Einfach nur da sein. Einatmen, ausatmen und sehen, hören, fühlen: die Grün- und Brauntöne des Waldes, den Gesang des eifrigen Zaunkönigs, das schmeichelnde Moos unter den Füßen. Nur da zu sein sollte eigentlich ganz einfach sein. Bei seinen Wandergruppen sieht Jochen Ebenhoch jedoch oft, dass das einfache Dasein vielen schwerfällt.
Die Teilnehmenden klagen darüber, dass ihre Gedanken durch den Forst springen wie ein Rudel Jungwild; sie sehen nur das weggeworfene Taschentuch zwischen dem zarten Grasgrün,…
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springen wie ein Rudel Jungwild; sie sehen nur das weggeworfene Taschentuch zwischen dem zarten Grasgrün, spüren die Ameise auf dem Arm anstelle des Windhauchs, hören das Rauschen der nahen Autobahn statt des Bachs – und ärgern sich. „Nicht bewerten, was ihr wahrnehmt“, erinnert Ebenhoch dann stets. Doch das Bedürfnis, alle Sinneswahrnehmungen sofort mit einem Etikett zu versehen, ist nun einmal in uns Menschen angelegt: Ist es gut oder gefährlich? Angenehm oder störend? Schön oder schlecht?
Mit der Hoffnung, bei sich selbst anzukommen
Wer zu einer Wanderung aufbricht, macht sich mitunter in der Hoffnung auf den Weg, in der Gegenwart und bei sich selbst anzukommen. Jochen Ebenhoch, 57, ist nicht nur ausgebildeter Wanderleiter, sondern auch Achtsamkeitstrainer. Bei seinen Seminaren namens „Achtsame Wege“ erzählt er zu Beginn stets das Gleichnis eines Zenmeisters, der nach dem Geheimnis des ewigen Glücks gefragt wird.
Die Antwort des Meisters: „Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Und wenn ich schlafe, dann schlafe ich.“ Auch das klingt einfach. Doch viele Menschen haben genau das verlernt. Beim Essen wird gelesen oder gestreamt, beim Gehen wird telefoniert und abends im Bett liegend die To-do-Liste für morgen aktualisiert. Achtsames Wandern will dem etwas entgegensetzen und Körper, Geist und Seele wenigstens für ein paar Stunden in der Gegenwart verankern.
Was Laufbandtraining nicht schafft
Die Kombination aus Gehen und Natur treibt nicht nur die Herzfrequenz nach oben, sondern setzt auch in der Psyche etwas in Bewegung. Denn anders als viele Sportarten verlangt das hochautomatisierte Gehen im Allgemeinen wenig Aufmerksamkeit und lässt Geist und Seele dadurch Freiraum. Daniel Schwartz und Marily Oppezzo von der Stanford University zeigten in vier Einzelexperimenten, dass Gehen die kreative Leistung signifikant steigert. Marc Berman, Umweltpsychologe an der University of Chicago, konnte belegen, dass Wanderungen in der Natur nicht nur die kognitiven Funktionen verbessern, sondern auch zur Stimmungsaufhellung beitragen – ein Effekt, der besonders stark bei Menschen mit schweren Depressionen zum Tragen kam.
Also raus aus dem gedanklichen Hamsterrad, rein in den Wald: Wie gut das tut, zeigt auch eine durch den Österreichischen Alpenverein initiierte Studie der Universitäten Salzburg und Innsbruck: Bereits eine dreistündige Wanderung steigerte die Stimmung und innere Gelassenheit der Probandinnen und Probanden, während negative Gefühle wie Angst und Energielosigkeit abnahmen. Ein vergleichbar intensives Training auf dem Laufband belegte solche Effekte nicht.
Stresssymptome schwinden
Um zu erfahren, wie sich die Idee von Entspannung beim Wandern auswirkt, haben Psychologieprofessor Sven Sohr und Gesundheitscoach Toni Abbattista an der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport die Studie „Stressreduktion durch Bergwandern“ durchgeführt. Nach vier über ein Jahr verteilten Wandertouren in Kombination mit Achtsamkeitsübungen sanken bei den Probanden typische Stresssymptome wie Rückenbeschwerden, Bluthochdruck, Reizbarkeit, Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit und Zukunftsängste.
Die Teilnehmenden entwickelten außerdem ein höheres Gefühl von Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen, was ihnen oftmals Kraft schenkte für größere Entscheidungen. „Etwa die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer hat so ihren Lebensstil dauerhaft zum Besseren verändert“, resümiert Abbattista. Was ihn besonders freut: Auch die Werte für empfundene Dankbarkeit stiegen bei den Probandinnen im Laufe der Studie signifikant.
Einzelcoaching in den Bergen
Basierend auf diesen Ergebnissen bietet Abbattista inzwischen Einzelcoaching in den Bergen an: mit Fokus auf der Förderung von Resilienz, Lebenszufriedenheit, Motivation und Leistungsfähigkeit. Einen Tag lang verbringt er mit seinen Klientinnen und Klienten im Wald und im Gebirge, um Abstand zu gewinnen und so Veränderungsprozesse in Bewegung zu setzen.
Für den Deutschen Alpenverein ist Abbattista nicht nur als Ausbilder für die Trainerschulung „Bergwandern in der Prävention“ zuständig, sondern hat zudem das standardisierte Programm „Entspannung und Stressreduktion durch Bergwandern/Wandern“ entwickelt. Das 12-Wochen-Programm beinhaltet vier Tagestouren über rund zehn Stunden und acht Unterrichtseinheiten zu je 90 Minuten, die sich mit der Reduzierung von Stresssymptomen, Möglichkeiten der Entspannung und der Stärkung physischer wie psychischer Ressourcen beschäftigen.
Am Ende des Programms, so Abbattista, sollen die Teilnehmenden in der Lage sei, einen gesundheitsfördernden und naturverbundenen Lebensstil zu entwickeln, im Alltag zu verankern und so die gefühlte Stressbelastung nachhaltig zu reduzieren. Das Programm wurde bereits vom Deutschen Olympischen Sportbund zertifiziert; Abbattista hofft nun, dass es bald auch von gesetzlichen Krankenkassen in den Katalog der finanziell unterstützten Präventionsmaßnahmen aufgenommen wird.
Eine achtsame Bilanz ziehen
Abbattista hat – wie Jochen Ebenhoch auch – die Erfahrung gemacht, dass sich besonders Menschen jenseits des 40. Geburtstags für das Thema Achtsamkeit beim Wandern interessieren. Abbattista begründet dies auch damit, dass das Bedürfnis nach Ruhe jenseits der Alltagshektik mit den Lebensjahren zunimmt.
„Das mittlere Lebensalter ist eine Phase voller Wendepunkte“, ergänzt Ebenhoch. „Wir suchen nach Antworten auf viele offene Fragen: Passt der Beruf noch zu mir? Welche Kraft hat meine Beziehung noch? Was ist, wenn die Kinder ausziehen?“ Im Alltagsstress gefangen, sei es schwer, hierauf Antworten zu finden. „Das achtsame Wandern bietet die Chance, wenigstens für ein paar Stunden aus dem Hamsterrad auszusteigen und auf neuen Wegen neue Perspektiven zu suchen.“
Bei Bergwanderungen ist dieser Blickwechsel bereits eingepreist: Immer wieder bieten sich Möglichkeiten, aus der Vogelperspektive auf die Dinge zu schauen. Wie viel weiter können wir blicken, während anderes ganz klein erscheint? „Was möchtet ihr nicht mit auf den Berg schleppen, sondern lieber hierlassen oder gar ins Tal werfen?“, fragt die österreichische Resilienz- und Meditationstrainerin Elisabeth Klöbl stets auf der ersten Anhöhe die Menschen, die sich ihren Wanderungen anschließen, die sie in St. Johann in Tirol wöchentlich anbietet.
Mit dem Motto „Balance am Berg“ lockt sie auch solche Menschen auf den Wanderpfad, die sich dies kräftemäßig eigentlich nicht zutrauen. „Viele sind erleichtert, dass es bei mir nicht um Tempo oder Höhenmeter geht, sondern dass der Weg unser Ziel ist“, erzählt Klöbl. In der Regel fühlen sich mehr Frauen als Männer von dieser Grundidee angezogen, bei der man sich Zeit nimmt, die Natur mit allen Sinnen aufzunehmen, da Männer Wandern eher als Leistungssport sehen. Ebenhoch hat die Erfahrung gemacht, dass es hier auf die Wortwahl beim Kursangebot ankommt: Von Formulierungen wie „Suche nach Ruhe“ und „Reise zu sich selbst“ fühlen sich mehr Frauen angesprochen. Ist hingegen von einer „Rückkehr zur Kraft“ die Rede, steigt der Männeranteil.
Keine Gipfelstürmer
Speziell Menschen mit Tinnitus, also stressbedingten chronischen Ohrgeräuschen, nimmt Jochen Ebenhoch gerne mit in die Natur. In der Stille des Waldes oder in den Bergen geht es dann darum, nicht nur mit Achtsamkeitsübungen neue Wege zur Entspannung und Stressreduktion zu erfahren, sondern sich mit dem bleibenden Pfeifen oder Klingeln im Kopf womöglich sogar zu arrangieren und es als Impuls für eine Lebensveränderung zu verstehen: Bin ich noch auf einem guten Pfad unterwegs? Oder rase ich in eine falsche Richtung?
Die Langsamkeit genießen, anstatt durchs Leben zu eilen: Wer achtsam wandert, nimmt vom Wegesrand mehr mit als Gipfelstürmer. Das lässt Abbattista seine Kursteilnehmer gerne ausprobieren mit einer Übung namens Tempowechsel: Eine festgelegte Strecke wird dabei zunächst schnell und dann noch einmal in gemächlichem Tempo gegangen. Die versteckten Walderdbeeren am Boden, die raue Rinde der Fichte, die Weinbergschnecke auf dem Stein – all das wird erst sichtbar, wenn die Geschwindigkeit zurückgeschraubt wird.
Sieben Säulen der Resilienz
Der Sicherheit dient das allemal: „Je schwieriger das Gelände, desto langsamer und bewusster müssen unsere Schritte sein“, betont Elisabeth Klöbl, während sie die letzten steilen Meter emporsteigt zum Gipfelkreuz der Huberhöhe oberhalb von St. Johann. Eine Weisheit, die sich auch in den Alltag übertragen lässt. Wie überhaupt vieles, was man beim Wandern lernen kann. Optimismus, Akzeptanz, Lösungsorientiertheit, Selbstverantwortung und Selbstfürsorge, eine gute Netzwerkpflege und eine positive Fokussierung auf die Zukunft statt auf die Vergangenheit: Diese sogenannten „sieben Säulen der Resilienz“ lassen sich gut beim Wandern erleben und trainieren, findet Klöbl.
Denn um übern Berg zu kommen, muss man Naturgegebenheit akzeptieren und Lösungswege für immer neue Herausforderungen durch Weg, Wind und Wetter finden; es gilt, nicht nur auf sich, sondern auch auf die Angehörigen seiner Seilschaft zu achten – und stets auf ein gutes Ende des Tages zu hoffen. „Mit diesem seelischen Rüstzeug im Rucksack sind wir auch im Alltag gesünder und sicherer unterwegs“, sagt Klöbl: Jeder Dritte der Befragten gab an, nicht nur während, sondern auch nach einer Wanderung zuversichtlicher gestimmt zu sein; von mehr Selbstvertrauen berichteten 27 Prozent.
Für einen Perspektivwechsel muss man aber nicht zwingend in die Berge. Jochen Ebenhoch führt dazu auch einfach hinein ins Unterholz im nahegelegenen Wald. Das erleichtert zudem die Präsenz im Hier und Jetzt: Wer sich seinen Weg suchen muss, kann gedanklich nur schwer abschweifen ins Morgen oder Gestern. Was auch hilft: Schuhe und Socken auszuziehen und den federnden Waldboden unter den Füßen zu spüren oder das kalte Wasser eines Bachs. Und sich die Zeit zu nehmen für eine Pause – nicht nur um zu essen oder zu trinken, sondern auch um im Sitzen inmitten der Natur zu lauschen, zu sehen, zu spüren.
Eine schnell verfügbare Medizin
An diesem Punkt überlappen sich das achtsame Wandern und das Waldbaden (shinrin-yoku), eine aus Japan bekannte und inzwischen vielfach belegte Methode zur Krankheitsvorbeugung sowie Stressprävention und -therapie. Eine Studie der Ökologin MaryCarol R. Hunter von der University of Michigan etwa zeigte, dass schon 20 bis 30 Minuten tägliche Bewegung im Wald das Level des Stresshormons Kortisol im Blut signifikant senkt, weshalb die Forscherin bereits von der „Naturpille“ spricht.
Das Eintauchen in die Natur lädt aber auch zum Abtauchen in die eigene Seele ein: Wie geht es mir gerade? Was empfinde ich? Die Grundregel der Achtsamkeit gilt auch hier: wahrnehmen, ohne zu bewerten. Die größten Fragen adressieren schließlich das Bauchgefühl: Was ist wesentlich in meinem Leben? Wo ist mein Weg und wohin führt er mich?
„Achtsames Wandern erweitert die Wahrnehmungsfähigkeit auf mehreren Ebenen und hilft uns, unsere Intuition für Entscheidungen zu nutzen“, erklärt Ebenhoch. Die Natur sei hierfür ein wertvoller Resonanzkörper: „Sie macht etwas mit uns.“ Ein Gedanke, den auch Toni Abbattista unterstreicht: „Wir Menschen leben erst seit wenigen Generationen vorwiegend in Städten“, in unseren Genen aber sei die Sehnsucht nach Wald, Wasser und den Bergen weiterhin verankert. „Die Natur“, formuliert Abbattista, „ist eine schnell verfügbare Medizin, die eigentlich immer wirkt.“
Quellen
Kathryn E. Schertz u.a.: Understanding nature and its cognitive benefits. Current Directions in Psychological Science, 28/5, 2019, 496–502
Marc G. Berman u.a.: Interacting with nature improves cognition and affect for individuals with depression. Journal of Affective Disorders, 140/3, 2012, 300–305
MaryCarol R. Hunter u.a.: Urban nature experiences reduce stress in the context of daily life based on salivary biomarkers. Frontiers in Psychology, 10/2019