zu werden. Jaspers hat das Werk dann 1942 erheblich ausgedehnt und seine existenzphilosophischen Ansätze mit eingebracht.
PH Die Wirkungsgeschichte der Allgemeinen Psychopathologie hatte also mehrere Etappen.
Fuchs Das Buch fand in Deutschland schnell großen Anklang; mit seiner ersten Auflage von 1913 hatte Jaspers ein ganz neues Gebiet des Denkens und Forschens eröffnet. Trotz Kritik der neurobiologisch orientierten Psychiater hat sich seine „verstehende Psychopathologie“ dann auch international behauptet. Denn die Neurowissenschaften waren einfach noch nicht so weit, Erklärungen zu liefern. Bis heute ist es ja letztlich so, dass sich die Krankheitsdiagnose nicht auf physiologische Parameter, etwa auf Transmitterstörungen oder Bildgebungsverfahren stützen kann. Wir sind dafür immer noch auf das Gespräch angewiesen; nur dadurch erfahren wir etwas über das subjektive Erleben des Patienten. Die Psychiatrie hat sich deshalb immer wieder auf Jaspers gestützt, auch wenn die späteren Auflagen vereinzelt als zu philosophisch aufgebläht empfunden wurden.
PH Der Stellenwert der Psychopathologie scheint insgesamt zu schwinden; ihr Status als grundlegende Wissenschaftsdiziplin wird neuerdings infrage gestellt.
Fuchs Ich bin fest davon überzeugt, dass die Psychopathologie weiterhin notwendig sein wird. Wir leben zwar in einem medialen Neuro-Hype, der suggeriert, man könne die psychologische Sprache unseres Alltagsverständnisses durch eine neurophysiologische Beschreibung ersetzen. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Sie können Krankheitseinheiten wie eine Angststörung oder eine Depression nicht in neurobiologischen Termini beschreiben. Abgesehen davon, dass wir keine einheitlichen neuronalen Korrelate finden, kann man auch die Genese einer Erkrankung nicht im Gehirn nachvollziehen. Denn sie ist ja immer verknüpft mit interpersonellen Erfahrungen, mit einer Lebensentwicklung und Lebenssituation. Diese wird im Gehirn zwar sozusagen mitverarbeitet. Sie kann aber nur in den Wechselbeziehungen zwischen Person, Umwelt und Gehirn verstanden werden. Das heißt, eine Rückführung auf Gehirnprozesse selbst ist ein völlig ungeeigneter Reduktionismus. Bildgebende oder andere biologische Verfahren können eben immer nur einzelne Korrelate, bestimmte augenblickliche Zustände erfassen, die psychisch kranke Menschen erleben. Sie erfassen damit aber niemals Krankheitseinheiten. Das Gleiche gilt für die genetische Forschung. Sie findet immer nur bestimmte Marker oder prädisponierende Einzelmerkmale, die eine Erkrankung begünstigen, die aber niemals in einer 1:1-Beziehung zu bestimmten Krankheiten stehen.
PH Sind also die Forschungsgelder falsch verteilt? Oder sehen Sie auch einen Nutzen der gegenwärtigen Förderung der Neurowissenschaften?
Fuchs Ich halte ihren Nutzen für die klinische Diagnostik und Therapie jedenfalls für deutlich begrenzter, als in der Öffentlichkeit und auch gerne in der wissenschaftsinternen Konkurrenz dargestellt wird. Da wird etwa eine „personalisierte Psychiatrie“ in Aussicht gestellt, die es möglich mache, ganz individuell maßgeschneiderte Therapieverfahren für einzelne Störungen zur Verfügung zu stellen. Sie solle sich nach biologischen Markern richten und nicht mehr nach dem klinischen Eindruck, sodass man endlich zu anderen Krankheitseinheiten komme, die auf physiologischer Grundlage basieren. Dabei hat diese Forschung bislang letztlich zu so gut wie keinen therapeutischen Ergebnissen geführt. Die Vorstellung, dass man dadurch etwa die individuellen Mechanismen der Depressionsentstehung entschlüsseln und genau passende Pharmaka dazu entwickeln könnte, hat sich als illusorisch erwiesen. Die Forschungsgelder sind also, was den diagnostischen und klinischen Ertrag der Erforschung materieller, physiologischer Krankheitsursachen betrifft, zu einem beträchtlichen Teil fehlinvestiert.
PH Seit einem Jahrhundert wird nun die menschliche Psyche erforscht und therapiert. Um wie viel tiefer blickt man heute eigentlich in die Psyche als früher?
Fuchs Eine schwierige Frage. Man könnte bis in die Antike zu Platon und Aristoteles zurückgehen und vergleichen, denn die Grundstrukturen seelischen Erlebens und Erkrankens bleiben wohl doch konstant, und viele Einsichten der Antike sind bis heute nicht überholt. Ich denke aber, wir haben heute doch ein philosophisch und entwicklungspsychologisch umfassenderes Verständnis davon, wie sich seelische Strukturen und Individualität bereits von frühester Kindheit an interpersonell entwickeln. Der Säugling ist eben nicht primär narzisstisch, sondern von vornherein ein soziales Selbst, das andere wahrnimmt, imitiert, kontaktiert, sein Erleben mit anderen teilt. Dass unsere Subjektivität immer schon intersubjektiv veranlagt und geprägt ist, halte ich für ein grundlegend neues Paradigma, dessen Auswirkungen noch gar nicht abzusehen sind.
Literatur
K. Eming und Th. Fuchs (Hg.): Karl Jaspers. Philosophie und Psychopathologie. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2008
Thomas Fuchs, T. Breyer, C. Mundt (Hg.): Jaspers’ philosophy and psychopathology. Springer, New York 2014
Thomas Fuchs, S. Micali, B. Wandruszka (Hg.): Karl Jaspers und die phänomenologische Psychopathologie. Alber, Freiburg 2013
Thomas Fuchs und G. Strangehellini (Hg.): One century of Karl Jaspers´ general psychopathology. Oxford University Press, Oxford 2013
Thomas Fuchs, Dr. med. Dr. phil., geb. 1958, ist Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Heidelberg. Er führt eine Tradition fort, die Jaspers selbst begründete: den interdisziplinären Brückenschlag zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen Medizin und Philosophie. Fuchs veröffentlichte zahlreiche Schriften zur Psychopathologie, Anthropologie und Medizinethik. Mit seinem Buch Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption (Kohlhammer, vierte Auflage 2012) profilierte er sich als ein führender Vertreter in der Philosophie der Psychiatrie und Neurowissenschaften in Deutschland.