Die historische Zahl: 1954

Psychologieklassiker: 1954 studiert Muzafer Sherif in einem Feriencamp, wie zwölfjährige Jungen Gruppen bilden – und einander bekriegen.

Die Illustration zeigt ein Mikroskop unter dem zwei Pfadfinder-Jungen in einem Boot streiten, darüber ist eine Hand, die eine Flüssigkeit aus einem Reagenzglas auf das Boot träufelt
Was mit Feindseligkeiten begann, mündete schnell in aggressivem Verhalten – zwischen den Adlern und Klapperschlangen. © Klawe Rzeczy für Psychologie Heute

Muzafer Sherif streut Zwietracht im Ferienlager. Eine Gruppe von Jungen, alle noch Kinder, strandet auf einer einsamen Insel. Zwei Clans bilden sich, die einander bekriegen; die Gewalttätigen setzen sich durch, es wird gefoltert und gemordet. So schildert es William Golding in seinem düsteren Roman Lord of the Flies, der 1954 erscheint.

Im selben Jahr startet der türkischstämmige Psychologe Muzafer Sherif mit seinem Team in einem State Park in Oklahoma die Robbers Cave Study. Es ist das letzte und berühmteste von drei Feld­experimenten, in denen Sherif bei zwölfjährigen Jungen in einem Feriencamp Gruppenaggression studiert.

Adler und Klapperschlangen

Die beiden Clans – die „Adler“ und die „Klapperschlangen“ – bewohnen getrennte Lager. Die erste Woche steht im Zeichen des Kennenlernens innerhalb der Cliquen. Beim Schwimmen und Wandern, dem gemeinsamen Bau von Dämmen und Hütten entsteht ein Wir-Gefühl. Freundschaften werden geschlossen, Führungsrollen und Regeln bilden sich heraus. Erst in Phase zwei erfahren die Jungen von der Existenz des konkurrierenden Clans auf der anderen Seite des Camps.

Sofort („Die sollten sich besser nicht an unserem Badesee blicken lassen“) herrscht eine latente Feindseligkeit, die sich extrem steigert, als Sherif die beiden Gruppen in Wettkämpfen gegeneinander antreten lässt: Baseball, Zelt­aufbauen, Sketche aufführen, eine Schatzsuche. Den Siegern winkt ein begehrter Preis, die Verlierer gehen leer aus. Mit dem Triumph der einen und dem Frust der anderen steigt der Aggressionspegel. Man verhöhnt einander als hinterlistige „Stinker“, das „gegnerische Lager“ wird verwüstet, die Flagge angezündet, bei einer gemeinsamen Mahlzeit bewerfen sich die Verfeindeten mit Speisen, Tassen und Besteck.

Mühsam ist der in Phase drei eingeleitete Weg der Versöhnung: Die Forschenden nötigen die widerstreitenden Clans zur Kooperation, indem sie ihnen Aufgaben antragen, die gemeinsam zu bewältigen sind: ein verstopftes Wasserrohr freibekommen, den Imbisswagen den Hügel heraufziehen, genug Geld für eine Filmvorführung zusammenkratzen. Sachte werden die gegenseitigen Beleidigungen seltener, man geht den anderen nicht mehr aus dem Weg, und am Schluss legen die Sieger ihr Preisgeld in Getränken für alle an.

2007 John Dovidio u.a.: Marginalisierten Minderheiten fällt die Identifikation mit der Großgruppe schwerer

1971 Philip Zimbardo macht Versuchspersonen zu Wärtern und Gefangenen

1954 Muzafer Sherif streut Zwietracht im Ferienlager

1934 Edward Thorndike: Menschen passen ihre Einstellung der Gruppe an

1895 Gustave Le Bon: Als Teil einer Masse verlieren Menschen ihre Vernunft

Artikel zum Thema
Leben
Im Interview erläutert der britische Experimentalpsychologe Charles Spence, wie Farben, Formen, Gerüche und Klänge den Geschmack eines Gerichts verändern.
Gesellschaft
Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten Psychologen nach Erklärungen für den Holocaust. Haben ihre weltberühmten Experimente heute noch Gültigkeit?
Familiäre Konflikte müssen um jeden Preis „aufgearbeitet“ werden? Das führt häufig in eine Sackgasse, sagt Wolfgang Schmidbauer in seinem Buch.
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2024: Meine Grenzen und ich
Anzeige
Psychologie Heute Compact 78: Was gegen Angst hilft